Als Diplomat in Budapest riskierte Carl Lutz vor 80 Jahren Laufbahn und Leben, um Menschen vor der Vernichtung durch die Nazis zu bewahren. Die Schweiz strafte ihn mit Ignoranz.
Die «Endlösung» wird nun auch in Ungarn Tatsache. Carl Lutz, der Vizekonsul der Schweizer Gesandtschaft in Budapest, bekommt es hautnah mit: «Im Frühling 1944 begannen sich die politischen Ereignisse zu überstürzen. Der Einmarsch der deutschen Armee löste politische und Juden-Verfolgungen aus. Die jüdischen Einwohner Budapests begannen in ‹Landsgemeindestärke› unsere Interessenvertretung zu belagern, eine Masse von Todespanik ergriffener Menschen.»
Zuvor haben sich die Juden in Ungarn in relativer, wenn auch prekärer Sicherheit befunden. Das Regime von «Reichsverweser» Miklos Horthy, das im Zweiten Weltkrieg mit den Achsenmächten paktiert, hat die jüdische Bevölkerung zwar schikaniert und diskriminiert, aber nicht verfolgt. Das ändert sich mit der Besetzung durch die Nazis. 750 000 Menschen müssen fortan den gelben Stern tragen. Und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der Logistiker des Holocausts, steht an der Spitze eines Spezialkommandos, das nur ein Ziel kennt: die Auslöschung der ungarischen Juden. Ab Mitte Mai 1944 werden innert weniger Wochen 437 000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager verschleppt und ermordet.
Und inmitten dieser Barbarei: der 49-jährige Carl Lutz, ein strenger, kontrollierter und korrekter Schweizer, der Idealtypus eines Beamten – der sich angesichts des Völkermords aber über alle Vorschriften und Konventionen hinwegsetzt, Laufbahn und Leben riskiert, um Tausende von Todgeweihten zu retten. Einzig seinem Gewissen verpflichtet – und der Würde des Menschen. Seine Aktion gilt als die grösste zivile Tat zur Rettung von Juden während des Zweiten Weltkriegs.
«Das Besondere am Fall Lutz», schreibt der Historiker Georg Kreis, «liegt vielleicht gerade in der Tatsache, dass sich ein eher gewöhnlicher Mensch nach einem ziemlich gewöhnlichen Werdegang plötzlich vor eine ausserordentliche Herausforderung gestellt sieht, diese annimmt, ja sie geradezu sucht, und dass der Rest des Lebens dann von dieser besonderen Erfahrung geprägt ist.»
Erfindung des Schutzbriefs
1895 wird Carl Lutz in Walzenhausen geboren, in Appenzell Ausserrhoden, über dem Bodensee gelegen. Er ist das zweitjüngste von zehn Kindern. Der Vater betreibt einen Steinbruch, hat Quader für das Bundeshaus geliefert, stirbt indes früh. Die Mutter ist Sonntagsschullehrerin in der Methodistengemeinde und muss die Familie fortan allein durchbringen. Es ist ein puritanisches Leben. An ein Studium ist aus finanziellen Gründen nicht zu denken, also absolviert Lutz eine kaufmännische Ausbildung in einer Stickerei-Exportfirma in St. Margrethen. Danach zieht es ihn 1913 – ohne Geld und Beziehungen – nach Amerika, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Er schuftet in einer Fabrik, studiert und findet als Aushilfskraft den Einstieg in die Diplomatenwelt, arbeitet in mehreren Schweizer Vertretungen in den USA, unter anderem in Washington. Auf dem Konsulat in St. Louis lernt er seine künftige Ehefrau kennen, Gertrud Fankhauser, eine Sekretärin. Mit ihr will er auf einen Posten in Europa wechseln. Doch 1935 wird gerade «ein routinierter Beamter mit guten Englischkenntnissen» in Palästina benötigt: «Die Wahl fiel leider auf mich», erinnert sich Lutz später.
Die Jahre in Jaffa werden von entscheidender Bedeutung für das, was in Budapest folgen sollte. Zum einen erleben Carl und Gertrud Lutz den Hass gegenüber den Juden, die vor den Nazis nach Palästina geflüchtet sind und dort Angriffen von Arabern ausgesetzt sind. Von ihrer Wohnung aus müssen sie einmal tatenlos zusehen, wie zwei Juden «wie in biblischen Zeiten zu Tode gesteinigt» werden. Zum anderen vertritt die neutrale Schweiz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Interessen deutscher Reichsangehöriger in Palästina. Lutz bringt zum Beispiel die Konsulatsbeamten ausser Landes, was seinen guten Ruf bei den Deutschen zementiert.
