Die Verurteilung des Fussballstars ist ein Präzedenzfall und wird von der Politik gefeiert. Doch das Strafmass ist eher glimpflich – und Alves’ Verteidigerin will in Berufung gehen.
Am Tag des Urteils hat sich vor dem Provinzgericht Barcelona eine grosse Traube aus Reportern gebildet. Entlang der Promenade zwischen Triumphbogen und Stadtpark flanieren Touristen oder treffen sich Senioren zum Pétanque.
Hin und wieder erkundigt sich einer nach dem Stand der Dinge, doch auf Huldigungen wie einst bei Lionel Messi an gleicher Stelle während seines Steuerverfahrens wird im Falle seines einstigen Barça-Mitspielers Dani Alves ebenso verzichtet wie auf Bekundungen von Mitgefühl. Nicht für einen überführten Vergewaltiger.
Das Gericht macht strafmildernde Umstände geltend
Um zehn nach zehn Uhr ergeht der Rechtsspruch: Das Tribunal sieht als erwiesen an, dass Alves in der Nacht zu Silvester 2022 eine damals 23-jährige Frau «abrupt gepackt, auf den Boden geworfen und unter Hinderung ihrer Bewegungsfähigkeit vaginal penetriert hat, obwohl sie ‹Nein› sagte und sagte, dass sie gehen wolle».
Für die Tat in einem separierten Bad des VIP-Bereichs in der Diskothek Sutton wird Alves zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Sowie zu anschliessenden fünf Jahren Freiheitsüberwachung und insgesamt neuneinhalb Jahren Verbot der Näherung an das Opfer. Und schliesslich muss Alves dem Opfer 150 000 Euro Entschädigung bezahlen und die Kosten des Prozesses übernehmen.
Die Geldstrafe ist das geringste Problem für den nach Messi mit 43 Titeln zweiterfolgreichsten Profi der Fussballgeschichte. Bis auf eine Weltmeisterschaft hat der brasilianische Rechtsverteidiger Alves, 40, alles gewonnen. Und auch wenn ihm seit der Einweisung in Untersuchungshaft im Januar 2023 sein Klub Pumas in Mexiko und die Sponsoren abhandenkamen – er hatte diese 150 000 Euro schon vor Prozessbeginn und unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zugunsten der Klägerin deponiert. Dieser vermeintlich banale Vorgang verschont ihn nun von einem härteren Urteil. «Er drückt einen Reparationswillen aus, der als strafmildernd zu betrachten ist», heisst es in den Ausführungen der 21. Kammer.
Die Staatsanwaltschaft hatte neun Jahre Haft gefordert, das Opfer als Nebenklägerin das gesetzliche Höchstmass von zwölf Jahren. Dennoch zeigt sich einer ihrer Rechtsvertreter zunächst einmal «zufrieden», als er nach Verlassen des Gerichts an der nächsten Strassenecke fast unter Mikrofonen und Kameras begraben wird. «Es ist eine Strafe, die die Wahrheit des Opfers und ihr Leid anerkennt», sagt David Sáez. Ob seine Seite in Berufung gehe, müsse noch entschieden werden.
Dani Alves’ Verteidigerin kündigt an, in Berufung zu gehen
Das Einlegen von Rechtsmitteln bereits beschlossen hat hingegen Alves’ Verteidigerin Inés Guardiola. «Das kann ich euch schon sagen», erklärt sie dem Pulk: «Wir glauben weiterhin an die Unschuld von Herrn Alves.» Am Nachmittag werde sie ihn besuchen, um das Vorgehen zu besprechen. «Er kennt das Urteil, und er ist gefasst», versichert Guardiola. Die Boulevardmedien hatten in den letzten Tagen unter Bezug auf Quellen im Gefängnis berichtet, dass in der Strafanstalt Brians II das Anti-Suizid-Protokoll aktiviert worden sei, weil der Star seit dem Prozess vor zwei Wochen sehr deprimiert wirke. Da er bereits seit einem Jahr inhaftiert ist, könnte Alves bei guter Führung – und Bestätigung des Urteils – schon ab Juli gelegentlichen Freigang beantragen und ab April 2025 auch solchen über Nacht.
Und doch sass wohl noch nie ein derart prominenter Fussballer wegen eines Sexualdeliktes so lange im Gefängnis. Alves’ Landsmann Robinho wurde zwar in Italien für eine Gruppenvergewaltigung zu neun Jahren Haft verurteilt. Er widersetzt sich dem Zugriff der Behörden allerdings dadurch, dass er in Brasilien bleibt – sein Heimatland liefert Staatsbürger nicht aus. Wegen der somit auch in Alves’ Fall besonders virulenten Fluchtgefahr waren bisher sämtliche von seinen Anträgen auf Entlassung unter Kaution abgelehnt worden.
