Das neue Wunderwerk ist ein Fahrzeug, das die Markenwerte fortführt und gleichzeitig den Weg in die Zukunft weist. Es muss schon eine besondere Klientel sein, die sich für technische Finesse, einzigartiges Design und 1800 PS begeistert – und es sich leistet.
Einfahrt zum Stammsitz von Bugatti im elsässischen Molsheim, in der Nähe von Strassburg. Rund fünfzig junge Menschen mit Kameras warten auf die Gäste eines besonderen Abends. Es sind Carspotter und Paparazzi, die ein Bild von edlen Karossen und den VIP darin schiessen wollen. Vielleicht kommt ja sogar Cristiano Ronaldo? Er gehört zu den Bugatti-Kunden, die eingeladen sind. Aber heute ist er nicht dabei, er ist an der Fussball-EM in Deutschland im Einsatz. Den grossen Moment der Enthüllung verpasst er dieses Mal.
Lange musste man warten, bis es von der französischen Edelschmiede Bugatti ein neues Fahrzeug gab. Das neue Modell heisst Bugatti Tourbillon, ist vorerst auf 250 Exemplare limitiert und tritt ein schweres Erbe an. Der Vorgänger Chiron war auf 500 Exemplare limitiert und erhielt ein Preisschild von 3,6 Millionen Franken. In der Regel beginnt der Bau einer Bugatti-Modellreihe erst, wenn die Auflage bereits ausverkauft ist. Ein sicheres Geschäft – die Lizenz zum Gelddrucken. Und beim Tourbillon soll sich zumindest dies nicht ändern.
Limitierte Auflagen von edlen Fahrzeugen wirken Wunder, insbesondere auf Kunden aus der Schweiz haben sie einen magnetischen Effekt. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass etwa 2019 mehr als 40 Prozent aller europäischen Bugatti-Verkäufe in der Schweiz anfielen. Und das ist nur ein Beispiel, der Anteil an Kunden aus der Schweiz bleibt über die Jahre etwa gleich. Dabei hält sich die Klientel aus Bugatti-Fahrern und Bugatti-Anlegern ungefähr die Waage. Die einen nutzen ihr Gefährt als Genussmobil und als Zeichen ihres Geltungsbewusstseins, die anderen schieben ihr Fahrzeug in die geschützte Tiefgarage und freuen sich über seine Wertvermehrung. Nicht wenige unter ihnen sind Sammler und besitzen einen ganzen Fuhrpark edler Autos.
Von den rund 500 Besuchern, die zur Enthüllung des neuen Modells Tourbillon nach Molsheim gereist sind, sind rund 80 Prozent Kunden. Solche, die bereits eines oder mehrere Fahrzeuge der Marke ihr eigen nennen, und solche, die bereits einen Tourbillon bestellt haben oder noch einen ergattern wollen. In der festlichen Eventhalle haben sich geschätzte drei Milliarden Franken an Kundenvolumen versammelt: eine interessante Mischung aus diskreten Geniessern und glitzernden Figuren mit bunten Brillen.
Jeder Kunde hat im Schnitt mehr als 40 Fahrzeuge in seiner Sammlung, wie Bugatti einmal bekanntgab. Und jeder von ihnen kauft einen neuen Bugatti nicht, ohne durchschnittlich Optionen für zusätzliche 150 000 Franken dazuzubestellen. Ein Grossteil der europäischen und der weltweiten Kundschaft ist in der Eventhalle neben dem Schloss Molsheim versammelt. Ein goldenes Klumpenrisiko.
Schaulaufen an der Verkaufsschau
Was die illustre Gesellschaft bei festlicher Beleuchtung vorgesetzt bekam, war die Reise wert. Zu Kammermusik und Gaumenfreuden der Haute Cuisine zeigte sich der Bugatti-Chef Mate Rimac – erstmals mit blauem Anzug und Krawatte statt in Jeans und T-Shirt. Er macht den Einheizer, um die zwei Stunden später geplante Enthüllung des Tourbillon einzuleiten. Doch Rimac ist kein Showman, er gibt sich zurückhaltend und im Vergleich zur durchschnittlichen Bugatti-Kundschaft eher bescheiden.
Die Mischung aus Hummer-Törtchen und Jakobsmuschel-Carpaccio, verbandelt mit technischen Leckerbissen wie V16-Saugmotoren, 3-D-gedruckten Aufhängungen und skelettiertem Armaturenträger – sie war für das Publikum offenbar bekömmlich. Sogar für diejenigen, die gut vier Millionen Franken für das neue Meisterwerk aus Molsheim bezahlten. Leasing? Hors discussion.
