Frankreichs Regierungschef befindet sich in einer eigenartigen Situation: Er will ein Budget durchbringen, das selbst von den Parteien in seiner Regierung hintertrieben wird.
Der Begriff war plötzlich da – wer ihn ins Spiel brachte, ist nicht mehr zu eruieren. Er hat sich in die öffentliche Debatte Frankreichs geschlichen und ist inzwischen so offiziell, dass er in der Wochenvorschau des Regierungschefs auftaucht.
Dort steht immer wieder, dass Michel Barnier sich mit dem «socle commun» treffe. Genauer: mit den Chefs der Gruppen, die diese «gemeinsame Basis» ausmachen. Gemeint sind die Parteien, die seit September eine Minderheitsregierung bilden: die Konservativen (zu denen Barnier gehört), die Partei Renaissance von Präsident Macron sowie die kleineren Mitteparteien Modem und Horizons.
Das Problem ist, dass diese Parteien auch nach bald zwei Monaten nicht im Geringsten den Anschein machen, als würde sie etwas verbinden. So etwas wie eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit konkreten Zielen – anderswo Koalitionsvertrag genannt – gibt es (noch) nicht. Das Wort Koalition wird ohnehin tunlichst vermieden; er gehört nicht zur französischen Tradition. Einzelne Minister drohen dagegen öffentlich mit ihrem Rücktritt, sollten ihre Anliegen nicht berücksichtigt werden. Und auch im Parlament zeigt die «gemeinsame Basis» wenig Gemeinsamkeitsgefühl.
Linke und Nationalisten erhöhen die Steuern
Derzeit wird in der Assemblée nationale über das Budget 2025 beraten. Michel Barnier und die verantwortlichen Minister haben eine Vorlage eingebracht, mit der Frankreich im kommenden Jahr 60 Milliarden Euro sparen soll.
Seit die Debatte vor rund vier Wochen begonnen hat, sind die Sitzungen in der Assemblée lang und laut. Rund 3500 Änderungsanträge sind eingebracht worden. Erwartungsgemäss kritisiert die Linke die vorgesehenen Kürzungen in der öffentlichen Verwaltung und bei den Sozialleistungen. Die Opposition von rechts, die vor allem aus dem Rassemblement national (RN) besteht, kritisiert die Prioritätensetzung der Regierung: Die Nationalisten würden lieber bei der Kultur, den Vereinen, dem Klimaschutz oder aber bei Sozialleistungen für Einwanderer sparen.
So weit, so normal. Auch im vergangenen Jahr, als Macrons Partei noch allein die Regierung stellte und der Spardruck zumindest politisch weniger gross war, wurde heftig über das Budget gestritten. Neu ist allerdings, dass die Regierungsparteien ihren eigenen Vorschlag hintertreiben. Vor allem die Vertreter von Macrons Renaissance stellen sich vehement gegen jegliche Art von Steuererhöhungen – selbst wenn sie, wie das Budget es ursprünglich vorsah, nur temporär wären. Inzwischen haben sich die Linke und das RN aber zusammengetan und massive Steuererhöhungen in das Budget eingefügt: etwa auf Finanztransaktionen oder für Digitalkonzerne wie Google beziehungsweise deren Aktivitäten.
Noch kein Treffen der Fraktion
Vor allem aus seiner eigenen Partei, so ist zu vernehmen, soll die Forderung an den Premierminister gelangen, der chaotischen Debatte doch lieber eher als später ein Ende zu setzen: indem er nämlich ein Verfahren nach Artikel 49.3 einleitet. Dies hätte zur Folge, dass der Gesetzestext in seiner ursprünglichen Form und ohne Abstimmung in der Assemblée an die kleine Kammer weitergereicht wird. Macrons Regierung hatte angesichts ihrer nur relativen Mehrheit ab 2022 unzählige Male darauf zurückgegriffen – und sich den Vorwurf eingehandelt, das Parlament beziehungsweise den demokratischen Prozess zu desavouieren.
Doch Michel Barnier hält sich angesichts der Streitereien bisher – zumindest öffentlich – zurück. «Einigt euch!», soll er den Vertretern der «gemeinsamen Basis» gesagt haben. Aus seinem Umfeld heisst es zudem, er wolle der Debatte in der Assemblée nationale Raum geben und die Arbeit der Parlamentarier respektieren. In den Reihen seiner eigenen Partei gibt es Stimmen, die Barnier dieses Vorgehen als Führungsschwäche auslegen. Zudem soll es ihm ein Anliegen sein, dass die Mitglieder des «socle commun» sich auch in lockerer Umgebung näherkommen. Es soll in manchen Ministerien schon parteiübergreifende Apéros gegeben haben. «Le Figaro» berichtet allerdings, dass noch kein offizielles Treffen aller Abgeordneten des «socle commun» zustande gekommen sei.
Dass der Wille zur Zusammenarbeit begrenzt scheint, hat vor allem zwei Gründe. Der eine liegt in der Vergangenheit: Bei den Konservativen verachtet man all jene, die vor bald acht Jahren zum jungen Hoffnungsträger Macron überliefen. Die Macronisten kämpfen hingegen mit ihrem Machtverlust: Eigentlich hat ihre Partei bei der überraschenden Neuwahl im Sommer trotz deutlichen Verlusten immer noch besser abgeschnitten als die Konservativen. Und doch stellen diese den Regierungschef.
Der andere liegt in der Zukunft: Die Regierung Barnier weiss, dass sie jederzeit gestürzt werden könnte. Nämlich dann, wenn die Linke und das RN gemeinsam ein Misstrauensvotum stützen. Einige Minister, aber auch Parlamentarier, haben anonym, aber laut Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines Regierungsprogramms geäussert, das Michel Barnier bald skizzieren möchte. Bis sich in Frankreich eine Kultur der Koalition entwickelt, könnte es also noch ein wenig dauern.