Vor fünf Jahren betrat Österreich nach dem Ibiza-Skandal verfassungsrechtliches Neuland. Bierleins Technokratenregierung sorgte wieder für Ruhe und war deshalb so beliebt, dass einige die Politik gerne dauerhaft entmachtet hätten.
Brigitte Bierlein war es zeit ihres Lebens gewohnt, gläserne Decken zu durchbrechen. Eine Pionierin nannte sie Österreichs Staatspräsident Alexander Van der Bellen bereits Anfang 2018, als er sie als erste Frau zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs machte. Bierlein sah dies nicht als logische Krönung einer glänzenden juristischen Laufbahn, sondern ganz nüchtern. Irgendwann musste es ja eine Frau werden, sagte sie zu ihren Karriereschritten.
Der grösste erfolgte indes vor fünf Jahren, als wiederum Van der Bellen Bierlein als erste Bundeskanzlerin vereidigte. «Wer wäre besser geeignet?», fragte er damals rhetorisch – und niemand widersprach, obwohl seine Wahl, sie zur Chefin einer Übergangsregierung zu machen, durchaus überrascht hatte. Es waren innenpolitisch fiebrige Tage, nachdem das publik gewordene Video des damaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache aus einer Finca in Ibiza zuerst diesen zu Fall gebracht und dann auch zum Sturz des Bundeskanzlers Sebastian Kurz geführt hatte.
Gefühlt taumelte Österreich am Rand einer Staatskrise
Gefühlt taumelte die Republik am Rand einer Staatskrise – erstmals überhaupt in ihrer Geschichte hatte ein Misstrauensvotum Erfolg, erstmals wurde eine Minderheitsregierung eingesetzt, daraufhin erstmals eine Technokratenregierung. Kurzzeitig herrschten an der Donau italienische Verhältnisse. Van der Bellen bewahrte Ruhe und pries die Verfassung als «Landkarte», die den Weg aus dem Chaos weise. Die oberste Hüterin dieser Verfassung zur Regierungschefin zu machen, sei da nur konsequent, so das Staatsoberhaupt.
Bierleins Auftrag war eng umrissen: Sie sollte eine vorwiegend aus hohen Beamten zusammengesetzte Übergangsregierung für die Monate bis nach den vorgezogenen Neuwahlen anführen. Man wolle verwalten und nicht gestalten, sagte die Kanzlerin selber. Dafür war sie hervorragend geeignet. Sie galt als nüchtern, hoch kompetent, resolut, aber kompromissfähig. Und so regierte Bierlein weitgehend geräuschlos, mit Zurückhaltung und für Österreich ungewohnter Sachlichkeit. Sie begeisterte damit die Bevölkerung. Die Popularität des Beamtenkabinetts war aussergewöhnlich hoch, und im Land fragten sich manche, ob man die Politiker nicht dauerhaft entmachten könne.
Nach 218 Tagen im Kanzleramt war Bierleins Amtszeit jedoch beendet, Kurz kehrte nach einem fulminanten Wahlsieg zurück an die Macht. Die erste Kanzlerin hatte ihre Aufgabe erfüllt und tatsächlich wieder Ruhe in die Innenpolitik gebracht. Sie zog sich im Alter von 70 Jahren ins Privatleben zurück.
«Für viele Mädchen und Frauen auch in Zukunft ein Vorbild»
Auch für die Sache der Frauen habe sie Van der Bellens Angebot annehmen müssen, sagte Bierlein im Nachhinein zu ihrer Entscheidung, ohne politische Erfahrung die Regierungsführung zu übernehmen. «Stets die Erste» lautete einmal der Titel eines Porträts in der «Presse». Nach einem Studium in Mindestzeit spezialisierte sie sich aufs Strafrecht, wurde erste Generalanwältin an Österreichs oberster Staatsanwaltschaft und erste Präsidentin der Vereinigung der Staatsanwälte.
Bierlein war eine Verfechterin von Law and Order und wurde politisch dem rechtskonservativen Lager zugerechnet – die Ernennungen ans Verfassungsgericht und danach an dessen Spitze erfolgten unter ÖVP-Kanzlern. Sie erwies sich aber als unabhängiger Geist und kritisierte einige der prestigeträchtigen Vorschläge dieser Regierungen.
Am Montag ist Brigitte Bierlein nach kurzer Krankheit in Wien gestorben – auf den Tag genau fünf Jahre nach ihrer Vereidigung zur Kanzlerin. «Sie wird für viele Mädchen und Frauen, für uns alle, auch in Zukunft als Vorbild dienen», schrieb Van der Bellen. Bundeskanzler Karl Nehammer erklärte in einer Würdigung, Bierlein habe in einer schwierigen Zeit Verantwortung übernommen. Über die Parteigrenzen hinweg reagierte die Politik mit Betroffenheit.