Der SP-Co-Präsident kann sich vorstellen, dass die Schweiz dereinst Friedenstruppen in die Ukraine schickt. Ein Gespräch über die Verteidigung der Schweiz und den «Staat im Staat» im VBS.
Herr Wermuth, in diesen Tagen beginnt Martin Pfister als Verteidigungsminister. Wie konnte es so weit kommen, dass ein Mitte-Politiker aus dem Kanton Zug der Hoffnungsträger der Sozialdemokratie ist?
Ein Hoffnungsträger? Sie fangen ja gut an.
Sie haben ihn grossmehrheitlich gewählt und hoffen, dass er die SVP-FDP-Vierermehrheit im Bundesrat sprengt.
Ich muss zugeben, dass ich positiv überrascht bin von Martin Pfister. Als ich seine ersten Interviews las, war er noch sehr weit weg von Bundesbern. Aber er hat sich schnell in die Dossiers eingearbeitet, ist unaufgeregt, hört zu, was eine seltene Qualität in der Politik ist. Er ist ein Vertreter des aufgeklärten Bürgertums. Aber die SVP-FDP-Vierermehrheit bleibt. Unsere Sorge war, dass es künftig eine Fünfermehrheit geben könnte.
Ihre beiden SP-Bundesräte sind einfach wenig durchsetzungsstark. Das war früher mit Alain Berset und Simonetta Sommaruga anders.
Mein Eindruck ist, dass Elisabeth Baume-Schneider und Beat Jans ihren Job sehr gut machen. Die Konstellation ist entscheidend, also die Departementsverteilung. Der Verlust des wichtigen Uvek hat uns Einfluss gekostet. Und Karin Keller-Sutter ist eine Finanzministerin, die mehr als ihre Vorgänger den Anspruch hat, den anderen Bundesräten reinzureden – oder neutral formuliert: via Finanzen deren Politik zu beeinflussen.
Warum hat die SP nicht das VBS übernommen?
Die bürgerliche Herrschaft in der Schweiz hat zwei goldene Regeln: Ein Sozialdemokrat wird nie Verteidigungsminister. Und ein SP-Präsident wird nie Bundesrat. Aber wir hätten das VBS auch nicht gewollt. Beat Jans hat als Justizminister eine wichtige Rolle für die Stabilisierung unserer Beziehungen zu Europa und ist Garant für das Recht auf Asyl.
So bleiben Sie der ewige Kritiker, ohne Verantwortung für die Landesverteidigung zu übernehmen. Das VBS bezeichnen Sie gar als «Staat im Staat».
Ich habe mich bei Vorgängern von Martin Pfister umgehört. Es gibt im VBS offenbar kaum durchdringbare Machtstrukturen. Einer formulierte es so: «Man lügt dich nicht an, aber man sagt es dir auch nicht, wenn du nicht danach fragst.» Die Gefahr, dass man als Bundesrat vom Departement geführt wird, ist im VBS besonders hoch. Ich hoffe, dass Martin Pfister das durchschaut. Er kennt sich als Oberst ja mit militärischen Strukturen aus.
Aber wo genau sehen Sie einen «Staat im Staat»?
Wenn das VBS die Evaluation eines Jets so gestaltet, dass nur der F-35 als Sieger hervorgehen kann, dann ist die Departementschefin dem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Jetzt wollen Sie den F-35 verhindern – trotz unterschriebenen Verträgen.
Das ist die einzige Lösung. Wir haben den Typenentscheid schon immer kritisiert. Aber jetzt ist die Ausgangslage nochmals klarer: Unter Präsident Trump sind die USA kein verlässlicher Partner. Und seine Maga-Bewegung wird nicht so schnell verschwinden. Wir bleiben mit dem F-35 komplett abhängig und zahlen jetzt schon jährlich 700 Millionen Franken, ohne dass wir nur eine Schraube sehen.
Was verlangen Sie konkret von Bundesrat Pfister, den die SP ins Amt gewählt hat?
Herr Pfister wurde vom Parlament gewählt! Von ihm erwarte ich, dass er sich für eine substanziellere und konsequentere Unterstützung der Ukraine einsetzt. In der Ukraine wird um die Sicherheit Europas gekämpft. Wir sind ein neutraler Staat, und daran ist auch festzuhalten. Aber die Schweiz soll aktiv der neuen Koalition unter Präsident Macron und Premierminister Starmer ihre Hilfe anbieten. Nicht mit Waffen, aber mit Geld für den Wiederaufbau. Das wird eine kolossale Aufgabe. Wir haben 5 Milliarden Franken für die nächsten zehn Jahre zugesagt – das Doppelte wäre angemessen, mindestens.
Der Bund muss sparen. Woher nehmen Sie das Geld?
Man müsste nur die gesperrten Gelder der russischen Zentralbank und der Oligarchen einziehen. Von Martin Pfister erwarte ich zudem eine klare Orientierung nach Europa, auch sicherheitspolitisch, gerade angesichts der Machtpolitik von Trump. Und die neutrale Schweiz muss zur Chefanwältin des Völkerrechts werden. Es gibt langfristig nur Horrorszenarien, wenn wir keine Ordnung mehr haben, in der das Recht vor der Gewalt kommt.
