Verbrannte Bücher, verklebte Blätter: Seit über zweihundert Jahren versucht man, Papyrusrollen aus dem antiken Herculaneum lesbar zu machen. Nun ist es endlich gelungen.
Am Anfang war nur ein Wort zu lesen: «porphyras», der altgriechische Begriff für purpurfarben. Darum herum waren undeutlich weitere Buchstaben erkennbar. Nicht viele, aber genug, um zu wissen, dass ein Durchbruch gelungen war. Mithilfe von künstlicher Intelligenz haben drei junge Informatiker vor kurzem eine Textpassage aus einer Papyrusrolle lesbar gemacht, die vor rund zweitausend Jahren in Herculaneum von Lavaschlamm verschüttet wurde, zusammen mit mehr als tausend weiteren Rollen.
Im Herbst des Jahres 79 n. Chr. war die römische Stadt am Golf von Neapel zerstört worden. Der Vesuv, vor dem sich die Siedlung gegen das Meer hin ausbreitete, war vorher lange Zeit nicht aktiv gewesen. Umso heftiger war der Ausbruch, und umso unvorbereiteter traf er die Menschen. Herculaneum und das benachbarte Pompeji wurden unter Schlamm beziehungsweise heisser Asche begraben. Innert weniger Stunden starben zwischen drei- und viertausend Menschen.
Die Villa, in der sich die Buchrollen fanden, war ein Anwesen der Luxusklasse, riesengross. Allein die Hofanlage mit Wasserbecken und gedecktem Säulengang ringsum war fast hundert Meter lang. Das Ganze lag in einem Park mit Wiesen, Bäumen und Gartenpavillons direkt am Meer. Bauherr des Resorts könnte Lucius Calpurnius Piso gewesen sein, der Schwiegervater von Julius Cäsar. Aber sicher ist das nicht.
Wie Blätterteiggebäck
Zumindest eines lässt sich über den Besitzer des Hauses sagen: Er hatte Interesse an Büchern. In einem Raum des Hauses hatte er eine Bibliothek eingerichtet. Über tausend Papyrusrollen, ordentlich in Regalen versorgt. Sie haben die Zeiten überdauert. Im Herbst 1752 entdeckte man sie, als im Zuge der aufkommenden Antikenbegeisterung in Pompeji und Herculaneum die ersten Ausgrabungen unternommen wurden.
Der Fund war eine Überraschung. Während die allermeisten Papyri im Lauf der Jahrhunderte verrottet waren, hatte ausgerechnet die Katastrophe von Herculaneum sie konserviert. Die glühende Hitze der Vulkanwolke hatte ihnen die Feuchtigkeit entzogen, so dass sie sich nicht zersetzten. Unter der dichten Schlammschicht waren sie über die Jahrhunderte geschützt. Lesen konnte man die Bücher allerdings nicht. Sie waren zu Klumpen verbacken. Die aufgerollten Papyruslagen hafteten aneinander wie die Schichten eines Blätterteiggebäcks.
Seit dem 18. Jahrhundert versuchte man, die Bücher aufzurollen, indem man sie mit Quecksilber, Rosenwasser, Glycerin oder Schwefellösungen behandelte. Meist ohne Erfolg. Die Blätter liessen sich nicht trennen, die verkohlten Rollen zerfielen in der Regel schon bei der ersten Berührung. Viele Papyri wurden zerstört, ihr Inhalt ist unwiederbringlich verloren. Ein Teil konnte mit aufwendigen Methoden wenigstens teilweise lesbar gemacht werden. Einige hundert Rollen sind so stark verbacken, dass kaum Aussicht besteht, sie je öffnen zu können.
Elon Musk will zahlen
Doch auch sie sind nicht verloren. Vor wenigen Jahren gelang es, mit Röntgenstrahlen einzelne Textpassagen sichtbar zu machen, ohne die Rollen zu öffnen. Und in den vergangenen Monaten haben Forscher in den USA, in Deutschland und der Schweiz grössere Teile einer Buchrolle lesbar gemacht. Mit einer Bilderkennungs-KI, die darauf trainiert wurde, auf dem verkohlten Grund kaum sichtbare Schriftzeichen auszumachen. Ein paar tausend Buchstaben sind es bis jetzt, die man lesen kann. Rund 5 Prozent des gesamten Umfangs, wie Wissenschafter schätzen. Ende dieses Jahres sollen 90 Prozent der Rolle zu lesen sein.
Bis die Texte aller tausend Rollen aus Herculaneum verfügbar sind, ist es laut den IT-Experten nur noch eine Frage der Zeit. Und des Geldes. Doch das Fundraising ist in guten Händen: Der Silicon-Valley-Milliardär und Antikenfan Nat Friedman, der für die digitale Entschlüsselung der Bücher aus Herculaneum ein Preisgeld von hunderttausend Dollar ausgesetzt hatte, rief vor kurzem eine Sammelaktion ins Leben. Elon Musk kündigte an, «jeden Betrag, der sinnvoll ist», bereitzustellen. Das sei schliesslich ein Projekt zivilisatorischer Aufklärung. Ende 2026, stellt Nat Friedman in Aussicht, soll man alle Papyrusrollen lesen können.
Das wäre ein grosser Schritt. Die Bibliothek aus Herculaneum ist die einzige der Antike, die erhalten geblieben ist. Die berühmten Bibliotheken von Athen, Alexandria, Pergamon oder Rom sind untergegangen. Die Texte haben sich nur so lange erhalten, wie sie weiter abgeschrieben wurden und, meist in Klosterbibliotheken, das Mittelalter überlebten. Unter den Papyri aus Herculaneum könnten sich deshalb einige Bücher finden, die bisher noch nicht bekannt waren, weil man sie des Abschreibens nicht mehr für wert befand.
Die einfachen Dinge
Ob sich unter den noch nicht lesbaren Büchern aus Herculaneum verlorene Dramen von Sophokles oder Euripides befinden? Homerische Epen, die man nur dem Titel nach kannte? Oder Werke von Autoren, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gab? Das ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Die bisher bekannten Fragmente deuten darauf hin, dass die Bibliothek fast ausschliesslich philosophische Titel enthält. Besonders die Werke des epikureischen Philosophen Philodemos von Gadara (110 – um 40 v. Chr.) scheinen vollständig vorhanden gewesen zu sein, neben denen von Epikur und anderen Vertretern seiner Schule.
Eine Spezialbibliothek also. Das hat zu der Vermutung geführt, es könnte sich um Philodemos’ eigene Bibliothek handeln. Der Philosoph war mit Cäsars Schwiegervater Piso befreundet und starb wahrscheinlich in Herculaneum. Vielleicht war die Villa tatsächlich das Sommerhaus von Piso, und er stellte seinem Freund Philodemos darin eine Wohnung mit Bibliothek zur Verfügung, in der der Philosoph ungestört arbeiten konnte.
Das bleibt Spekulation. So oder so kann man gespannt sein, welche Überraschungen der Schatz aus dem Schlamm von Herculaneum bereithält. Auch der Ausschnitt aus der seit kurzem wieder lesbaren Rolle stammt aus einem noch nicht bekannten Werk von Philodemos. In dem kurzen Textstück denkt er darüber nach, ob Dinge, die selten sind, den Menschen einen grösseren Genuss verschaffen als solche, die es im Überfluss gibt – und verneint die Frage natürlich. Lebensfreude, lehrte Epikur, bedeutet nicht, dass man sich alle Genüsse erlaubt. Sondern dass man die einfachen Dinge schätzen lernt.