Aber wer hat, der hat. Und mit einem Schluck edlen Burgunders aus der Domaine Faiveley lässt sich die Unterschrift unter den Kaufvertrag eines Bugatti Tourbillon noch schwungvoller setzen. Es sollen an diesem Abend noch die letzten der 500 Exemplare verkauft worden sein, so heisst es – auch wenn die offizielle Bestätigung dafür noch aussteht. Bei Bugatti ist Diskretion Maxime.
Der Abend nähert sich der Krönung, das Publikum zählt den Countdown schreiend herunter – fast wie bei einem Anlass einer Netzwerk-Marketingfirma wie Amway oder Herbalife. Der neue Tourbillon rollt auf die Bühne. Der flache und vor allem breite Zweisitzer beeindruckt durch seinen markentypischen Hufeisen-förmigen Grill, der breiter denn je gestaltet ist. Zu den typischen Designmerkmalen gehört der C-förmige Schwung in der Seitengrafik der Karosserie, der beim Hersteller «Bugatti-Linie» heisst und immer wieder neu interpretiert wird.
Erstmals zu erkennen war die Bugatti-Linie beim Type 50 Grand Tourer. Ettore Bugattis Sohn Jean, wie er trotz italienischem Namen gebürtiger Franzose, führte eine seitliche, tropfenförmige Linie ein, die auch farblich vom Rest der Karosserie abgesetzt war. Auf diese Weise betonte der Designer die Länge des Wagens. So wurde neben dem geschwungenen C auch die zweifarbige Lackierung zum typischen Bugatti-Merkmal.
Beim Tourbillon erhielt die Bugatti-Linie eine neue, fast eckige Form. Sie soll die Dynamik des Wagens stärker betonen als bisher und damit ein Zeichen für die Zukunftsorientierung des Herstellers setzen. Aber Befürchtungen, dass nach der Ablösung von Achim Anscheidt als Chefdesigner und dem Einstieg des 36-jährigen Kroaten Mate Rimac als neuer Bugatti-Chef alles ganz anders und zu modern werden könnte, kann der Tourbillon schon bei der Formgebung entkräften.
Besonders ausgeprägt ist beim Tourbillon die Mittellinie, die sich als Falz über die gesamte Länge des Fahrzeugs zieht. Diese Mittelnaht ist eine Hommage an den Bugatti Type 57 SC Atlantic von 1937. Dessen Karosserieformen waren so grossflächig und gewölbt, dass sie damals nicht in der vollen Breite hergestellt werden konnten. So baute man zwei Hälften des Fahrzeugs und schweisste es längs zusammen. Die auffällige Naht wurde zum Gestaltungsmerkmal, das sich im Tourbillon von neuem zeigt – auch wenn der Wagen nicht aus zwei Längshälften besteht.
Auch im Interieur folgt der Tourbillon der Zweiteilung des Atlantic. Jeder Sitz ist wie ein Kokon von Seitenwänden umgeben, das Chassis ist zur Gänze aus Carbon der neusten Generation gefertigt. In der Mitte zeigt sich eine schmale, skelettartige Konsole mit programmierbaren Dreh-Druckknöpfen. Deren Mechanik ist mit sichtbaren Schrauben und Federn zur Schau gestellt, sie wird erlebbar gemacht.
Eine Luxusuhr wird zum Tachometer
Kernstück des Fahrer-Cockpits ist das Kombiinstrument für Tacho, Drehzahlen, Tankanzeige, Temperaturen, Batterie-Ladestand und Öldruck. Anstatt es voll digital zu gestalten, wie man es von Mate Rimac erwartet hätte, schufen die Designer ein Instrument, das wie ein mechanisches Uhrwerk gestaltet und aus Edelstahl gefräst ist. Es besteht aus sechs Rundinstrumenten mit analogen Zeigern, die hinter dem Lenkrad, oberhalb der Nabe, in einem offenen Gehäuse zusammengefasst sind. Der Anblick des aus 250 Edelstahl- und Titan-Einzelteilen und Lagern aus Saphiren und Rubinen bestehenden Kunstwerks ist nicht nur für Uhrenfans atemberaubend und bisher einzigartig.
Und um das Wunderwerk als Fahrer stets voll im Blick zu haben, haben die Techniker das Lenkrad so konstruiert, dass die Nabe mit dem Instrument beim Lenken stehen bleibt, nur der Lenkkranz dreht sich. Das ist zwar nicht neu, denn bereits vor vielen Jahren hatte Citroën dieselbe Idee. Nur hat Bugatti den Effekt mit seinem Uhrwerk-Display perfektioniert.
Kein Wunder, dass Bugatti für das neue Modell den Namen Tourbillon (zu Deutsch Wirbelwind) wählte, der aus der Uhrenwelt stammt. Er steht seit 1795 für ein wichtiges Element in mechanischen Uhrwerken, das für eine bessere Ganggenauigkeit sorgt. Das Kombiinstrument erinnert an diese Tradition und setzt sie in der Automobilwelt fort. Wie passend, sind doch Interessenten edler Autos oft auch Anhänger exklusiver mechanischer Uhren.
