Nayib Bukele hat mit El Salvador eines der gewalttätigsten zu einem der sichersten Länder Lateinamerikas gemacht. Die Bevölkerung steht verständlicherweise hinter ihm, freut sich aber zu früh.
Nayib Bukele möchte als der ultimative Gangsterjäger in die Geschichte eingehen. Dies machte er klar, als er im vergangenen Jahr ein Video aus einem neuen Gefängniskomplex in El Salvador veröffentlichte. Die Aufnahmen zeigen Tausende von Häftlingen, die in Reih und Glied zusammengepfercht am Boden sitzen: halbnackt, mit kahlgeschorenen Köpfen, an Händen und Füssen gefesselt. Der Staatspräsident Bukele versprach triumphierend: Nie mehr würden sie das Gefängnis verlassen. Es war eine Machtdemonstration – den Gangstern, aber auch seinem Volk gegenüber.
Lateinamerika schreit nach ihm
Über drei Dekaden hatten kriminelle Banden El Salvador in Geiselhaft gehalten. Sie töteten, vergewaltigten und erpressten wahllos Zivilisten. Zeitweise waren sie in dem kleinen zentralamerikanischen Land für eine der höchsten Mordraten der Welt verantwortlich.
Dann griff Bukele durch.
Das war vor zwei Jahren. Er verhängte den Ausnahmezustand, setzte Grundrechte aus und blies zur Jagd auf Kriminelle. Rund 75 000 mutmassliche Gangster liess er seither festnehmen. Auch Unschuldige traf es, wie er einst einräumte. Anteilsmässig zählt sein Land heute die meisten Inhaftierten der Welt.
Bukele hat mit El Salvador so eines der gewalttätigsten Länder der Region zu einem der sichersten gemacht: Die Mordrate ging seit seinem Amtsantritt 2019 um mehr als 90 Prozent zurück, von 38 auf 2,4 Tötungen pro 100 000 Einwohner. Die Schutzgelderpressungen nahmen ebenso stark ab wie die Kriminalität im Allgemeinen.
Damit hat der Präsident die Bevölkerung hinter sich vereint. Erstmals seit Dekaden können die Bürger wieder uneingeschränkt ihre Häuser verlassen, Freunde und Verwandte in anderen Quartieren besuchen, sorglos zur Kirche oder zur Arbeit gehen. Öffentliche Plätze sind belebt, Kinder spielen auf der Strasse, Imbissstände schossen aus dem Boden, das Kleingewerbe blüht auf. Es sind Alltagsszenen, wie sie vor kurzem noch undenkbar waren: Banden kontrollierten selbst die Ein- und Ausgänge von Stadtvierteln.
Neidisch schielen von alltäglicher Gewalt versehrte Länder der Region auf den kleinen zentralamerikanischen Nachbarn. Auch sie wünschen sich einen Bukele. Laut mehreren Meinungsumfragen ist er mit Abstand der populärste Regierungschef Lateinamerikas. In den meisten Ländern ist er sogar beliebter als der Papst, dies besagt eine Umfrage von Latinóbarometro.
«Das Wunder Nayib Bukele», titelte das kolumbianische Magazin «Semana» im vergangenen Jahr. Der verherrlichende Tenor ist vielsagend: Wer das in der Region bis anhin scheinbar unlösbare Sicherheitsproblem lösen kann, dem werden übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben. In den Augen vieler Lateinamerikaner ist Bukele ein Retter, der sein Volk von einem Krebs heilte, unter welchem viele von ihnen ebenfalls ächzen.
Als gewalttätigste Region der Welt verzeichnet Lateinamerika laut den Vereinten Nationen die höchste Mordrate per capita. Der Wunsch nach mehr Sicherheit gehört zu den wichtigsten Anliegen der Menschen. Dass daraus politisches Kapital geschlagen werden kann, hat Bukele den Politikern in der Region klargemacht. Überall lassen sich nun Nachahmer finden.
Jüngstes Beispiel ist der frisch gewählte Präsident Ecuadors, dessen Land von einer akuten Gewaltwelle überrollt wird. Er nennt Bukele sein Vorbild, kopiert Massnahmen und veröffentlicht ähnliche Bilder aus einem Gefängnis in Guayaquil wie einst sein Idol: eine Masse von Häftlingen, die eng aneinandergereiht gefesselt auf dem Boden liegen. Für Haiti arbeitet ein Team aus El Salvador einen Plan gegen die Bandenkriminalität aus. In Costa Rica und Jamaica orientieren sich die Regierungen ebenfalls an der Nulltoleranzpolitik El Salvadors. Die Bewunderung geht über ideologische Gräben hinaus, auch das links regierte Honduras ahmt den radikalen Kurs nach.
Vorwürfe grober Menschenrechtsverletzungen
Lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen sowie die Uno sind entsetzt über diese Entwicklung. Sie warnen davor, das Modell zu übernehmen, und kritisieren Bukele zu Recht, Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Sie werfen ihm willkürliche Festnahmen, unmenschliche Haftbedingungen, unfaire Gerichtsverfahren sowie Folter vor. Auch von Todesfällen in Haft wird berichtet.
Bukele entkräftet die Anschuldigungen nicht. Er zelebriert seinen Kurs. Denn er weiss: Die harten Haftbedingungen und die öffentliche Demütigung von Kriminellen, die jahrzehntelang Land und Leute drangsalierten, werden in weiten Teilen der Bevölkerung mit Genugtuung wahrgenommen.