Sie haben die Hilfe beim Wiederaufbau erwähnt. In Ihrer Partei gibt es auch Stimmen, die den Export von Kriegsmaterial ermöglichen wollen.
Die Ukraine muss auch militärisch mit allem unterstützt werden, was sie braucht. Aber die Systeme, die gebraucht werden, kommen nicht aus der Schweiz. Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Grossbritannien sind gefragt. Die Schweiz soll sich auf das konzentrieren, was sie kann. Sie soll vor allem finanziell mehr beitragen. Vielleicht können wir uns dereinst an Friedenstruppen wie in Kosovo beteiligen. Dafür sind wir offen.
Der SP traut man nicht. Im Parteiprogramm ist die Armeeabschaffung weiter als Ziel definiert.
Das musste von der NZZ ja kommen. Ich war gerade in der Ukraine und habe gesehen, was der Krieg anrichtet. Ich halte an der Vision einer friedlichen Welt fest, in der es keine nationalstaatlichen Armeen mehr braucht. Wer völkerrechtswidrig angegriffen wird, darf sich aber natürlich militärisch verteidigen.
Sie verharmlosen. Es war der SP sehr ernst damit, als sie 2010 die Armeeabschaffung ins Parteiprogramm nahm.
Im Programm steht, dass die Abschaffung das Ziel sei, aber vorderhand um- und abgebaut werden müsse.
Roger Nordmann, der ehemalige Fraktionschef der SP, will die Armeeabschaffung streichen. Sie mache die Sozialdemokratie unglaubwürdig. Die Schweiz müsse sich verteidigen können, wenn sie angegriffen werde.
Wer sieht das nicht so?
Das heisst, Sie stehen bedingungslos hinter der militärischen Landesverteidigung? So wie der SP-Präsident Helmut Hubacher im Kalten Krieg?
Bedingungslos stehe ich hinter gar nichts, nicht einmal hinter der SP. Ich bin für eine sinnvolle Ausrichtung der Schweizer Armee auf realistische Bedrohungsszenarien. Im Moment rüsten wir aber zuerst auf, und erst nachher will man sich eine Strategie einfallen lassen. Das ist doch absurd. Zuerst muss klar sein, welchen Teil wir zur europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen und was es überhaupt braucht. Es ist unverantwortlich, Steuermilliarden in ein schwarzes Loch zu werfen. Selbst der FDP-Präsident Thierry Burkart sagt, es brauche zuerst eine Strategie.
Aber ohne zusätzliches Geld für die Armee werden wir nicht sicherer.
Wenn das so ist, dann sollte man so ehrlich und bereit sein, für Investitionen auch Schulden aufzunehmen. Das geht weit über die Armee hinaus. Es braucht jetzt auch Investitionen in den Klimaschutz und die Gleichstellung, genauso wie in die Sicherheit. Deutschland macht das vor. In der Schweiz ist die Schuldenbremse für die Rechten aber immer noch ein ideologisches Tabu, im Parlament wie bei der NZZ. Aber das Problem lösen wir sowieso nur gesamteuropäisch.
Wie meinen Sie das?
Es geht längst nicht nur um die bilateralen Beziehungen mit der EU. Die geopolitische Lage hat dazu geführt, dass wir unser Verhältnis zu Europa schnellstmöglich stabilisieren sollten. Aber wir müssen darüber hinaus endlich unseren Beitrag leisten zur Verteidigung des demokratischen, sozialstaatlichen Europa.
Sie wollen europäische Streitkräfte mitfinanzieren?
Ich bin dagegen, dass jeder Nationalstaat für sich aufrüstet. Aber im europäischen Rahmen finde ich es nachvollziehbar, wenn die Aufrüstung klar auf Verteidigung ausgerichtet ist. Letztlich profitieren auch wir von diesem Schutz Europas. Was umso dringlicher ist, jetzt, da sich Amerika aus der Nato verabschiedet.
Ihr Europa gibt es gar nicht.
Noch zu wenig. Darum ringen wir ja gerade.
Die 27 Staaten der EU, die so verschieden und mit sich selbst beschäftigt sind, sollen sich international gemeinsam engagieren?
Die Ukraine-Krise hätte zu einer stärkeren politischen Union führen sollen, aber das ist nicht passiert. Ich hoffe, das kommt noch. Jetzt setzt sich die Erkenntnis zuerst im militärischen Bereich durch. Das macht die Frage umso dringlicher, wer die militärischen Aktivitäten politisch kontrolliert. Ich hoffe, dass die EU ihre politischen Strukturen stärkt.
Sie reden nur noch von europäischen Kooperationen. Freihandelsabkommen mit Amerika, China, Indien finden Sie schwierig.
