Ein Gespräch mit dem Bildungsökonomen über strenge Lehrer, die Bevorteilung von Mädchen und was die Noten über den späteren Bildungserfolg aussagen.
Herr Wolter, von Bildungsexperten und Schulleitern wird derzeit viel Kritik an den Schulnoten geübt. Sie seien nicht mehr zeitgemäss, heisst es. Sind Schulen ohne Noten besser?
Wenn drei Lehrer sagen, bei ihnen laufe der Unterricht ohne Schulnoten wunderbar, dann mag das für sie stimmen, doch als Evidenz, um damit ein System zu ändern, genügt das nicht. Wir haben praktisch keine Forschung darüber, ob Schulen mit oder ohne Noten besser funktionieren. Klar ist aus lernpsychologischer Sicht: Ohne Rückmeldung lernt ein Schüler nicht. Wenn man also die Noten abschafft, stellt sich die Frage, wie die Schüler sonst eine schnelle und klare Rückmeldung zu ihrer Leistung erhalten. Mit Smileys? Jüngst habe ich von einem Fall gehört, wo den Kindern ein Baum mit Ästen präsentiert wurde. War die Leistung nicht gut, wurden Äste vom Baum abgeschnitten. Das ist zwar keine Note mehr, doch inwiefern diese Art der Rückmeldung informativ und motivierend sein soll, ist mir ein Rätsel.
Noten seien scheingenau und würden den vielen Facetten eines Kindes nicht gerecht, lautet einer der Kritikpunkte.
Das ist nicht falsch. Noten haben aber den Vorteil, dass sie schnell eine Rückmeldung geben und nicht mehrdeutig sind – das sind zwei Grundvoraussetzungen, damit Feedback Lerneffekte auslöst. Eine Drei ist ungenügend, da gibt es nichts herumzudeuteln. Wird die Leistung dagegen in Worten beschrieben, dann gibt es immer Interpretationsspielraum. Je nach Schüler sieht der eine im Schulbericht nur die positiven Dinge und überliest die negativen oder umgekehrt.
Führender Bildungsforscher der Schweiz
Stefan Wolter
Der habilitierte Ökonom ist seit über zwanzig Jahren Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, die alle vier Jahre den Schweizer Bildungsbericht erstellt. Er leitet zudem die Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Wolter vertritt die Schweiz in verschiedenen Gremien der OECD und berät im wissenschaftlichen Beirat die deutsche Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin.
Was halten Sie von der Aussage, dass der Notendruck die Kinder demotiviere?
Man hat aufwendig dazu geforscht, wie sich die Notengebung auf die Leistung auswirkt. Das Ergebnis ist klar: Schüler, deren Lehrer streng benoten, lernen mehr und bringen bessere Leistungen als solche, bei denen die Lehrer milde benoten. Wenn der Lehrer allen Schülern gute oder genügende Noten gibt, dann wird weniger gelernt. Eine grossangelegte neue Studie zeigt, dass strenge Benotung nicht nur die guten Schüler motiviert, sich mehr anzustrengen, sondern auch die schwächeren. Als Grund sehen die Forscher den Effekt auf den Schulabsentismus: Schüler, die bei strengen Lehrern in die Klasse gehen, schwänzen weniger häufig die Schule. Wenn sie wissen, dass sie bei einem Lehrer nur auf eine passable Note kommen, wenn sie den Unterricht regelmässig besuchen, dann tun sie das.
Schüler lernen also nur unter Druck? Von allein geht da wenig?
Es gibt solche, die eher intrinsisch motiviert sind, und solche, die eher auf externe Erfolge wie Noten ansprechen. Das hängt auch vom Geschlecht und von der sozialen Herkunft ab. Mädchen und Schülerinnen und Schüler aus bildungsnahen Familien lernen tendenziell auch dann, wenn sie keine direkte Belohnung für ihre Leistung erhalten. Buben dagegen reagieren stärker auf extrinsische Motivation, ebenso Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund.
Der Verzicht auf Noten ginge also zur Hauptsache zulasten der Buben und der Migrantenkinder?
Genau, Buben und Migrantenkinder brauchen Noten mehr als die anderen. Generell gilt: Man motiviert einen Primarschüler nicht zum Lernen, indem man ihm sagt, er komme später ins Gymnasium oder verdiene als Erwachsener massenhaft Geld. Die neueste Forschung sagt, dass nur Anreize wirken, die sofortigen Nutzen versprechen. Das kann die Note sein, die er am Tag nach der Prüfung erhält. Schüler sind rational und können ihren Aufwand enorm variieren. Schon Achtjährige überlegen sich, ob eine Stunde Lernen mehr Nutzen stiftet als eine Stunde Fussballspielen.
Es gibt andere Modelle: Die Schüler werden von ihren Klassenkameraden beurteilt oder beurteilen sich selber. Was ist davon zu halten?
