Nach dem Brexit fällt in London der EU-Deckel für Banker-Boni: Die Labour-Regierung will auf dem Finanzplatz die Risikobereitschaft befeuern und dadurch die Wirtschaft ankurbeln. Kann die Strategie aufgehen?
Während des «Dry January» hatten in britischen Pubs Mocktails und nichtalkoholische Biere Hochkonjunktur. Im Finanzdistrikt hingegen knallten die Champagnerkorken: Denn der Januar läutet in der City traditionell die Bonus-Saison ein, wobei die variablen Vergütungen in diesem Jahr besonders grosszügig ausfallen. «Insgesamt ist der Ton sehr positiv», bestätigt ein Kadermitarbeiter einer Grossbank, ohne in die Details gehen zu wollen.
Bonus ein Mehrfaches des Grundlohns
Die gute Stimmung ist eine Folge des Brexits: Im Zuge des EU-Austritts schuf die konservative Regierung von Rishi Sunak die in der EU geltende Deckelung der Boni ab. Und da auch die seit Juli 2024 amtierende Labour-Regierung von Keir Starmer diese Neuerung unterstützt, kommt sie in diesem Jahr erstmals voll zum Tragen.
Wegen des EU-Deckels durfte der variable Lohnanteil bisher höchstens das Doppelte des Grundlohns betragen. Nun aber haben Barclays oder JP Morgan für britische Mitarbeiter Boni eingeführt, die bis zum Zehnfachen des Basislohns reichen. Bei der Grossbank Goldman Sachs können die Boni am Standort London neu sogar 25-mal so hoch wie der Grundlohn sein.
Damit nicht genug: Der Regulator Prudential Regulation Authority (PRA) gab im Herbst grünes Licht für eine weitere Lockerung. Gemäss heutigen Regeln muss sich ein Banker, der einen Bonus von 500 000 Pfund erhält, bis 2028 gedulden, bis der erste Teil des Geldes auf seinem Konto landet. Danach erfolgt die Auszahlung über fünf Jahre gestaffelt in Tranchen von je 100 000 Pfund. Gemäss den neuen Regeln erhielte er einen Teil des Geldes sofort und wäre bereits 2029 im Besitz seines gesamten Bonus.
Die Lockerungen beziehen sich in erster Linie auf «wesentliche Risikoträger», deren Entscheidungen sich erheblich auf das Risikoprofil der Firma auswirken. Betroffen sind daher vor allem Investmentbanker von global tätigen Instituten statt Angestellte von britischen Retail-Banken. Doch könnte die Neuerung auf den ganzen Finanzplatz durchschlagen. Laut der «Financial Times» rechnen auch Juristen in grossen Anwaltskanzleien mit höheren Boni.
Lektionen von 2008 vergessen?
Die Regierung möchte den Finanzplatz London im globalen Konkurrenzkampf um die besten Köpfe stärken – und hofft dank mehr Risiko auf mehr Wachstum und mehr Steuereinnahmen. Im Herbst erklärte die Finanzministerin Rachel Reeves, die Regulierung der City sei nach der Finanzkrise von 2008 zu restriktiv geworden und führe zu risikoscheuem Verhalten.
Tatsächlich war die Einführung des EU-Bonus-Deckels eine Reaktion auf die Finanzkrise gewesen. Damals wurden die Boni jährlich ausbezahlt, was kurzfristige Hochrisiko-Investitionen wie etwa in zweitklassige Subprime-Hypotheken belohnte. Finanziell nachhaltiges Verhalten wurde hingegen nicht honoriert.
Charles Cotton vom auf Personalwesen spezialisierten Chartered Institute of Personnel and Development (CIPD) erklärte gegenüber dem «Daily Telegraph», es bestehe die Gefahr, dass man die Lektionen von 2008 vergesse und zu wenig Sicherungen einbaue. Sam Woods, der Direktor des Regulators PRA, betonte hingegen, es gelte unnötige Bürokratie abzubauen und «vernünftiges Risikoverhalten» zu begünstigen.
Börse kämpft mit Exodus
Mehr Mut zur Förderung von Wachstum fordert Reeves auch vom Regulator Financial Conduct Authority (FCA). Im Herbst rief sie die FCA in einem Brief dazu auf, den Markteintritt innovativer Firmen zu unterstützen. Nun stehen die Zeichen dafür gut, dass die Behörde den Börsengang des umstrittenen chinesischen Online-Modehändlers Shein zulässt.
Positive Nachrichten hätte der Finanzplatz London dringend nötig. 2024 verlegten 88 Firmen ihr Haupt-Listing vom London Stock Exchange an einen anderen Börsenplatz – das ist der grösste Abgang seit 2009. Die Marktkapitalisierung der Firmen, die London im letzten Jahr verliessen, betrug im Dezember rund 280 Milliarden Pfund (316 Milliarden Franken). Dies entsprach etwa 15 Prozent des Werts der hundert grössten börsenkotierten britischen Unternehmen (FTSE 100).
Mit ein Grund für den Exodus sind die Schwierigkeiten, in Grossbritannien genügend Investoren zu finden. Die Regierung will nun unter anderem dank einer Lockerung der Investitionsregeln für Pensionskassen mehr Kapital mobilisieren.
Doch ob höhere Boni und mehr Risiko bei der Regulierung eine Trendwende herbeiführen, muss sich weisen. Denn die Schwierigkeiten der Londoner Börse widerspiegeln grundlegendere Probleme. Die Unternehmensinvestitionen haben sich seit 2016 nie ganz vom Dämpfer der Brexit-Abstimmung erholt. Und während die amerikanische Wirtschaft wächst, verharrt Grossbritannien in der Stagnation.
Widersprüchliche Signale
Die Finanzministerin Reeves hat in den letzten Monaten widersprüchliche Signale ausgesandt. Im Herbst erhöhte sie die Lohnabgaben für Arbeitgeber und kündigte die Stärkung von Arbeitnehmerrechten an, was das Vertrauen vieler Firmen beschädigte. Ende Januar machte Reeves nun aber in einer Rede deutlich, dass sie das Wachstum um jeden Preis ankurbeln will.
Trotz klimapolitischen Vorbehalten gab sie grünes Licht für die umstrittene dritte Start- und Landebahn für den Londoner Flughafen Heathrow. Gleichzeitig will sie die Einspracherechte für Anwohner und Umweltverbände beschneiden, die Grossprojekte in der Vergangenheit stark verteuerten oder ganz verhinderten.
In ihrer Wachstumsstrategie hält die Regierung nicht nur für Banker, sondern auch für normalsterbliche Briten ein Zückerchen bereit. Während die Abgaben auf Weine steigen, hat Reeves pünktlich zum Ende des «Dry January» eine Senkung der Steuern für Bier im Offenausschank in Kraft gesetzt: Seit dem 1. Februar ist das Pint in britischen Pubs um einen Penny billiger.