Kevin Jairaj / USA Today Sports
Der Influencer Jake Paul vermöbelt die Boxlegende Mike Tyson. Um Sport geht es beim Spektakel höchstens noch nebenbei.
120 Millionen. So viele Zuschauer verfolgten auf Netflix in der Nacht auf Samstag den Megafight zwischen Mike Tyson und Jake Paul. Das Spektakel legte die Seite lahm, im mit 72 300 Zuschauern gefüllten Stadion in Arlington, Texas kam es zu diversen technischen Pannen.
All diese Menschen schauten sich einen Boxkampf zwischen einem alten Schwergewichts-Champion und einem Influencer mit 27 Millionen Instagram-Followern an. Jake Paul alias «The Problem Child» gewann einstimmig nach Punkten. Tyson, 58, versuchte das Duell früh zu entscheiden und landete zu Beginn einige Treffer. Doch bald wirkte er müde, seine Bewegungen unkoordiniert. Ab der dritten Runde dominierte der 31 Jahre jüngere Paul. Nach dem Kampf lagen sich die Gegner einmütig in den Armen.
Kann man das überhaupt ernst nehmen? Sportlich jedenfalls nicht.
Doch der Anlass faszinierte aus einem anderen Grund. Tyson gegen Paul – das war der Clash zwischen der alten und der neuen Box-Welt. Der Archetyp des überkommenen gegen das Idol des aktuellen Geschäftsmodells. Und der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich in den letzten Jahren akzentuiert hat: Das klassische Profiboxen verschwindet zusehends, pompös inszenierter Klamauk ersetzt ihn.
Jake Paul ist ein geschickter Unternehmer
Um als globales Geschäft zu funktionieren, benötigt der Boxsport heute mehr als zwielichtige Profis. Die kämpfen im Ring zwar heroisch, finden sich im normalen Leben aber oft schwer zurecht. Diesen aus der Zeit fallenden Typus verkörpert Mike Tyson. Er wuchs in New York in ärmlichen Verhältnissen auf, fand nach zahlreichen Delikten Halt im Boxen und avancierte 1986 mit 20 zum jüngsten Schwergewichts-Champion der Geschichte. Dank seinem aggressiven, agilen Kampfstil und 44 spektakulären Knock-outs wurde «Iron Mike» in den 1990er Jahren zur grössten Boxikone seit Muhammad Ali.
Zugleich produzierte kaum einer mehr Skandale: Wegen Vergewaltigung sass Tyson drei Jahre im Gefängnis, 1997 biss er Evander Holyfield im Ring ein Stück des rechten Ohrs ab. Er erhielt Berufsverbot, verfiel dem Alkohol und den Drogen, lebte mit Löwen und Tigern in einer Luxusvilla in Las Vegas. Tyson sagte einst, er habe in seinem Leben eine halbe Milliarde Dollar verprasst. Um seine Schulden zu begleichen, gab er immer wieder Comebacks. Die verliefen meist ernüchternd. Immerhin erhielt er damit seine Legende am Leben.
Jake Paul ist in vielem das Gegenteil von Mike Tyson. Als cleverer Unternehmer steht der 27-Jährige aus Cleveland, Ohio für einen Teil des gegenwärtigen Boxgeschäfts, in dem die sportliche Qualität sekundär ist – und Show-Kämpfe die Hauptsache sind.
Bevor er zu Tysons Herausforderer und Bezwinger wurde, war Paul ein Internetphänomen. Auf der Plattform Vine folgten ihm Millionen, lange bevor es Tiktok gab. Ab 2014 betrieb er mit seinem Bruder Logan Paul einen Youtube-Kanal, viele ihrer Blödel-Videos und Social-Media-Challenges gingen viral. Später war er ein erfolgreicher Schauspieler und Musiker auf dem Disney Channel.
Die Paul-Brüder eigneten sich stets Neues an – und alles funktionierte. So auch ihre Karriere als Influencer. Wie so viele in der Szene der sendungsbewussten Selbstvermarkter interessierten auch sie sich irgendwann für Kampfsport. Als sie 2018 in Manchester den Anlass «KSI vs. Logan Paul» organisierten, boxten die Brüder in den Hauptkämpfen gegen andere Youtube-Stars. Logan versucht sich mittlerweile als Wrestler, Jake blieb beim Boxen. Er produziert aufwendige Show-Events mit, in denen er berühmte ehemalige Sportler und Kämpfer der Mixed Martial Arts (MMA) herausfordert. Den Triumph gegen Tyson mitgerechnet, hat er nun elf dieser millionenfach gestreamten Promikämpfe gewonnen; die einzige Niederlage erlitt er im vergangenen Jahr gegen den Profiboxer Tommy Fury.