Mit solch traditionellen Stilelementen nähert sich der Bugatti-Chefdesigner Frank Heyl dem aus drei Säulen bestehenden Bugatti-Grundsatz «Art, Forme et Technique» (Kunst, Form und Technik) an. Der Deutsche Heyl, der vor wenigen Monaten die Nachfolge seines Landsmanns Achim Anscheidt antrat, nahm den längsgeteilten Wagen von damals auch bei der Gesamtkonzeption des Tourbillon zum Vorbild: «Wir haben uns vom Type 57 SC Atlantic inspirieren lassen – das S steht für ‹surbaissé›, was im Wesentlichen bedeutet, dass die Frontpartie abgesenkt wurde, die Dachlinie nach unten ging, der Fahrer tiefer sass und so diese Proportion entstand.»
Einige Kunden sind von der Gestaltung ihres künftigen Neuwagens so begeistert, dass sie Chefdesigner und Vorgänger umarmen und leutselig mit ihnen auf das neue Werk anstossen. Und ja, man spricht auch in der Kundschaft Deutsch – und Schweizerdeutsch.
Doch trotz gesenkter Front ist der Fahrer eines Tourbillon keineswegs tief im Fahrzeug vergraben. Er sitzt angemessen hoch, so dass er die recht kurze Front des Fahrzeugs durch die langgezogene Frontscheibe erkennt und bei der Lenkarbeit einschätzen kann. Geduckt aber könnte man die Stirnfläche des neuen Bugatti schon nennen. Sie orientiert sich an einem Falken, der zum Sturzflug ansetzt und dabei eine von der Seite gesehen aerodynamisch fast ideale Flügelform darstellt – und das bei eingezogenen Flügeln.
Und so paradox dies klingen mag: Auf einen Heckflügel kann der Tourbillon bei normaler Fahrt bei Tempi bis weit jenseits von 430 km/h verzichten, ganz anders als vergleichbare Fahrzeuge. Pardon, es gibt ja laut Hersteller nichts, was sich mit einem Bugatti vergleichen lässt. Doch wie ist es möglich, an der Hinterachse genügend Anpressdruck zu erzeugen, damit auf einen grossen Heckspoiler verzichtet werden kann?
Bugatti löst das Problem von unten her: Zwischen den Hinterrädern sind mächtige Luftkanäle angebracht, die im steilen Winkel bis zur Heckkante des Wagens ansteigen. Mate Rimac verrät: «Um den richtigen Winkel für diese Diffusor-Kanäle zu schaffen, mussten sie im Unterboden deutlich vor der Hinterachse beginnen, genauer gesagt bereits zur Fahrzeugmitte hin.»
V16-Triebwerk aus der Not geboren
Dies schuf ein neues Problem, denn für einen Motor, der stets hinter den beiden Sitzen eingebaut ist, war kaum noch Platz. Nur eine sehr lange und schmale Mulde blieb übrig. Rimac machte aus der Not eine Tugend. Anstelle des bisherigen breiten 16-Zylinder-Motors mit drei nebeneinander angeordneten Zylinderbänken schuf er in Zusammenarbeit mit den Technikern der Motorenschmiede Cosworth ein Triebwerk mit V-Anordnung von je 8 Zylindern, einen V16. Unvergleichlich.
Und damit ist auch klar, dass die Befürchtungen hinsichtlich der Pläne des Elektro-Papstes sich nicht erfüllen werden. «Wir schufen den idealen Kompromiss zwischen reinem Verbrenner-Antrieb aus dem Vorgängermodell Chiron und dem Batterie-Elektroantrieb des Rimac-Supersportwagens Nevera», sagt der Bugatti-Chef, der Firmen wie Porsche und Pininfarina mit seiner E-Technologie beliefert.
Ungewöhnlich ist nicht nur der lange V16 des Tourbillon, sondern auch der Verzicht auf einen oder mehrere Turbolader – beim Chiron waren es noch vier davon. Der Benzin-Saugmotor wird kombiniert mit zwei Elektromotoren an der Vorderachse und einem dritten Elektromotor an der Hinterachse. Insgesamt leistet der Tourbillon damit 1800 PS, davon 1000 aus dem Verbrennungsmotor und 800 aus den Elektromotoren.
Die Elektromotoren erhalten ihre Energie von einer ölgekühlten 800-Volt-Batterie mit 25 kWh Inhalt. Sie ist im schmalen Mitteltunnel zwischen den Sitzen sowie quer vor dem Benzinmotor untergebracht. Rein elektrisch liesse sich der Tourbillon auf rund 60 Kilometern fahren, womit auch die Zukunft für Bugatti-Fahrer gesichert wäre, die emissionsfrei in die Innenstadt rollen wollen – wenn dereinst einmal keine Verbrenner mehr in die Stadt fahren dürfen. Die ersten Fahrzeuge kommen ohnehin erst 2026 zu den Kunden.