Anfang 1942 tritt er den Posten in Budapest an, als Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft», zuständig für rund ein Dutzend Staaten, die sich mit Ungarn im Krieg befinden. In diesem «Paris des Ostens» lebt es sich noch vergleichsweise gut, Lutz ist ein angesehener Diplomat, residiert feudal. Seine Aufgabe ist höchst anspruchsvoll – und wird es nach dem Einmarsch und dem «hemmungslosen Deportationsfuror» der Deutschen (so der Historiker Krisztian Ungvary) noch mehr.
«Mich beschäftigte ständig die Frage, wie ich den Leuten helfen könnte, ohne bei der akkreditierten Regierung Persona non grata zu werden. Ich sann nach einem legalen Weg, die schützende Hand über die immer grösser werdenden Massen halten zu können», schreibt Lutz später.
Die Lösung, die ihm schliesslich einfällt, ist so gewagt wie genial: die massenhafte Ausstellung von Schutzbriefen. Lutz handelt ohne Rückendeckung aus Bundesbern. Er täuscht die ungarischen Behörden und deutschen Besatzer, bewahrt in brenzligen Situationen kühles Blut, entwickelt unternehmerische Qualitäten – und erhält bei Juden einen geradezu messianischen Ruf.
Wettlauf gegen die Zeit
Als Vertreter der Interessen Grossbritanniens hat der Schweizer schon Bewilligungen für Juden zur Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina ausgestellt, als eine Ausreise aus Ungarn noch möglich war. Nun verhandelt er wochenlang mit diversen Regierungsämtern, aber auch mit SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer und Adolf Eichmann: Lutz erreicht, dass er ein bereits von Grossbritannien bewilligtes Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikaten an jüdische Schutzsuchende ausstellen darf. Damit diese in Budapest vor Erschiessungen oder dem Abtransport in Vernichtungslager sicher sind, stellt er ihnen sogenannte Schutzbriefe aus und erfasst sie zudem in einem kollektiven Auswanderungspass – beides mit dem offiziellen Stempel der Schweizer Gesandtschaft versehen.
Lutz stellt also ungarische Juden unter den Schutz der Schweiz, «ohne einen administrativen Apparat, ohne finanzielle Mittel und ohne amtlichen Auftrag». Dafür mit einer stattlichen Zahl an Helfern aus Mitarbeitern der Gesandtschaft und Mitgliedern des zionistischen Widerstands. Eine zentrale Rolle spielt seine Ehefrau Gertrud. Aber auch andere Diplomaten wie der Schweizer IKRK-Delegierte Friedrich Born, der Schwede Raoul Wallenberg und der päpstliche Nuntius Angelo Rotta folgen seinem Beispiel, stellen ihrerseits Schutzbriefe aus. Die Rettung der ungarischen Juden ist ein Gemeinschaftswerk. Und es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Die bewilligte Zahl von 7800 «Einheiten» überschreitet Lutz um ein Vielfaches und argumentiert, es seien Familien gemeint, nicht Einzelpersonen. Damit der Schwindel nicht gleich auffliegt, werden die Schutzbriefe immer wieder neu von 1 bis 7800 nummeriert. Doch allein bieten sie zu wenig Sicherheit. Lutz erreicht in Verhandlungen mit dem ungarischen Aussenminister, dass 76 Häuser laut Exterritorialitätsrecht unter Schweizer Obhut gestellt wurden, unter ihnen das sogenannte Glashaus, das zeitweise 3000 verfolgte jüdische Menschen beherbergt. Zusammen mit den Gebäuden, die unter diplomatischem Schutz Schwedens stehen, sind es in Budapest schliesslich 100 «Judenhäuser», die mit einem gelben Stern versehen sind.
Bald zirkulieren auch Fälschungen dieser «Lebensrettungszertifikate» (Lutz). Die ungarischen Behörden drohen bereits, alle Juden in Gewahrsam zu nehmen. Diplomaten wie Lutz werden gezwungen, echte Schutzpässe von falschen zu unterscheiden. Er schreibt: «Ich bin mit meiner Frau einmal vier Stunden in Schnee und Eis in der berüchtigt gewordenen Ziegelei in Obuda gestanden und habe diese traurige Arbeit der Ausscheidung der Schutzbriefe vorgenommen. Herzzerreissende Szenen spielten sich ab. Fünftausend dieser unglücklichen Menschen standen in Reih und Glied, frierend, zitternd, hungernd, mit armseligen Bündeln beladen, und streckten mir ihre Briefe entgegen. (. . .) Für uns war es eine seelische Tortur, diese Aussonderung vornehmen zu müssen. Noch heute muss ich mich fragen, wie viele wir vielleicht ins Verderben geschickt haben, nebst denen, die wir retten konnten.»