Dank geschickter Vermarktung und seiner Popularität auf Social Media hat Jake Paul das Promiboxen auf ein neues Niveau gehoben. Im TV-Zeitalter boxte der deutsche Entertainer Stefan Raab aus Spass drei Mal gegen die frühere Weltmeisterin Regina Halmich. Paul hingegen verdiente mit solchen Promikämpfen rund 80 Millionen Dollar – dank dem Internet.
Pauls riesige Reichweite in den sozialen Netzwerken überzeugte schliesslich auch Netflix vom Event mit Tyson. Der Fight hätte eigentlich bereits im Juli stattfinden sollen. Doch weil Tyson kurz zuvor einen Schwächeanfall erlitten hatte, wurde er verschoben. Das Spektakel hat sich für alle Involvierten gelohnt: Paul und sein Promoter Nakisa Bidarian verdienten bei der Vermarktung kräftig mit. Allein der Verkauf der 72 300 Tickets im NFL-Stadion der Dallas Cowboys soll rund 60 Millionen Dollar eingebracht haben. Und dank der Aufmerksamkeit, die ihm der Triumph gegen Tyson garantiert, ist Pauls Marke nun noch wertvoller.
Tyson wiederum soll mit kolportierten 20 Millionen Dollar zwar nur die Hälfte von Pauls Börse erhalten haben. Dafür war sein Risiko gering: Gegen den boxerisch höchstens mittelmässigen Gegner drohte ihm kein Gesichtsverlust. Zudem schützten ihn die vereinbarten Sonderregeln: Der Kampf dauerte acht statt zwölf Runden à jeweils zwei statt drei Minuten.
Netflix schliesslich testete mit der Übertragung des Kampfs sein Potenzial im Markt der Live-Sport-Events. Das Experiment dürfte sich ausbezahlt haben. Der Streaming-Anbieter mit 283 Millionen Abonnenten wusste, dass der Show-Kampf ein sehr breites Publikum anziehen würde – von den traditionellen Box-Fans, die Tyson noch einmal im Ring sehen wollten, bis zu den Jüngeren der Generation Z, die die Qualitäten des grossmäuligen Entertainers Paul schätzen. Dessen Promoter Bidarian hatte vor dem Fight «das meistgesehene Ereignis der modernen Boxgeschichte» vorausgesagt, Netflix zur Bewerbung eine dreiteilige Dokuserie produziert. So geht Live-Boxen heute.
Show-Kämpfe sind der neue Goldstandard
Der Niedergang des klassischen Profiboxens begann nach der Jahrtausendwende: Legenden wie Tyson fehlten, die unterschiedlichen Verbände lagen miteinander im Streit. So schafften es die Veranstalter immer seltener, die besten Boxer gegeneinander antreten zu lassen. Zeitgleich erlebte die Ultimate Fighting Championship (UFC), die grösste Organisation von MMA-Kämpfen, einen Boom.
Seit die Promotoren das kommerzielle Potenzial der MMA-Athleten erkannt haben, engagieren sie diese nun immer öfter für Schaukämpfe mit Boxern. Für einen solchen (und 300 Millionen Dollar) kehrte 2017 sogar der ungeschlagene Floyd Mayweather junior in den Ring zurück; den MMA-Star Connor McGregor bezwang er vorzeitig. Und im vergangenen Jahr besiegte der Schwergewichtler Tyson Fury den jüngsten MMA-Aufsteiger Francis Ngannou. Die pompös inszenierten Show-Events sind eine Mischung aus Faustkampf und Schauspiel. Mit dem Spektakel lassen sich im Internet mittels Pay-per-View Millionen verdienen.
Genau deshalb mischen seit einem Jahrzehnt nun auch die Influencer im Box-Business mit. Der britische Social-Media-Superstar KSI veranstaltet mit seinem Unternehmen «Misfits Boxing» sogenannte Crossover-Kämpfe, bei denen Youtuber, Wrestler und andere Möchtegern-Boxer gegeneinander antreten. Sportlich brillant sind diese Duelle kaum je. Aber darum geht es auch gar nicht. Die Kombination aus Battle, Kumpanei und Klamauk rechnet sich. Das hat nun auch Netflix gemerkt.
In keiner anderen Sportart kommt es heute so oft zu Schaukämpfen wie im Boxen. Das waren die skurrilsten Duelle im Ring:
Floyd Mayweather vs. Conor McGregor (2017)
Im August 2017 kommt es in Las Vegas zum Duell zwischen Floyd Mayweather, dem besten Boxer der vergangenen fünfzehn Jahre, und Connor McGregor, dem damals stärksten Fighter der Mixed Martial Arts. Der unbezwungene Mayweather ist eigentlich bereits zurückgetreten, kehrt für eine Börse von 300 Millionen Dollar aber nochmals in den Ring zurück. Mayweather nennt McGregor vor dem Fight einen «Zirkusclown», dieser beleidigt den Amerikaner rassistisch. Im Ring bezwingt Mayweather den grossspurigen Iren dann in der 10. Runde durch technischen K. o. Hat sich gelohnt!
