Der umstrittene Ariel Henry kann angesichts der Gewaltwelle derzeit nicht nach Haiti zurückreisen. Internationale Bemühungen, eine Eingreiftruppe unter der Führung Kenyas aufzustellen, verzögern sich.
Die Lage im krisengeschüttelten Haiti spitzt sich weiter zu. Nachdem bewaffnete Banden am Wochenende Tausende von inhaftierten Kriminellen befreit und weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince unter ihre Kontrolle gebracht haben, drohen sie nun dem in der Bevölkerung unbeliebten Premierminister. «Wenn Ariel Henry nicht zurücktritt und wenn die internationale Gemeinschaft ihn weiterhin unterstützt, werden wir einen Bürgerkrieg haben, der zum Völkermord führen wird», erklärte der Chef der Banden-Allianz «G 9», Jimmy «Barbecue» Chérizier, ein ehemaliger Polizeichef.
Der 74-jährige Henry befindet sich weiterhin ausser Landes. Er war Ende Februar zu dem Gipfel der Karibischen Gemeinschaft (Caricom) nach Guyana gereist. Dort wurde bekanntgegeben, dass Henry die in Haiti seit Jahren überfälligen Wahlen Ende August 2025 abhalten wolle. Im Anschluss reiste der Premierminister nach Kenya, um über die Entsendung von tausend kenyanischen Polizisten zu verhandeln, die eine multinationale Eingreiftruppe unter Uno-Mandat anführen sollen.
Seit Monaten stockt der ursprünglich von den USA initiierte Plan jedoch. Rufe nach der Entsendung amerikanischer Soldaten lehnt Washington dagegen ab. Stattdessen wolle man 200 Millionen Dollar für die von Kenya angeführte Mission bereitstellen. Jedoch ist dies angesichts des Widerstands der Republikaner im amerikanischen Kongress fraglich. Kenya will seinerseits erst dann die Mission starten, wenn die Finanzierung steht. Der Uno-Generalsekretär António Guterres appellierte bisher erfolglos an die Staatengemeinschaft, den Einsatz der Truppe zu finanzieren.
Gewaltwelle durch Banden
In Henrys Abwesenheit haben kriminelle Banden die Hauptstadt und Teile des Landesinnern mit einer Gewaltwelle überzogen. Am Wochenende überrannten sie zwei Gefängnisse und befreiten rund 4500 Inhaftierte. Seit Wochenbeginn greifen sie auch immer wieder den Internationalen Flughafen in Port-au-Prince an, auf dem der Flugverkehr zum Erliegen gekommen ist. Die Regierung reagierte mit einem 72-stündigen Ausnahmezustand und einer nächtlichen Ausgangssperre.
Doch die Polizei sowie das relativ kleine Militär sind den schwer bewaffneten Banden unterlegen. So können sie derzeit nur einen Teil der Hauptstadt sichern. Aufgrund der Gewalt am Flughafen konnte Henry am Dienstag nicht in Haiti landen. Die benachbarte Dominikanische Republik untersagte ihm zudem, in Santo Domingo zu landen und per Helikopter über die Grenze nach Haiti zu fliegen. So hält sich Henry derzeit in Puerto Rico auf, von wo aus er laut Medienberichten mit der haitianischen Opposition sowie mit der amerikanischen Regierung über eine Lösung der Krise berät.
Haiti ist in den vergangenen Jahren immer tiefer in Chaos und Gewalt versunken. Die letzten regulären Wahlen wurden 2016 abgehalten. Der damals gewählte Präsident Jovenel Moïse weigerte sich jedoch, die 2021 anstehenden Wahlen abzuhalten. Gleichzeitig nahm die Gewalt der Banden in dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre stetig zu. Moïse wurde im Juli 2021 unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Kurz zuvor hatte er Henry noch zum neuen Premierminister berufen. Dieser war mit dem Versprechen angetreten, die Neuwahlen rasch abzuhalten.
Tote und Vertriebene
Allerdings erklärte Henry später, dass die Durchführung des Urnengangs angesichts der ausufernden Gewalt nicht zu realisieren sei. So verfügt das Land derzeit über keine gewählten Amtsträger. Hatten die USA den Premierminister stets unterstützt, war man in letzter Zeit angesichts der steigenden Gewalt und der katastrophalen humanitären Lage auf Distanz gegangen. Allein im Januar sollen laut Angaben der Uno durch den Bandenkrieg über 1100 Personen getötet oder verletzt worden sein. Über 300 000 Personen in dem 11-Millionen-Einwohner-Land seien bisher aus ihren Wohnvierteln vertrieben worden.
Meldungen vom Mittwoch, dass die USA Henry zum Rücktritt zugunsten einer Übergangsregierung drängen, widersprach ein Sprecher des amerikanischen Aussenministeriums. Man habe Henry nicht «zum Rücktritt aufgefordert oder gedrängt», sagte Matthew Miller. Man fordere ihn jedoch dringend auf, rasch eine handlungsfähige und integrative Regierungsstruktur zu installieren. Danach könne die «multinationale Sicherheitsunterstützungs-Mission», sprich die internationalen Polizeikräfte, ins Land kommen, um die Wahlen abzusichern.
Die Bevölkerung lebe derzeit in Angst und sei der Situation hilflos ausgeliefert, erzählt Olivier David, der den Einsatz des Schweizer Hilfswerkes Helvetas in Haiti leitet, in einem Telefongespräch aus der Stadt Jacmel südlich von Port-au-Prince. Seit Monaten nehme die Gewalt im Land weiter zu, wie die Entführung von Personen, um Lösegelder zu erpressen. In der Nacht zum Mittwoch sei es auch im Gefängnis in Jacmel zu Unruhen mit mehreren Toten gekommen. Schulen und öffentliche Gebäude seien geschlossen. Derzeit wisse man nicht, ob man das Land verlassen könne und wie es angesichts der katastrophalen Lage weitergehen werde, so David.