Hinter den Kulissen laufen im Bundeshaus Gespräche über eine Reform der Nationalratswahlen. Die Freisinnigen spielen eine Schlüsselrolle. Der Ärger der Wahlen 2023 wirkt nach.
Die Zuwanderung bremsen? Die AHV-Renten erhöhen? Dem EWR beitreten? Grosse politische Weichenstellungen erfolgen in der Schweiz in Volksabstimmungen, nicht in Parlamentswahlen. Gern nehmen sich die Stimmberechtigten auch die Freiheit heraus, in Abstimmungen andere Akzente zu setzen als bei den vorangehenden Wahlen. So folgte auf den Wahlsieg der SVP im Oktober die Niederlage im Kampf um die AHV letzten Sonntag.
Und doch darf die Bedeutung der Wahlen nicht unterschätzt werden. Einen Grossteil der Entscheide fällt das Parlament abschliessend. Und auch in den anderen Fällen kann das Volk nur Ja oder Nein sagen. Alle inhaltlichen Details legt das Parlament fest, es kann Vorlagen auch verzögern oder verhindern. Und selbst bei Volksinitiativen obliegt es am Ende National- und Ständerat, für die Umsetzung zu sorgen. Wie gross ihr Spielraum ist, hat sich jüngst in den Debatten um die Zuwanderung oder die Zweitwohnungen gezeigt.
Umso wichtiger ist die Frage, wie das Parlament zusammengesetzt wird, nach welchen Regeln die 246 Sitze im Bundeshaus genau vergeben werden. Das ist weniger banal, als es klingt, vor allem im Fall des 200-köpfigen Nationalrats. Er wird seit 1919 im Proporzverfahren gewählt, was die Zusammensetzung gegenüber den alten Majorz-Zeiten massiv veränderte – und was vor allem auch das definitive Ende der freisinnigen Dominanz bedeutete.
Wie in Zürich so im Bund?
Heute steht das Wahlsystem erneut zur Debatte, am Donnerstag ist das Thema im Ständerat kurz zur Sprache gekommen – und sinnigerweise spielt wieder die FDP eine Hauptrolle. Heute geht es nicht mehr um die Frage «Proporz oder Majorz?», sondern um die Frage «welcher Proporz?». Es gibt ganz verschiedene Methoden, die Sitze proportional nach Wähleranteilen auf die Parteien aufzuteilen. Das heutige System bevorzugt tendenziell grössere Parteien. 2023 haben SVP und SP mehr Sitze erhalten, als sie bei einer anteilsmässigen Aufteilung zugute hätten. Die SVP hat sechs Sitze «zu viel» erhalten, die SP vier.
Grosse Verlierer waren die Grünliberalen. Trotz einem Wähleranteil von 7,6 Prozent haben sie nur 5 Prozent der Sitze erhalten. Bei einer strikt proportionalen Verteilung hätten sie 15 statt 10 Sitze. Ist das fair?
Naheliegend, dass diese Frage von der GLP in regelmässigen Abständen neu aufgeworfen wird. Ihr Vorschlag: Der Bund soll für den Nationalrat den «Doppelproporz» einführen, der in mittlerweile neun Kantonen von Zürich bis Graubünden bei Parlamentswahlen zum Einsatz kommt. Er umfasst zwei Schritte: Zuerst würden die Stimmen aus allen Kantonen zusammengezählt, damit die 200 Sitze auf nationaler Ebene möglichst präzis proportional den Parteien zugeteilt werden könnten. Danach würde diese Sitzverteilung auf die einzelnen Kantone, die weiterhin als Wahlkreise fungieren würden, heruntergebrochen.
Listenverbindungen wären nicht mehr nötig
Dieser zweite Teil ist knifflig, hier kann es störende Unebenheiten zwischen den Kantonen geben: In einem Kanton geht ein rechnerisch knapper Sitz eventuell an Partei A, obwohl B etwas mehr Stimmen hat, dafür läuft es in einem anderen Kanton umgekehrt. Das kann unschön sein, nicht nur für die Karrieren einzelner Politiker, sondern auch für die Akzeptanz der Wahlresultate vor Ort.
Doch es gäbe auch Vorteile: Heute sind viele Stimmen in Kantonen mit wenigen Nationalratssitzen praktisch wertlos, weil sie niemals zu einem Sitzgewinn führen können. Neu hingegen könnten sie der Partei in einem anderen Kanton zu einem Sitz verhelfen.
Der Systemwechsel hätte noch eine andere Nebenwirkung, die viele als angenehm empfinden dürften: Man könnte die überparteilichen Listenverbindungen abschaffen, die heute die Transparenz erschweren, weil unklar ist, welcher Partei eine Stimme am Ende zugutekommt. Heute dienen sie als Korrektiv, das die Nachteile kleinerer Parteien mildern soll. Allerdings sind die Effekte schwierig berechenbar, oft sind es auch die grossen Parteien, die profitieren.
Mehrheit in Reichweite
Und immer wieder können Listenverbindungen in einzelnen Parteien hitzige Debatten auslösen. Die FDP hat letztes Jahr leidige Erfahrungen gemacht mit der Frage, ob sie ihre Listen mit der SVP verbinden soll oder nicht. Nun ist es der Parteipräsident Thierry Burkart himself, der mit einem Vorstoss die Abschaffung von Listenverbindungen verlangt bei gleichzeitiger Einführung eines neuen Zuteilungsverfahrens für die Nationalratswahlen. Burkart lehnt zwar den «Doppelproporz» auf Bundesebene ab, weil aus seiner Sicht die überkantonalen Korrekturen dem föderalen System widersprechen.
Aber es gibt noch andere Optionen. Die Diskussionen über mögliche Modelle laufen bereits, bis jetzt jedoch hinter verschlossenen Türen. Anfang Februar hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrats eine Anhörung mit Experten aus Mathematik, Politologie und Recht durchgeführt. Im April wird sie verschiedene Ansätze diskutieren. Danach will der Ständerat über Burkarts Vorstoss entscheiden.
Die Freisinnigen haben es in der Hand. Die GLP, die Grünen und die SP haben schon mehrfach für den «Doppelproporz» gestimmt, sind bis jetzt aber immer gegen die bürgerlichen Parteien unterlegen. Falls sie nun eine Lösung mit der FDP finden, ist eine Mehrheit für eine Wahlreform in Reichweite.