Nur 7 Prozent der Straftatverdächtigen seien Asylsuchende, sagt der Justizminister. Er verteidigt seine Asylpolitik und die neue Schutzklausel mit der EU.
Herr Bundesrat, Deutschland könnte bald die Grenzen dichtmachen – nach dem mutmasslichen Anschlag durch einen Afghanen in München erst recht. Die abgewiesenen Asylsuchenden könnten bei uns an der Grenze landen. Haben Sie die Zollbeamten in Bereitschaft versetzt?
Meine Anteilnahme gilt den Opfern, die Tat verurteile ich in aller Form. Zuständig für Grenzkontrollen ist das Finanzdepartement. Bereits heute führt die Schweiz gezielt Kontrollen durch. Sollte Deutschland tatsächlich die Grenze dichtmachen, würden wir uns wehren, sollte dies den Grenzverkehr behindern. Bisher konnten wir dies dank unserem guten Verhältnis verhindern, obwohl Deutschland bereits seit zwei Jahren intensivierte Grenzkontrollen durchführt.
Die irreguläre Migration ist in Deutschland um 60 Prozent gesunken, seit das Land alle Grenzen systematisch kontrolliert. Trotzdem wehren Sie sich gegen ein solches Regime in der Schweiz. Wieso?
Die Fakten sind eindeutig: Der Rückgang der irregulären Migration in Deutschland hat mit den veränderten Migrationsströmen zu tun und nicht mit den Grenzkontrollen. Sonst wäre sie nicht gleichzeitig auch bei uns in der Schweiz zurückgegangen.
Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser sagt etwas anderes. Werfen Sie der Sozialdemokratin Symbolpolitik vor?
Mich interessiert die Evidenz. Wir haben im Sommer 2024 während der Fussball-EM in Deutschland und der Olympischen Spiele in Frankreich die Grenzkontrollen intensiviert. Unsere Analysen ergaben klar, dass sie die irreguläre Migration nicht beeinflusst haben. Um diese zu bekämpfen, müssen wir gezielt Schlepperbanden und die organisierte Kriminalität bekämpfen. Und die erwischen wir sicher nicht, indem wir auf der Autobahn Kontrollen durchführen, da braucht es andere Methoden. In diesem Bereich sind wir sehr aktiv, wir datieren entsprechende Abkommen mit Deutschland, Frankreich und Italien auf.
Wollen Sie die irreguläre Migration überhaupt bekämpfen? Letzte Woche sagten Sie gegenüber SRF, Zuwanderung sei kein Sicherheitsrisiko. Können Sie das erklären?
Es ist wichtig, Asyl-, Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik zu trennen. Fluchtmigration macht nur einen sehr kleinen Teil der Zuwanderung aus. Und lediglich 7 Prozent der Straftatverdächtigen sind Asylsuchende. Die innere Sicherheit müssen wir stärken, aber das können wir wirksamer machen als dadurch, dass wir Polizisten an die Grenzen stellen.
Der Nachrichtendienst warnt vor der Radikalisierung Jugendlicher im Bereich Jihadismus und Rechtsextremismus. Und Sie sagen, das habe nichts mit der Zuwanderung zu tun?
Kriminalität von Personen, die das Asylrecht zu Unrecht in Anspruch nehmen, ist ein Problem. Da sind wir dran. Bei allen Asylsuchenden machen wir immer auch eine Sicherheitsüberprüfung. Ein anderes Problem ist, wenn sich Menschen über das Internet radikalisieren. Auch dort setzen wir an. Letztes Jahr hatten wir den furchtbaren Fall in Zürich, wo ein Jugendlicher einen jüdischen Menschen angriff. Er war aber nicht im Asylverfahren, sondern schweizerisch-tunesischer Doppelbürger, ein Einwanderer der zweiten Generation. Seine Eltern waren keine Islamisten, sie waren nicht einmal religiös.
Wollen Sie damit sagen, dass eine Radikalisierung wie bei dem Jugendlichen in Zürich allen Schweizer Eltern passieren könnte?
