Ob auf Berge, in Wälder oder auf einsame Inseln: Diese Romane schicken ihre Figuren auf Reisen ins Ungewisse – und mit ihnen die Leserschaft.
Ende März dieses Jahres erschien im Diogenes-Verlag der Roman «Pearly Everlasting» der Kanadierin Tammy Armstrong. Es ist ihr erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. «Pearly Everlasting» spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den kanadischen Wäldern. Die Hauptfigur Pearly bekommt, als sie noch ein Baby ist, ein verwaistes Bärenbaby zur Seite gestellt. Gefunden hat es ihr Vater, ein Koch in einem Holzfällercamp. Bruno, so der Name des Bärenbabys, wächst nicht einfach als Haustier auf – er ist wie ein Bruder für Pearly und wird von ihren Eltern genauso liebevoll umsorgt und versorgt wie Pearly und ihre Schwester Ivy selbst.
In der Abgeschiedenheit von allem Zivil-Urbanen wachsen der Bär Bruno und Pearly in enger Verbundenheit auf. Dies bis zu dem Tag, Pearly ist 15 Jahre alt, an dem Bruno fortgeschafft wird. Er wird verdächtigt, einen Mann getötet zu haben. Pearly macht sich auf die Suche nach ihm. Was sich vor Beginn der Suche wild und einer Legende gleichend liest, wird nun zum rasanten Abenteuer.
An diesem Roman ist nichts gemütlich oder einfach, nicht die Lebensumstände der Menschen, archaisch rau sind sie in den Weiten der Wälder Kanadas, und auch nicht die Schicksale der vielen Männer und Frauen aus allen Ecken der Welt, die sich als Holzfäller, Köchinnen und Hilfsarbeiter verdingen. Die Unbarmherzigkeit des Menschen, aber auch der Natur konfrontiert das junge Mädchen auf seiner Suche nach dem Bären. Man meint, die kanadische Winterkälte in den Gliedern zu spüren, die sturmgeplagten Wolkenhimmel zu hören, den Schnee und die Glut immer brennender Feuer zu riechen. Aber natürlich findet sich auch das Gute, Schöne, Reine in der Geschichte: Hoffnung, Naturgesetze, Glaube. Manchmal verschlägt es einem beim Lesen den Atem – und man hofft nur noch, es möge alles gut ausgehen für das Mädchen.
Buchtipp von Ulrike Hug
«Pearly Everlasting» von Tammy Armstrong, 2025
Diogenes-Verlag, 368 Seiten, 34 Franken.
Linda hat ihre Tochter verloren, und nun ist es schwer, selbst am Leben zu bleiben. Die Kuratorin flüchtet vor allem, was ihr lieb war, ihrem Mann, der Wohnung, der Arbeit, den Freundinnen, der Stadt, in ein ganz anderes Leben, arbeitet im Garten, begleitet vom Hund Kaja und von einigen Hühnern. Die Kämpfe, die in diesem Buch ausgetragen werden, sind still. Und dennoch ergreifend.
Man begleitet Linda durch das Abenteuer, sich zurechtzufinden in einem Leben, in dem ihr das Wichtigste fehlt. Wie in allen Büchern der deutschen Autorin kommt man der Protagonistin sehr nahe, berührt durch die schlichte, ernste Sprache, die sehr genau ihre Gefühle auslotet, ohne je voyeuristisch zu sein.
Buchtipp von Malena Ruder
«Mein drittes Leben» von Daniela Krien, 2024
Diogenes-Verlag, 304 Seiten, etwa 35 Franken.
Die studierte Zoologin Charlotte Walker arbeitet als Tierärztin in London. Nach einem Streit mit ihrer Mutter verlässt sie England für ein einjähriges Stipendium auf einer kleinen, abgelegenen Insel namens Tuga de Oro. Dort soll sie eine Studie über die vom Aussterben bedrohten Goldmünzenschildkröten durchführen, doch eigentlich geht es Charlotte dabei um viel mehr. Denn sie ist überzeugt, dass ihre Identität irgendwie mit dieser Insel verbunden ist – dem will Charlotte nun auf den Grund gehen.
Nach einer langen und beschwerlichen Seefahrt ist sie endlich auf Tuga angekommen – dort kann sie sich allerdings kaum den erhofften Nachforschungen widmen. Charlotte merkt schnell, dass neben den Schildkröten auch Hunde und Affen ihrer Fürsorge bedürfen. Denn die Inselbewohner sehen Charlotte weniger als Forscherin denn als langersehnte Tierärztin, deren Aufmerksamkeit sie mit endlosen Kuchenlieferungen für sich gewinnen wollen. Als Charlotte den neuen Tierarzt der Insel, Dan Zerki, kennenlernt, wird sie vollends aus dem Konzept gebracht.