Seine Anwältin Guardiola konnte mit dem relativ glimpflichen Urteil einen Teilerfolg verbuchen. Ein Freispruch schien nach dem Prozessverlauf kaum möglich, zu kohärent wirkten die Schilderungen des Opfers über den Tathergang, zu eindeutig wurden sie von Gutachtern und Zeugen gestützt – während Alves seit seiner Festnahme fünf verschiedene Versionen der Vorgänge präsentiert hatte. Es könne «keine Zweifel» geben, dass eine Vergewaltigung stattgefunden habe, resümierte das Gericht. Dafür sprächen insbesondere die Verletzungen der Frau an den Knien, ihr Schockzustand nach dem Verlassen des WC und die psychologischen Spätfolgen bis zum heutigen Tag.
Dass allein Alves’ Kompensationszahlung das Strafmass nah an die gesetzliche Mindestanforderung von vier Jahren gerückt hat, erscheint trotz der Behauptung des Gerichts schwer vorstellbar. Guardiolas Nebenstrategie der Schadensbegrenzung mag zwar insofern nicht aufgegangen sein, als das Tribunal eine unter grossem Zeugenaufwand dargelegte Trunkenheit des Brasilianers nicht als hinreichend für eine verminderte Verantwortungspflicht akzeptierte. Wohl aber gelang es der Verteidigung, die Ausführungen des Opfers in Bezug auf die Behauptung zu dekonstruieren, es sei schon seit Beginn der flüchtigen Disco-Bekanntschaft von Alves angewidert gewesen. «Punktuelle Defizite in der Darstellung über das Geschehen vor Betreten der sogenannten Suite» monierte das Gericht.
Es gab wohl einen Flirt, einen gemeinsamen Tanz, sogar anzügliche Berührungen – und in früheren Zeiten hätte das Alves womöglich zu einem Freispruch gereicht. Doch das Verfahren gilt nicht nur wegen seiner Fussballerprominenz in Spanien als Prozess des Jahres – sondern auch, weil es der erste grosse Fall ist nach einer Strafrechtsreform von 2022, die unter dem Namen «Solo sí es sí» («Nur Ja heisst Ja») bekannt wurde. Vorangegangen war damals eine Rudelvergewaltigung in Pamplona, bei der die Täter nur wegen «sexuellen Missbrauchs» verurteilt wurden, weil sich das Opfer gegen einen «Angriff» nicht genug gewehrt habe. Eine Protestwelle in der Bevölkerung führte dann zur Reform.
Der Urteilsspruch von Barcelona kann nun als Muster ihrer Anwendung gelten. Damit ein sexueller Übergriff vorliege, sei «kein heroischer Widerstand des Opfers erforderlich», heisst es in der Begründung. «Die Zustimmung kann nicht nur jederzeit widerrufen werden, es ist auch erforderlich, dass sie zu jeder Variante während eines sexuellen Stelldicheins erfolgt.» Vorherige Annäherungen ergäben ebenso wenig eine Carte blanche wie vermeintlich kokette Andeutungen oder sogar bereits begonnene sexuelle Handlungen – wenn eine bestimmte Form des Geschlechtsverkehrs nicht gewünscht werde.
Der Fall ist ein Erfolg im Kampf gegen sexuelle Gewalt
Vonseiten der spanischen Regierung äusserte die Vizechefin und Arbeitsministerin Yolanda Díaz schon wenige Minuten nach dem Urteil die Hoffnung, dass es als «beispielhaft» im Kampf gegen «alle machistischen Verhaltensformen» begriffen werde. Mit «Se acabó» («Aus und vorbei») nutzte sie auch einen feministischen Slogan, den die spanischen Nationalspielerinnen in ihrem Kampf gegen den übergriffigen früheren Fussballverbandspräsidenten Luis Rubiales bemüht hatten, um ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen.
Als Erfolg im Kampf um mehr Sensibilität gegenüber sexueller Gewalt gilt der Fall Alves schon seit dem Tatabend. Die Schutzprotokolle der Disco funktionierten, die Mitarbeiter ermutigten das Opfer zu einer Anzeige. Ursprünglich wollte die Frau das unterlassen, «weil mir sowieso keiner glauben wird». Frauen wissen nun, dass sie nicht alleine sind – so prominent ihr sexueller Peiniger auch sein mag und sosehr er sich mit dem klassischen Argument des Einvernehmens verteidigt.
Gleichzeitig hat Alves von dem Gesetz «Solo sí es sí» ironischerweise auch profitiert. Indem die Gesetzesreform die Anforderungen an das Vorliegen eines Sexualdelikts modifizierte, wurde ab Oktober 2022 auch das Mindeststrafmass von sechs auf vier Jahre heruntergesetzt. Erst nach neuerlichen Protesten wurde es im April 2023 wieder auf sechs Jahre angehoben. Die Nacht im Sutton fiel exakt in die Zwischenzeit.