Das könnte auch Personen ohne Migrationshintergrund treffen. Warum eine radikalisierte Person gewalttätig wird, ist eine komplexe Frage. Das soziale Umfeld sowie persönliche Veranlagung und Geschlecht sind zentrale Faktoren.
Beim Amtsantritt sagten Sie, Sie wollten ein Asylminister sein, der anpacke. Mittlerweile werfen Ihnen auch FDP- und Mitte-Politiker eine «linke Verweigerungshaltung» vor. Kantone und Gemeinden haben Mühe, alle Asylsuchenden unterzubringen und zu integrieren. Trotzdem schliessen Sie neun Bundesasylzentren. Wie geht das zusammen?
Die Entlastung ist real. Wir haben weniger Zuwanderung im Asylbereich. Letztes Jahr kamen rund 15 Prozent weniger Asylsuchende neu in die Schweiz, als wir erwartet hatten. Die Prognose für das laufende Jahr ist noch besser. Bei unserem wahrscheinlichsten Szenario rechnen wir mit etwa 24 000 Gesuchen. Klar, die Lage kann sich rasch ändern. Global sind immer noch so viele Flüchtlinge unterwegs wie nie zuvor. Aber wir sind in engem Austausch mit den Kantonen und Gemeinden und setzen gemeinsam Lösungen um.
Welche?
Der Bund entlastet auf Anweisung von mir die Kantone. Personen, die um einen Status S ersuchen und deren Gesuch voraussichtlich abgelehnt wird, bleiben nun in den Bundesasylzentren und werden nicht auf die Kantone verteilt.
Trotzdem haben die Kantone den Eindruck, dass der Bund seine Probleme an sie abschiebt.
Als ich ins Amt kam, stauten sich 16 000 hängige Asylgesuche. Diese Pendenzen haben wir auf 12 000 reduziert. Ausserdem schicken wir abgewiesene Asylsuchende schneller zurück. Im letzten Jahr haben wir die Rückführungen um 17 Prozent erhöht. Die Rückkehrrate liegt bei annähernd 60 Prozent. Damit sind wir europaweit ganz vorne dabei. Andere Regierungen rufen mich an und fragen, wie wir das machen. Mit den vielkritisierten 24-Stunden-Verfahren konnten wir in Zürich zum Beispiel die Übernachtungen in Asylzentren von Menschen aus dem Maghreb um gegen 40 Prozent reduzieren. Prompt gab es weniger Gewaltvorfälle. Unsere Politik ist erfolgreich. Das nützt auch den Kantonen.
Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere. Die Kritik an Ihrer Arbeit nimmt nicht ab.
Bis sich die Entlastung in den Kantonen bemerkbar macht, dauert es eine Weile. Und ich weiss von stark betroffenen Kantonen wie Tessin und Neuenburg, dass sie die Entlastung durchaus spüren.
Mittlerweile verlangt sogar die Wirtschaft eine schärfere Asylpolitik. Sie fürchtet, das Volk könnte wegen des Ärgers über den Asyldruck die 10-Millionen-Initiative der SVP annehmen, die auf die Kündigung der Personenfreizügigkeit abzielt. Teilen Sie als Europafreund diese Sorge?
Mich interessieren auch hier die Fakten. Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit könnte man denken, der grösste Teil der Einwanderer bestehe aus Asylsuchenden. Doch das ist nicht so: Letztes Jahr entfielen nur 6,8 Prozent auf den Asylbereich, 5 Prozent kamen aus der Ukraine, die restlichen 88 Prozent gingen in den Arbeitsmarkt. Hier ist die Wirtschaft der Treiber.
Das heisst: Sie haben keine Angst, dass die Bevölkerung wegen der Asylpolitik die SVP-Initiative annehmen könnte . . .
. . . meine Aufgabe ist nicht, Angst zu haben, sondern Lösungen zu bringen. Der Bundesrat hat ein Paket beschlossen, das die Herausforderungen der Zuwanderung adressiert.