Die Mehrheit der Salvadorianerinnen und Salvadorianer hat wenig übrig für die Kritik an seinem Vorgehen – erst recht, wenn sie von Leuten kommt, die den Bandenterror nur über Erzählungen kennen. Der Aufschrei über Menschenrechtsverletzungen an Gangstern, die sich selbst nie um die Rechte anderer scherten, wird mit einem Schulterzucken quittiert. Das Wegsperren mitunter Unschuldiger wird als Kollateralschaden für ein Leben in Frieden und Freiheit abgetan. Viele stimmen Bukele zu, wenn er seinen Kurs mit dem Argument rechtfertigt, dass eine Minderheit der Gesellschaft zu lange die Freiheit der Mehrheit beschnitten habe.
Die Salvadorianer empören sich auch kaum darüber, dass Bukele, unter dem Vorwand, das Land von der Bandengewalt zu befreien, die demokratischen Institutionen ausgehöhlt und die Gewaltenteilung abgeschafft hat. Viele nehmen ihn nicht als den Autokraten wahr, der er ist. Sie sehen in ihm den starken Mann, der sie vor brutalen Banden beschützt. Die Abschaffung der Demokratie nehmen sie dafür in Kauf.
Die Demokratie verliert in der Region zunehmend an Wert. In den Augen von immer mehr Menschen ist sie nichts anderes als ein abstraktes Konstrukt, das sich ihrer dringendsten Anliegen nicht anzunehmen vermag. Laut dem Institut Latinóbarometro würden 54 Prozent der befragten Lateinamerikaner eine undemokratische Regierung akzeptieren, wenn sie Probleme löste. Mehr als ein Drittel würde dafür eine Militärregierung gutheissen. Die Haltung ist nachvollziehbar. Sie ist aber auch kurzsichtig und riskant.
Denn Bukele hat den Gang-Terror sukzessive durch Staatsterror ersetzt. Seit seinem Amtsantritt hat er sämtliche Weichen gestellt, um sich dauerhaft an der Macht zu installieren. Dass er sich zur Wiederwahl stellte, ist ein Verfassungsbruch. Am Sonntag erklärte er sich zum Sieger, noch bevor offizielle Wahlergebnisse vorlagen. Am Montag hiess es schliesslich, Bukele liege nach Auszählung von 70 Prozent der Stimmen mit 83 Prozent in Führung. Wegen technischer Probleme müssten die restlichen 30 Prozent neu ausgezählt werden, erklärte die Präsidentin des Obersten Wahlgerichts.
Auch wenn dieses Prozedere bis zum Himmel stinkt: Der Mann ist beliebt. Mit Sicherheit hat sich eine klare Mehrheit des Volkes hinter ihn gestellt – und ihm damit willentlich die Tür für weiteren Machtmissbrauch geöffnet. Vieles deutet darauf hin, dass er seine Herrschaft ausbauen und den Ausnahmezustand zum Dauerzustand machen könnte. Schliesslich basiert sein erfolgreicher Kampf gegen die Kriminalität darauf, mit dem Gesetz zu brechen. Es gibt keinen Grund, weshalb er den Rückwärtsgang einlegen sollte.
Vor einem Herrscher, der die Grundrechte aussetzt, ist niemand sicher – auch jene nicht, die ihm einen Wahlsieg bescherten und sich nun in falscher Sicherheit wiegen. Es genügt, anderer Meinung zu sein, um in sein Visier zu geraten. Schon jetzt werden kritische Journalisten oder Oppositionelle verfolgt, ins Exil gezwungen oder ins Gefängnis gesteckt. Berauscht vom Frieden, scheinen dies seine Wähler genauso wenig wahrnehmen zu wollen wie seine Fans ausserhalb El Salvadors.
Nicht exportierbares Modell
Ohnehin ignorieren die (Möchtegern-)Nachahmer in der Region den Umstand, dass die rasche Befriedung El Salvadors auf spezifische nationale Bedingungen zurückzuführen und deshalb kaum auf andere Länder übertragbar ist. Zunächst ist El Salvador mit 6,3 Millionen Einwohnern im regionalen Vergleich ein kleines Land. Es ist einfacher unter Kontrolle zu bringen. Die demokratischen Institutionen waren bereits vor Bukele geschwächt und diskreditiert. Dies machte es für autokratische Tendenzen anfällig.
Die kriminelle Landschaft El Salvadors wird von drei Strassenbanden dominiert, die sich vorwiegend im urbanen Raum über Schutzgelderpressungen finanzieren und relativ arm sind. Anders als die mächtigen Drogenkartelle, die etwa in Ecuador, Mexiko oder Honduras agieren, sind die Gangs nicht in der Lage, Politiker oder Sicherheitskräfte im grossen Stil zu korrumpieren oder militarisierte Aktionen zu organisieren. Hinzu kommt, dass die Regierung eine präzise Datenbank besitzt, anhand welcher sie weiss, wie die Banden funktionieren, wo sie agieren und wer ihre Mitglieder und Helfer sind. Darauf basierend erfolgten die Masseninhaftierungen.
Solange an diesen festgehalten wird, werden die Banden kein baldiges Comeback feiern. Aus sicherheitspolitischer Sicht hat Bukeles Vorgehen einen beachtlichen, aber keinen nachhaltigen Erfolg erzielt. Seit je treiben Armut, soziale Ungleichheit, schlechte Schulbildung und Arbeitslosigkeit Jugendliche in die Kriminalität. Bukele hat bisher davon abgesehen, die strukturellen Missstände anzugehen. Damit riskiert er den Import eines noch grösseren Problems: mächtiger transnationaler Drogenkartelle, die bis anhin einen grossen Bogen um El Salvador gemacht haben. Für sie sind perspektivlose Jugendliche die ideale Basis, um ihr Geschäft aufzubauen.