Ich halte den Nutzen für begrenzt, und teilweise kann es sogar kontraproduktiv sein. Die Selbstwahrnehmung ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während Mädchen dazu neigen, sich selbst zu unterschätzen, ist bei Buben das Gegenteil der Fall. Wenn es in der Schule bloss um Eigenbeurteilung ginge, würden viele Buben gar nichts lernen. Die Beurteilung durch die Klassenkameraden wird auch sozial gesteuert, da spielen andere Aspekte wie die Beliebtheit mit hinein und nicht bloss die Leistung.
Eine Note sei bloss eine Momentaufnahme, wichtig sei aber, das Potenzial eines Schülers zu bewerten, wird kritisiert.
Ja und nein. Natürlich ist es wichtig, das Potenzial zu berücksichtigen. Doch wenn ein Schüler Potenzial hat, aber keine Motivation und keinen Leistungswillen, dann kommt er nicht weit und sollte das mit einer schlechten Note auch gemeldet bekommen.
Beurteilen Lehrer ihre Schüler gerecht?
Viele Studien zeigen, dass Mädchen besser und Buben sowie Migrantenkinder häufig schlechter eingeschätzt werden, als sie effektiv sind. Das geschieht oft unbewusst.
Das heisst, dass Lehrer den Buben und den Migrantenkindern a priori schlechtere Noten geben?
In der Tendenz, ja. Laut Untersuchungen übersehen Lehrer bei den Schülern, die nach ihrer Auffassung gut sind, eher Fehler beim Korrigieren. Bei jenen Schülern, die sie als schlecht einschätzen, wird nachkorrigiert, wenn das erste Ergebnis den Erwartungen widerspricht. Das Problem ist hier aber nicht die Note an sich, sondern die verzerrte Beurteilung, die auch ohne Note weiterbestehen würde.
Was lässt sich dagegen unternehmen?
Es braucht standardisierte Leistungstests, nur dann sieht der Lehrer, ob die Einschätzung des Schülers gerechtfertigt ist oder systematisch Verzerrungen vorliegen. Solche Tests werden heute zwar in vielen Kantonen durchgeführt, doch es würde deutlich mehr davon brauchen.
Geben die Schulnoten hierzulande eine gute Prognose für den weiteren Bildungserfolg von Schülern?
Ja, die Note liefert eine gute Aussage darüber, ob eine Person erfolgreich sein wird oder nicht. Für den Bildungsbericht Schweiz 2023 konnten wir uns auf die Noten von zehn Schüler-Jahrgängen im Kanton Aargau abstützen. Dabei zeigte sich: Je höher die Maturanote, desto erfolgreicher sind die ehemaligen Maturanden im Studium.
Wie aussagekräftig sind die Pisa-Resultate?
Bei den Pisa-Tests werden die Schüler in der neunten Klasse getestet, also mit 15 Jahren. Wir haben zwei Kohorten auf ihrem Bildungsweg weiterverfolgt und festgestellt: Die Pisa-Leistung ist recht aussagekräftig für vieles, das nachher folgt. Ob jemand die Matura macht oder später das Studium abbricht: Das korreliert mit der Pisa-Punktzahl, die der Betreffende im Alter von 15 Jahren erreicht hat. Wie bei der Note handelt es sich auch bei der Pisa-Bewertung «bloss» um eine Zahl. Man kann sie also als «scheingenau» kritisieren, doch die gemessenen Unterschiede sagen sowohl etwas über den momentanen Kompetenzstand als auch über das Potenzial aus.
Neben den Noten ist auch der Übertritt am Ende der Primarschule ein heisses Thema. In einer Umfrage sprach sich eine Mehrheit der Schulleiter für die Abschaffung der Selektion aus. Sie schade der Chancengerechtigkeit. Was ist davon zu halten?
Die Kritik ist nicht unberechtigt. Der erste Pisa-Test vor 20 Jahren hat gezeigt, dass Länder wie die Schweiz, in denen eher früh selektioniert wird, bei den Schulleistungen nicht besser dastehen als solche, in denen die Selektion später erfolgt. Aber sie sind ungerechter. Der Zeitpunkt am Ende der sechsten Primarklasse ist aus verschiedenen Gründen nicht wirklich ideal. Zum einen kommen die Kinder dann in die Pubertät, und zum andern befinden sich Buben und Mädchen in ihrer Entwicklung an einem ganz anderen Punkt.
Die Selektion ist nicht endgültig. Schüler, die leistungsmässig zulegen, können ja später in ein höheres Niveau eingestuft werden.
Das ist die Theorie, doch in der Praxis findet das kaum statt. Auch wenn ein Realschüler supergut ist, wird er nicht hinaufgestuft, sondern bleibt in seiner Stufe. Bei näherem Hinsehen zeigt sich oft, dass der Lehrer nicht den einzigen Leistungsträger in der Klasse verlieren will. Den Eltern wird gesagt, eine Versetzung wäre schlecht für das Kind, denn in der Realschule gehöre es zu den Besten und in der Sekundarschule dann zu den Schlechtesten. Kinder wollen zudem häufig auch nicht die Klasse wechseln, da ein neues Umfeld auch wieder Stress hervorruft.