Mit ihrem bildhaften Schreibstil nimmt die Autorin Francesca Segal ihre Leserinnen und Leser gleich auf zwei Abenteuer mit – an der Seite von Charlotte taucht man in das unbekannte Tropenparadies Tuga ein, in das Innere des Dschungels und lernt die spannenden Charaktere der Inselbewohner kennen, die einem ans Herz wachsen. Der Roman erzählt aber auch von einer abenteuerlichen Suche nach sich selbst, seiner Herkunft und nach der Bedeutung von Heimat.
Buchtipp von Nina Fehr
«Willkommen auf Tuga» von Francesca Segal, 2024
Verlag Kein & Aber, 497 Seiten, 23 Franken.
Schon als junge Studenten träumten der Erzähler des Buches, Walter Welzbach, und sein Freund Lenny vom Bergsteigen. Nach vielem Üben an den Brückenpfeilern ihrer Heimatstadt in den Niederlanden wagen sie sich an ihren ersten echten Berg: den Montblanc. Völlig angefressen erklimmen sie danach Gipfel nach Gipfel, wobei kein Risiko zu gross scheint. Um den Bergen näher zu sein, ziehen die beiden schliesslich in die Schweiz.
Während Lennys Leben sich jedoch langsam in eine andere Richtung entwickelt, bleibt Walter dem Bergsteigen treu. Von der Masse dafür gefeiert, verbittert er jedoch in Einsamkeit. Mittlerweile 50-jährig, zieht es ihn für ein letztes grosses Abenteuer in den Himalaja. Währenddessen bekommt die so glanzvolle Fassade der Alpinistenwelt deutliche Risse.
Buchtipp von Claude Menzi
«Der unendliche Gipfel» von Toine Heijmans
Mairisch-Verlag, 352 Seiten, ca. Fr. 29.90.
Dieser Roman spielt in einem vorwiegend von Männern geprägten Milieu, die sich in der frostigen, unwirtlichen Wildnis Alaskas zur Zeit des Klondike-Goldrausches Ende des 19. Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt verdienen. Erzählt wird die Geschichte des Hundes Buck, der durch einen Spielschulden-Getriebenen entführt und verkauft wird. Dies an einen Typen, der ihn als Schlittenhund nach Alaska verschleppen will. Buck wirkt wie ein weises Wesen, das es versteht, sich schicksalsergeben den Umständen zu stellen, ein feines Gespür für Gut und Böse entwickelt und daraus zunehmend mit Biss und Intuition sein Überleben sichert.
Buck kämpft sich an die Spitze verschiedener Schlittenhund-Rudel und wird zunehmend zum begehrten Leithund. Entsprechend häufig wechseln seine Besitzer – jeder will ihn für sich. Trotz allen Torturen, die er durchlebt, vernimmt er zunächst nur leise, fast unbewusst, den «Ruf der Wildnis» – genauer: den Ruf der Wölfe. Dann begegnet er John Thornton – oder besser: Sie finden einander. Sie stehen füreinander ein, retten sich gegenseitig, lassen einander Raum. Bis Thornton stirbt. Dann folgt Buck dem Ruf, schliesst sich einem Wolfsrudel an und löst sich endgültig vom Menschen.
Was diesen Roman so mitreissend und abenteuerlich macht, ist die Feinheit, mit der Jack London die Rauheit und Kälte von Natur und Mensch aus Bucks Perspektive beschreibt. Beim Lesen steigen einem bisweilen Tränen in die Augen – angesichts der Härte, Abgebrühtheit und Brutalität, mit der Buck konfrontiert wird. Zugleich aber blitzt etwas zutiefst Menschliches auf: die leise, sehnsuchtsvolle Hoffnung auf Verbundenheit, auf einen Partner auf Augenhöhe.
Und während man liest, denkt man unweigerlich: So weit entfernt sind wir zivilisatorisch und menschlich nicht von dieser Geschichte aus dem späten 19. Jahrhundert. Man kann nur hoffen, dass wir Menschen uns nicht vom Humanen, vom Miteinander zurückziehen. Für Buck ist dieser Rückzug verständlich – nach Thorntons Tod löst er sich vom Menschen und schliesst sich den Wölfen an. Doch was, um Himmels willen, bliebe uns Menschen ohneeinander? Und wohin sollten wir uns zurückziehen?
Buchtipp von Ulrike Hug