Es ist durchgesickert, dass Sie die Initiative mit höheren Kinderzulagen, mehr Mieter- und Kündigungsschutz bekämpfen wollten. Dachten Sie ernstlich, dass Sie mit gewerkschaftlichen Anliegen im Bundesrat durchkommen?
Mein Auftrag war, eine Auslegeordnung zu machen. Daraus ergab sich eine gute Diskussion. Wir haben nun ein Paket, das von den Sozialpartnern unterstützt wird. Es setzt beim Wohnen, bei der Integration in den Arbeitsmarkt und im Asylbereich an.
Reicht das? Ihr Paket verspricht etwa einmal mehr eine bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Das klingt alles vage.
Wir haben das konkret mit der Arbeitsvermittlung angeschaut. Viele Qualifizierte arbeiten nicht. Wenn wir etwa Ehefrauen von Expats gezielt ansprechen, können wir 2000 bis 4000 Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren.
Das ist wenig bei einem Wanderungssaldo von 80 000 Personen oder mehr. Seit 2013 stieg die Einwohnerzahl um fast 10 Prozent auf über 9 Millionen. Hand aufs Herz: War das Wachstum nicht einfach zu stark?
Wir müssen der Bevölkerung erklären, dass die Nachhaltigkeitsinitiative unserem Wohlstand und unserer Sicherheit massiv schaden würde. Wir brauchen Zuwanderung. Die dreissig wirtschaftlich stärksten Länder der Welt haben alle einen Arbeitskräftemangel und sind zwingend auf Zuwanderung angewiesen. Aber klar: Wenn Migration zu schnell erfolgt und zu viele Menschen aufs Mal kommen, ist das nicht sozialverträglich und führt zu Herausforderungen. Das anerkennt der Bundesrat.
Also war die Zuwanderung in die Schweiz in den letzten Jahren zu stark?
Ich denke, das kann man so lesen. Deshalb hat die Skepsis zugenommen. Umfragen zeigen, dass sich die Bevölkerung nicht vor Überfremdung fürchtet, sondern vor Wohnungsmangel oder einer Überlastung der Verkehrsinfrastruktur oder der Sozialhilfe. Daher ist die neue Schutzklausel gegen eine übermässige Einwanderung aus der EU so wichtig.
Die Klausel ist Teil des neuen Vertragspakets mit der EU. Sie soll es erlauben, die Personenfreizügigkeit temporär einzuschränken. Bei Unstimmigkeiten entschiede ein Schiedsgericht, das aus je einem Vertreter der beiden Seiten und einer unabhängigen Person besteht. Der Bundesrat sagt, die Schweiz könne die Freizügigkeit autonom begrenzen, die EU spricht von einem bilateralen Instrument. Was stimmt?
Beides. Wir haben bilateral verhandelt, dass wir die Schutzklausel eigenständig anwenden können, um eine zu schnelle Zuwanderung zu bremsen. Über die genaue Umsetzung diskutieren wir derzeit im Bundesrat. Geplant ist, dass auch die Kantone die Aktivierung der Schutzklausel verlangen können.
Voraussetzung ist, dass die Schweiz «schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme» wegen der Zuwanderung nachweisen kann. Wie realistisch ist diese Beweisführung?
Wenn wir weiterhin eine so hohe Zuwanderung haben, gehe ich fest davon aus, dass die Schweiz die Schutzklausel aktivieren wird. Alles andere würde die Bevölkerung nicht akzeptieren. Das weiss auch die Wirtschaft: Je erfolgreicher sie ist, desto mehr Menschen kommen. Vielleicht fordert sie deshalb Massnahmen vor allem im Asylbereich. Aber man bekommt die Zuwanderung über Asyl nicht in den Griff, dafür ist der Anteil zu klein. Mit der Schutzklausel hingegen können wir die Zuwanderung einschränken, auch wenn die EU nicht einverstanden ist und auch das Schiedsgericht uns nicht recht gibt.
Aber dann kann die EU Gegenmassnahmen ergreifen . . .