Tyson Fury vs. Francis Ngannou (2023)
Francis Ngannou wächst in Kamerun in bitterer Armut auf. Als Jugendlicher arbeitet er für zwei Franken pro Tag in einer Sandmine, nach der Flucht nach Frankreich hilft ihm der Kampfsport aus der Obdachlosigkeit. Ab 2013 steigt er zu einem der erfolgreichsten Mixed-Martial-Arts-Athleten auf. Im Oktober 2023 fordert er in seinem ersten Profi-Boxkampf den damaligen Schwergewichts-Weltmeister Tyson Fury heraus. Der Schaukampf wird in Saudiarabien als «Battle oft the Baddest» vermarktet. Ngannou dominiert Fury und schickt den 125-Kilo-Koloss in der dritten Runde auf die Bretter. Später erklären die Ringrichter Fury trotzdem zum Sieger nach Punkten. The baddest!
Stefan Raab vs. Regina Halmich (2001, 2007, 2024)
Stefan Raab ist der erfolgreichste deutsche Entertainer der jüngeren Vergangenheit, von 1999 bis 2015 moderiert er seine eigene Late-Night-Show «TV total». 2001 duelliert er sich in einem Schaukampf mit der mehrfachen deutschen Boxweltmeisterin Regina Halmich. Sie vermöbelt Raab und bricht ihm dabei die Nase; 2007 gewinnt sie auch die Revanche. Als Raab in diesem Jahr sein Comeback als TV-Entertainer gibt, boxen die beiden im September zum dritten Mal gegeneinander. Der Comedian unterliegt in Düsseldorf erneut – ein schlechter Witz!
Mickey Rourke vs. Elliot Seymour (2014)
Von 1991 bis 1994 absolviert der Hollywood-Schauspieler Mickey Rourke acht Fights als Profiboxer. 2008 erhält der Amerikaner für seine Darstellung des Wrestlingveteranen Randy «The Ram» Robinson in Darren Aronofskys Film «The Wrestler» eine Oscar-Nominierung. 2014 lässt sich der damals 62-jährige Rourke in Moskau für einen Schaukampf einspannen. Mit dem 29-jährigen Amerikaner Elliot Seymour macht er kurzen Prozess. Der sagt hinterher, er sei dafür bezahlt worden, dass er in der zweiten Runde zu Boden ging – Rourke habe davon aber nichts gewusst. Gut gespielt!
Mike Tyson vs. Evander Holyfield (1997)
Es ist kein Schaukampf, aber das vielleicht skandalöseste Boxduell der Geschichte: Im Juni 1997 kämpft der 30-jährige frühere Weltmeister Mike Tyson in Las Vegas entnervt gegen den vier Jahre älteren Evander Holyfield, der ihn im Jahr zuvor bezwungen hat. Nach einem ungeahndeten Kopfstoss von Holyfield in der Runde zuvor verliert «Iron Mike» in der dritten Runde die Nerven: Er beisst seinem Kontrahenten ein Stück des rechten Ohrs ab. Holyfield schreit, zeigt mehrmals ungläubig auf seine blutende Wunde, der Kampf geht zunächst aber weiter. Die Zuschauer sind entsetzt, es kommt zu Ausschreitungen mit Verletzten. Der Ringrichter disqualifiziert Tyson nach dem Ende der dritten Runde – er erhält ein Berufsverbot und muss 3 Millionen Dollar Strafe zahlen. Was für ein Theater!
Muhammad Ali vs. Antonio Inoki (1976)
Boxikone gegen Wrestlingstar – so lautet das Duell im Juni 1976 in Tokio. Damals lässt sich Ali, der Champion im Schwergewicht, auf einen Schaukampf mit dem japanischen Ringer Antonio Inoki ein. Weltweit verfolgen über eine Milliarde Menschen den Kampf über fünfzehn Runden mit besonderen Regeln. Inoki versetzt Ali auf dem Rücken liegend Fusstritte und verletzt dessen Schienbein; dieser verpasst dem Japaner während der ganzen Kampfdauer gerade einmal sechs Faustschläge. Die Peinlichkeit endet unentschieden. Die Zuschauer sind über die Farce derart erzürnt, dass sie Abfall in den Ring werfen und schreien: «Okane no haibu!» – Geld zurück!