Den Käufern eines Tourbillon ist dies einerlei. Sie bezahlen schon heute und dürfen damit rechnen, dass sich der Wert ihres Fahrzeugs bei der Übergabe in Molsheim längst gesteigert hat. Sofort weiterverkaufen? Mais non, dann wäre man die längste Zeit Bugatti-Kunde gewesen.
Mit dem Tourbillon gelingt Rimac die Brücke vom Technologie- und Elektro-Spezialisten zur Traditionsmarke Bugatti, als deren Chef er nun über die Glaubwürdigkeit verfügt, die Traditionsmarke in ein neues Zeitalter zu führen. Ob dieses irgendwann vollelektrisch sein wird, bleibt offen. Aber mit dem batterieelektrischen Hypersportwagen Nevera hat der Kroate bisher Schiffbruch erlitten bei der Klientel, die auf exklusive Über-Autos aus ist. Im Mai 2024 sagte er am Financial Times Future of the Car Summit in London: «Superreiche wollen lieber Verbrennungsmotoren.»
In Molsheim gehen an diesem Juniabend langsam die Lichter aus, die letzten Gespräche unter Bugatti-Eignern werden geführt, die letzten Unterschriften unter Kaufverträge gesetzt. Es war ein erfolgreicher Tag für Bugatti: 250 Tourbillon sind verkauft. Bugatti ist um eine Milliarde Kundenvolumen reicher. Der Bau des Hypersportwagens kann beginnen.
Mehr als eine Geldmaschine
hdt. Bugatti. Der Name steht für mehr als nur eine Automarke. Damit verbunden ist das Unerreichbare. War es in den 1920er Jahren der bahnbrechende Erfolg von hellblauen Rennmaschinen wie den Typen 13, 22 und 35, die alles gewannen, brach sich in den 1930ern ein ganz neuer Trend der Marke den Weg: die betörende Schönheit geschwungener Karosserielinien, verbunden mit der Eleganz stromlinienförmiger Reisefahrzeuge. Berühmt sind sie alle heute noch, seien es der Type 41 Royale oder der Type 56 SC Atlantic. Das Credo des Unvergleichlichen war geprägt durch die Kernaussage des Firmengründers Ettore Bugatti: «Wenn es vergleichbar ist, ist es nicht mehr Bugatti.»
Als Bugatti vor 25 Jahren unter dem Dach des VW-Konzerns ein Comeback feierte, hielt sich die neue Führungsspitze streng an die Vorgaben des Firmengründers. Dem VW-Chef Ferdinand Piëch war es ein grosses Anliegen, unter der Marke Bugatti Luxusautos auf den Markt zu bringen, die aufgrund ihrer äusseren Form und mit technischen Glanzleistungen die obersten zehntausend der Welt ansprechen. Mehr als 1000 PS sollten es sein, der grösste Motor, das schnellste Auto überhaupt – und so elegant wie die Bugatti-Modelle früher Jahre. Unerreichbar für fast alle, auch aufgrund eines siebenstelligen Preises.
Der 2001 lancierte Bugatti Veyron hielt das Versprechen, auch wenn er die angestrebte Höchstgeschwindigkeit von 400 km/h zunächst nicht schaffte. Dem Vernehmen nach sollen einige Stunden im Windkanal des Sauber-Formel-1-Teams dieses Manko jedoch beseitigt haben. Der W16-Zylinder mit 4 Turboladern leistete 1001 PS. Insgesamt 450 Stück rollten aus der Manufaktur in Molsheim.
2017 folgte der Chiron mit dem weiterentwickelten W16 und nunmehr 1500 PS, die später noch auf 1600 PS gesteigert wurden. Das Fahrzeug war eine Weiterentwicklung des Veyron, aber noch breiter, flacher, stärker und schneller. Insgesamt 500 Exemplare wurden gebaut, sie alle gingen in verschiedenen Versionen zu Preisen zwischen 2,6 und 3 Millionen Franken an die Kunden.
Um sich und den treuen Kunden etwas Abwechslung zu verschaffen, baute Bugatti ab 2018 immer wieder Sondermodelle auf Chiron-Basis. Dazu gehörten Divo (40 Stück, Preis: 5 Millionen Euro), Centodieci (10 Fahrzeuge, 8 Millionen Euro), Bolide (40 Stück, Preis unbekannt), Mistral (99 Exemplare, 6 Millionen Euro) und das Einzelstück La Voiture Noire, das zu einem unbekannten Preis an einen Kunden in der Schweiz ging.