Patienten, die grundlos von Arzt zu Arzt rennen, haben keine freie Bahn mehr: Die Krankenkassen müssten prüfen, ob ¨ärztliche Leistungen wirtschaftlich und effizient seien, sagt das Bundesgericht.
Zu den heiligen Kühen im schweizerischen Gesundheitssystem gehört die freie Arztwahl: Sie besagt, dass Patientinnen und Patienten frei entscheiden können, welche und wie viele Ärzte sie aufsuchen, um ein Leiden zu diagnostizieren und zu behandeln. Selbst der Besuch teurer Spezialisten ist von dieser Regel, die im Standardmodell der Grundversicherung so vorgesehen ist, nicht ausgenommen. Doch weil die freie Arztwahl ein Kostentreiber ist, ist sie den Krankenversicherungen ein Dorn im Auge. Für sie wäre es besser, wenn ein Hausarzt oder eine andere Anlaufstelle die Überweisung an weitere Ärztinnen und Ärzte vornehmen würde.
In dieser Auseinandersetzung erhalten die Krankenversicherungen nun Rückenwind vom Bundesgericht. Es hat am Montag entschieden, dass das Recht auf freie Arztwahl Grenzen hat. In dem betreffenden Fall ging es um eine Patientin, die hauptsächlich im psychiatrischen Bereich «verschiedene, untereinander nicht koordinierte ärztliche Leistungen» in Anspruch nahm. Die Rede ist in solchen Fällen von sogenanntem Ärzte-Hopping. Kommt es dazu, sei die Krankenversicherung berechtigt, nur noch Leistungen zu übernehmen, die von einer Erstanlaufstelle erbracht oder durch diese veranlasst worden seien, so das Bundesgericht.
Freie Arztwahl ist kein Freipass
Die freie Arztwahl bedeute gemäss dem Krankenversicherungsgesetz nämlich keinen Freipass, argumentiert das Bundesgericht: Das Gesetz schreibe vor, dass die Krankenversicherungen nur Kosten für Leistungen übernehmen müssten, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich seien. Diese WZW-Kriterien sollen sicherstellen, dass medizinische Leistungen trotz hoher Behandlungsqualität effizient eingesetzt werden. Die Versicherungen seien verpflichtet zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt seien.
Im konkreten Fall kam die Krankenkasse gestützt auf ein Gutachten zum Schluss, dass die bisherige unkoordinierte Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen eine unwirksame und unzweckmässige «Behandlungsmethodik» darstelle. Deshalb sei ein Behandlungsplan durch eine federführende medizinische Institution als Gatekeeper notwendig. Dieses Vorgehen ist laut dem Bundesgericht mit dem Grundsatz der freien Arztwahl und dem System der Pflichtleistungen vereinbar.
Die freie Arztwahl stehe nämlich unter dem Vorbehalt der WZW-Kriterien, schreibt das Bundesgericht in einer Medienmitteilung zu dem Entscheid. Und bei den ärztlichen Pflichtleistungen bestehe zwar die gesetzliche Vermutung, dass sie die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erfülle. Doch diese Vermutung könne durch die Krankenversicherer umgestossen werden. Auch einen unrechtmässigen Eingriff in die Grundrechte erkennt das Bundesgericht nicht.
Schon Berset wollte Ärzte-Hopping einen Riegel vorschieben
Es weist sogar darauf hin, dass das Vorgehen der Krankenkassen auch den Interessen der Versicherten selber dienen könne, die so vor objektiv unnötigen Behandlungen und Eingriffen geschützt würden. Das Bundesgericht spricht dabei das Argument von zahlreichen medizinischen Fachleuten an, wonach ein häufiger Wechsel von Ärztinnen und Ärzten zu einer fragmentierten Versorgung führe. Das könne die Behandlungsqualität beeinträchtigen.
Der Entscheid des Bundesgerichtes hat deshalb eine Signalwirkung. Seit Jahren streitet die Politik über die Frage, ob die freie Arztwahl eingeschränkt oder gar ganz abgeschafft werden soll. Mehrfach gab es politische Reformvorschläge, die darauf abzielten, die freie Arztwahl einzuschränken. Ein Beispiel hierfür ist die Managed-Care-Reform, die im Jahr 2012 zur Abstimmung kam. Diese Reform hätte die freie Arztwahl zugunsten von Managed-Care-Modellen eingeschränkt, wurde jedoch von der Bevölkerung abgelehnt.
2020 schlug der damalige Gesundheitsminister Alain Berset im Rahmen eines Gesetzespakets zur Kostendämpfung die Einführung von sogenannten obligatorischen Erstberatungsstellen vor. Damit wollte Berset dem Ärzte-Hopping einen Riegel vorschieben. Doch schon während der Vernehmlassung biss er auf Granit. Die Patientinnen und Patienten würden auf diese Weise bevormundet, lautete die Kritik an dessen Vorschlägen. Im Sommer hat der Bundesrat in einer Antwort auf einen Vorstoss erklärt, um das Anliegen einer verbesserten Koordination trotzdem aufzunehmen, würden im Rahmen des zweiten Massnahmenpakets zur Kostendämpfung Netzwerke zur koordinierten Versorgung diskutiert.
Versicherte sind an freier Arztwahl nicht mehr interessiert
Die Versicherten scheinen allerdings trotz dieser seit Jahrzehnten andauernden Auseinandersetzung an der freien Arztwahl immer weniger interessiert. Seit langem befindet sich das Standardmodell, das die freie Arztwahl beinhaltet, auf dem Rückzug. Weil sie damit Prämiengelder bis zu zwanzig Prozent einsparen können, entscheiden sich heute die meisten Versicherten für ein Hausarzt- oder ein HMO-Modell.
Über drei Viertel aller Versicherten (75,9 Prozent) haben sich heute einem solchen Modell angeschlossen. 2012 entschied sich dagegen noch fast die Hälfte aller Personen (44,9 Prozent) für die freie Arztwahl. Am Trend zu immer mehr Arztbesuchen ändert sich dadurch allerdings nichts: In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der Konsultationen in Praxen für Allgemeinmedizin und für Spezialmedizin konstant gestiegen. 4,5 Arztbesuche wurden 2022 pro Person und Jahr wahrgenommen – ein Drittel mehr als zwanzig Jahre zuvor.