Es kommt immer auf die Ausgestaltung an. Trump setzt auf einen nationalistischen Protektionismus. Die Antwort darauf kann nicht noch mehr Freihandel ohne Regeln sein. Die richtige Antwort ist eine gerechte Welthandelsordnung. Mir geht es um Abkommen, in denen nicht wie bei Indien die Menschenrechte nur am Rand vorkommen.
Aber wären Sie offen für ein Freihandelsabkommen mit Amerika?
Wir sollten nicht hinter dem Rücken von Europa mit allen Business machen. Jetzt Verhandlungen mit dem Trump-Regime anzufangen, ist nicht nur eine Provokation für Europa, wo unsere politische und wirtschaftliche Loyalität liegt. Sondern auch völlig unverantwortlich.
Sie kritisieren den Bundesrat scharf, auch die Reise von Staatssekretärin Helene Budliger Artieda nach Washington: als «Herankuscheln an Trump».
Wir hören seit drei Jahren, dass Putin nur Härte versteht. So ist es auch bei Trump. Diese Regierung stellt offen die territoriale Integrität von Europa infrage. Das kann keine Basis sein für freundliche Diskussionen. Die Schweiz muss eine europäische Strategie wählen.
Betreibt der Bundesrat nicht einfach Realpolitik eines Kleinstaats?
Das ist die Begründung – dass die Schweiz mit diesem Opportunismus immer gut gelebt habe. Aber wir sehen jetzt, zu welchem Preis: Der Opportunismus, dass russische Rohstoffhändler in Zug unbehelligt geschäften und der Kreml damit seine Armee aufrüsten konnte, kostet Menschen in der Ukraine ihr Leben. Das müssen auch die Bürgerlichen endlich einsehen.
Sie haben neulich gesagt, es sei zunehmend schwierig, mit den Bürgerlichen zusammenzuarbeiten.
Ja.
Zuletzt waren Sie bis und mit FDP einig, dass es keinen Gegenvorschlag zur Nachhaltigkeitsinitiative der SVP geben soll.
Die klare FDP-Haltung ist eine positive Überraschung.
Beim Lohnschutz gibt es einen Sozialpartner-Kompromiss.
Der aber von gewissen FDPlern schon wieder angegriffen wird.
Wo spüren Sie die Schwierigkeiten konkret?
In der populistischen Asyldebatte oder wenn die Europäische Menschenrechtskonvention infrage gestellt wird. Wir sehen es bei einer Finanzpolitik, die für eine planlose Aufrüstung ein asoziales Abbauprogramm in Kauf nimmt. Bei einer absolut ideologischen Blockade in der Frage der Schuldenbremse. Oder der Bankenregulierung.
Das war immer die linke Kritik an der bürgerlichen Schweiz.
Vielleicht war es eher so, dass es in der vergangenen Legislatur eine erstaunliche Offenheit gab. Wir haben Dinge durchgebracht, die noch kurz davor undenkbar waren: etwa das revidierte Sexualstrafrecht.
Sie gewinnen laufend Abstimmungen – und sagen dann, in der Schweiz herrschten trumpsche Zustände.
Achtung: Im Parlament herrschen trumpsche Zustände, die Bevölkerung korrigiert. Die Grundlagen unserer Demokratie werden von der SVP etwa beim Asylrecht offen angegriffen. Jetzt klingen zunehmend auch die Communiqués der FDP wie ein billiger Abklatsch davon. Das macht mir grosse Sorgen.
Also bitte.
Nehmen Sie die Kampagne gegen die Juso-Erbschaftssteuer – unter dem Titel der «Enteignung». Was Freisinnige vor wenigen Jahren noch selbst propagiert haben, wird jetzt als Kommunismus hingestellt: Was ist das anderes als Trumpismus? Natürlich erleben wir von rechts eine krasse Entwicklung in Richtung dauernde Kampagnenlogik.
Die SP funktioniert doch schon seit Jahren in Kampagnenlogik.
Wo haben wir nicht Hand geboten für eine sinnvolle Lösung? Wir sind wirklich sehr pragmatisch unterwegs und tragen alles mit, was irgendwie gangbar ist.
Kürzlich sagten Sie: «Fuck you, Mr. Trump.»
Ist das populistisch?
Sie finden die Formulierung nach wie vor gut?
Ich finde es sehr ungut, dass es nötig war. Aber es war nötig. Nach dem Selenski-Rauswurf aus dem Weissen Haus begann eine Art Sportberichterstattung: Was hätte Selenski anders machen müssen? Da fand ich: Halt, stopp. Was in Washington passiert, ist ausserhalb des Akzeptablen. Das ist nicht mehr normal, das sind Neofaschisten. Offensichtlich hat es meine Worte gebraucht, um diese Diskussion führen zu können.
Sie dachten nie, es könnte stillos sein als Co-Präsident der zweitstärksten Bundesratspartei im Land?
Es ist ja die Wahrheit – was soll man diesem Typen anderes sagen?
Es ist Trump wohl egal, was Sie sagen.
Zugegeben, er wird nicht schlechter geschlafen haben.