«Haben Sie was zu verzollen?»
Als gesichert gilt, dass über 60 000 Jüdinnen und Juden dank Carl Lutz den Holocaust überleben. Das hat auch mit der Roten Armee zu tun, die Budapest im Dezember 1944 einkesselt und die Deutschen nach wochenlangen Kämpfen vertreibt. Carl Lutz bleibt auf seinem Posten, im Bunker unter der bombardierten britischen Botschaft, im «nassen, ungeheizten Keller, oft ohne Kerzenlicht und Wasser, bei knappster Verpflegung». Er will die «vielen tausend Menschen in den geschützten Häusern» nicht im Stich lassen. Nach Bern schreibt er: «Gottlob haben meine Nerven bis jetzt Stand gehalten. Es ist erstaunlich, was der Mensch auszuhalten vermag, wenn es die Situation erfordert.»
Im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten Harald Feller und dem Schweden Raoul Wallenberg wird er immerhin nicht von den Russen inhaftiert und nach Moskau verschleppt. Gesundheitlich schwer angeschlagen, kehrt er im Frühjahr 1945 in die Schweiz zurück, «wo wir nach sechs Wochen dauernder Reise um Mitternacht ankamen und den Dank und Gruss der Heimat entgegennahmen, der da lautete: ‹Haben Sie was zu verzollen?›»
Doch die «bitterste Enttäuschung seiner Beamtenlaufbahn» sollte noch kommen. Weder wird er zur Berichterstattung über die Zeit in Budapest vorgeladen, noch spricht man ihm einen Dank aus. Die Ignoranz und der Kleingeist der Schweizer Behörden zeigen sich auch 1949, als Carl Lutz zwei Kollektivpässe aus Budapest, die er dem Archiv übergeben hat, nochmals ansehen möchte. Im negativen Bescheid heisst es: Die Polizeiabteilung sei zum Schluss gekommen, «dass die Bezeichnung der betreffenden Ausweispapiere als schweizerische Kollektivpässe nicht statthaft war» und «dass eine Kompetenzüberschreitung Ihrerseits vorgelegen habe».
Lutz macht im diplomatischen Dienst keine grosse Sprünge mehr und wird 1961 als Konsul von Bregenz pensioniert. Die NZZ schreibt: «Sein Name ist verknüpft mit einem Rettungswerk, das (. . .) als ein Ruhmesblatt in die Annalen schweizerischer Hilfstätigkeit eingehen wird.» Doch geehrt wird Lutz primär im Ausland: In Haifa wird eine Strasse nach ihm benannt (1958), in Deutschland erhält er das Grosse Bundesverdienstkreuz (1962), und in Yad Vashem wird er als «Gerechter unter den Völkern» ausgezeichnet (zusammen mit der seit 1946 von ihm geschiedenen Frau Gertrud).
Die Frage der Nichtanerkennung seiner Leistungen in der Schweiz wird immer mehr zu einer «persönlichen Obsession», die ihn verbittert: «Sie ging so weit, dass er auf den Friedensnobelpreis aspirierte», schreibt sein Biograf Theo Tschuy. Auch andere problematische Züge sind heute bekannt. So hat sich Lutz, der mit aller Kraft gegen den Rassenwahn der Nazis eintrat, noch in den 1950er Jahren über Schwarze rassistisch geäussert und die Segregation in den USA und Südafrika begrüsst.
1975 stirbt er an einem Herzinfarkt, «plötzlich und unerwartet», kurz vor seinem 80. Geburtstag. Der israelische Botschafter nimmt an der Abdankung auf dem Berner Bremgartenfriedhof teil, die ungarische und die amerikanische Botschaft lassen Kränze niederlegen. Das Schweizer Aussendepartement schickt einen konsularischen Adjunkten, der Bundesrat weder einen Kranz noch ein Beileidstelegramm.
Die Landesregierung entdeckt Carl Lutz erst später – und nicht zufällig in einer Phase, als die Schweiz wegen der «Schatten des Zweiten Weltkriegs» international unter Druck ist. Aussenminister Flavio Cotti würdigt den Schweizer Judenretter 1995 offiziell als einen «stillen, aber grossen Helden». Und er zitiert einen Satz von Carl Lutz, der von zeitloser Dringlichkeit bleibt: «Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, das die Gesetze verletzt, um zu retten.»