Die Pisa-Punktzahl und die Maturanote haben eine gute Aussagekraft, die Note am Ende der Primarschule aber nicht?
Mit 15, 16 Jahren hat man einen Entwicklungsstand erreicht, der über die persönlichen Leistungen ziemlich gut Auskunft gibt. Vorher ist das nicht der Fall. Hinzu kommt, dass bildungsnahe Eltern wissen, was der Übertritt bedeutet und wie sie ihr Kind unterstützen können. Je länger man die Selektion hinauszögert, desto schwieriger wird es aber für die Eltern, mit zusätzlichem «Doping» fehlendes Potenzial auszugleichen.
Engagierte Eltern leisten ihrem Kind durchaus auch bis zum Alter von 15 Jahren Unterstützung, wenn sie es für hilfreich erachten. Warum sollen die Unterschiede zwischen den bildungsfernen und den bildungsnahen Kindern schwinden, wenn die Schüler bis zum Ende der neunten Klasse zusammenbleiben?
Die schwächeren Schüler behalten die guten Schüler als positive Referenzpunkte und sehen, welche Leistung möglich ist. Diese positiven, sogenannten Peer-Effekte verschwinden, wenn man die Klassen leistungshomogen einteilt. Zudem könnte man eben diese zu ungenaue Selektion hinauszögern, die im System später nur noch mangelhaft korrigiert wird.
Die schwachen Schüler profitieren also, wenn die Selektion wegfällt. Doch wie wirkt es sich auf die guten Schüler aus, wenn sie bis zur neunten Klasse mit den schlechten zusammen sind?
Sehr gute Schüler sind praktisch immun gegen die Anwesenheit von schwächeren Schülern.
Egal, wie viele schlechte Schüler es in einer Klasse hat?
Nein, es gibt schon einen Kippeffekt, aber der tritt bei den wirklich sehr guten Schülern erst ein, wenn rund die Hälfte der Klasse aus schwachen Schülern besteht. Aber die Eltern der guten Schüler glauben das natürlich nicht und wollen, dass ihr Kind mit anderen guten Schülern unterrichtet wird, was dazu führt, dass gute mit guten Schülern in eine Klasse gesetzt werden und schlechte mit schlechten Schülern. Man muss natürlich aber auch darauf hinweisen, dass der Widerstand der Eltern gegen die Abschaffung der Selektion sicher geringer ausfallen würde, wenn sie davon ausgehen könnten, dass ihre Kinder von den Lehrern auch unabhängig von der Klassenzusammensetzung nach ihrem individuellen Potenzial gefördert werden.
In der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2000 zeigte sich, dass ein Fünftel der Schüler selbst einfache Texte nicht verstand. Doch statt sich auf die Verbesserung bei der Erstsprache zu konzentrieren, hat man Frühfranzösisch und Frühenglisch eingeführt. Das ist schwer zu verstehen.
Wir sind heute bei der Lesekompetenz gleich schlecht wie im Jahr 2000, und bei der Gruppe der Schüler, die minimale Kompetenzen erreichen, ist man sogar noch zurückgefallen. Man hat das Problem nicht in den Griff bekommen. Die Verantwortung dafür liegt aber meines Erachtens nicht beim früheren Fremdsprachenunterricht. Abgesehen von sehr schlechten Schülern leiden Kinder nicht darunter, wenn sie parallel verschiedene Sprachen lernen, wie eine grossangelegte Vergleichsstudie der Universität Arhus zeigte.
Man lernt in der siebten Klasse aber effizienter Französisch als in der dritten.
Das ist unbestritten. Doch wenn nur dieses Kriterium zählen würde, müsste man auch den Mathematikunterricht auf später verschieben. Niemand kämpft gegen Frühmathematik, ebenso wenig gegen Frühenglisch. Nur das Frühfranzösisch ist umstritten. Beim Französisch müssen wir ehrlich zu uns sein: Deutschschweizer wollen mehrheitlich nicht Französisch lernen, und umgekehrt machen die Welschen auch nicht gerade Freudensprünge im Deutschunterricht. Französisch ist unbeliebt, egal, ob man in der dritten oder in der siebten Klasse damit beginnt. Wenn man also etwas verbessern will, dann muss es gelingen, den Schülern zu vermitteln, dass Französisch ebenso zur heutigen Lebensrealität gehören kann wie Englisch. Beispielsweise durch intensiveren Sprachaustausch.
Sie sagen, dass der frühere Fremdsprachenunterricht den Kindern nicht schadet. Doch nützt er ihnen auch?
Dass man etwas besser lernt, wenn man früher damit anfängt, dafür würde ich nicht die Hand ins Feuer legen. Es gibt andere Argumente für den vorgezogenen Beginn, etwa dass man ein unbeliebtes Fach wie Französisch nicht erst im Zeitpunkt der Pubertät einführen soll, sondern früher, wenn die Lernfreude der Kinder noch nicht verdorben ist.