. . . aber diese müssen verhältnismässig sein. Das ist ein grosser Fortschritt. Würden wir heute die Freizügigkeit begrenzen, könnte die EU beliebig reagieren, wo sie will, etwa bei der Forschung. Das wäre künftig nicht mehr möglich. Wir müssten immer noch einen Preis zahlen, aber dieser wäre berechen- und verkraftbar.
Wichtig für die Glaubwürdigkeit der Schutzklausel ist, wer im Streitfall entscheidet: Können Sie ausschliessen, dass das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof beiziehen muss?
Im Verhandlungstext kommt der Europäische Gerichtshof nicht vor. Er kommt nur zum Zug, wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht. Bei der Formulierung der Schutzklausel haben wir bewusst auf Begriffe des EU-Rechts verzichtet. Deshalb gehen wir davon aus, dass das Schiedsgericht keine Stellungnahme des Gerichtshofs einholen muss. Abschliessend entscheiden wird sowieso immer das Schiedsgericht. Dass wir der EU eine solche Schutzklausel abringen konnten, ist ein Erfolg.
Tatsächlich? Wie erklären Sie sich, dass die Unterstützung für das ganze Paket derart lau ist? Die Wirtschaft ist gespalten, auch der Bundesrat wirkt unentschlossen. Wie wollen Sie so die Bevölkerung überzeugen?
Wir müssen noch über die innenpolitische Umsetzung entscheiden. Erst dann kann die Debatte richtig beginnen. Die Verbände und Parteien wollen zuerst sehen, was genau auf dem Tisch liegt. Aber eines will ich jetzt schon betonen: Die EU ist uns weit entgegengekommen. Das ist eine riesige Chance für die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs. Wenn wir sie nicht nutzen, erodiert die Beziehung zu unserem wichtigsten Partner. Wie das herauskommt, sehen wir in Grossbritannien. Seit dem Brexit ist die Zuwanderung höher, und der Wirtschaft geht es schlechter.
Die Aussenpolitiker des Nationalrats empfehlen eine Abstimmung ohne Ständemehr. Wie sehr haben Sie gejubelt, als Sie davon hörten?
Als Justizminister halte ich das für die richtige Entscheidung. Das Bundesamt für Justiz ist zu dem Schluss gekommen, dass es keine Verfassungsgrundlage für ein obligatorisches Referendum mit Ständemehr gibt. Der Bundesrat kann aus politischen Gründen dennoch anders entscheiden, er hat sich noch nicht festgelegt.
Reden wir noch über Ihre Work-Life-Balance. Die Mitte sucht im Moment einen neuen Bundesrat. Alle vermeintlichen Favoriten haben aus privaten Gründen abgesagt. Sie haben Angst vor dem Stress oder der fehlenden Freiheit. Ist Ihr Job so schlimm?
Ich gehe jeden Morgen gerne ins Büro. Wir leben in einem Land, in dem die Institutionen und die Demokratie funktionieren. In diesen unsicheren Zeiten als Bundesrat dazu beizutragen, dass es der Schweiz auch in Zukunft gutgeht, ist eine unglaublich spannende Aufgabe.
Mittlerweile schreibt sogar die «Republik», Sie seien ohnmächtig. In Basel ist das Politisieren einfacher, der Stadtkanton ist reich und links. Fehlt Ihnen vielleicht der Machtinstinkt für Bern?
Wir sind in der EU-Frage weitergekommen, wir haben in der Asylpolitik Erfolg. Zudem bin ich stolz, dass ich eine Vorlage zum Schuldenerlass von Armutsbetroffenen ins Parlament und ein neues Opferhilfegesetz in die Vernehmlassung schicken konnte. Das sind meine Themen, ich bringe sie vorwärts.
Das bedeutet, Sie leiden als Sozialdemokrat nicht unter der angeblichen «Viererbande» der FDP- und SVP-Bundesräte?
Ich komme gut aus mit den anderen Bundesrätinnen und Bundesräten. Gestern sind wir Fondue essen gegangen, das war ein schöner Abend.