John F. Kennedy, Martin Luther King, Harvey Milk: Mordanschläge haben in Amerika eine lange Geschichte.
Jeder ältere Amerikaner erinnert sich, wo er als Kind oder Jugendlicher war, als die Nachricht aus dem Radio oder dem Fernsehgerät klang, dass auf Präsident John F. Kennedy bei seinem Besuch in Dallas geschossen worden sei. Fest eingebrannt ins nationale Gedächtnis hat sich die Schwarz-Weiss-Sequenz einer Nachrichtensendung, etwa eine halbe Stunde nach den ersten Schreckensmeldungen: Walter Cronkite, der weithin respektierte Anchorman des Senders CBS, nimmt seine Brille ab, blickt auf die hinter ihm sichtbare Studiouhr und kämpft mit den Tränen, als er bekanntgibt: «Präsident Kennedy starb um ein Uhr Central Standard Time, vor ungefähr 38 Minuten.»
Die Bilder von jenem 22. November 1963 sind zu Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden – übertroffen in ihrer Schreckenssymbolik wohl nur von den brennenden Türmen des World Trade Center vor fast genau 24 Jahren. John F. Kennedy war der vierte Präsident der USA, der einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Seither wurden nichttödliche Attentate auf Gerald Ford, Ronald Reagan und Donald Trump verübt.
Bei Gewaltakten gegen Politiker wird in Reden gern die Formulierung «This is not who we are as Americans» gebraucht – ein Diktum, das ebenso ein Bekenntnis zu einem zivilen demokratischen Diskurs wie eine Ablehnung von Hass, gar von tödlichem Hass in der politischen Auseinandersetzung sein soll. Mit der Ermordung von Charlie Kirk wird die Frage laut, ob dieses Selbstbildnis noch aktuell ist.
Der Tod des jungen Politstars der Konservativen reiht sich ein in eine Folge von Anschlägen binnen der letzten Monate: von den Schüssen auf Präsident Trump während des Wahlkampfes im vergangenen Sommer in Pennsylvania über die Ermordung Melissa Hortmans, einer Abgeordneten der Demokraten im Parlament des Gliedstaates Minnesota, und ihres Ehemannes bis zur Brandstiftung in der Residenz des ebenfalls den Demokraten angehörenden Gouverneurs von Pennsylvania, Josh Shapiro.
«Who we are»
Diese Häufung wird als Ausdruck einer zunehmenden Verschärfung der tiefgreifenden Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft betrachtet, in der vor allem Extremisten oder psychisch Labile durch eine aufgeheizte Stimmung dazu gebracht werden könnten, zur Waffe zu greifen.
Doch das «who we are», die Beschwörung eines besseren Amerika, das ausschliesslich mit der Kraft der Argumente und dem Gewicht der Wahlurne streitet, lässt ausser acht, dass politisch motivierte Gewalt die Vereinigten Staaten seit inzwischen 250 Jahren, seit ihren Gründungstagen begleitet. Während der Amerikanischen Revolution wurden die «Loyalisten», die zur Kolonialmacht Grossbritannien standen, von den nach staatlicher Unabhängigkeit strebenden «Patrioten» im besten Fall vertrieben, in schlimmeren Fällen geteert und gefedert oder getötet.
Eine weitaus stärkere Polarisation als die heutige spaltete die Nation während des Bürgerkrieges (1861–1865). Als dessen letztes Opfer gilt der am 14. April 1865 ermordete Präsident Abraham Lincoln. Sein Mörder, der fanatische Südstaatler John Wilkes Booth, soll durch eine der letzten öffentlichen Reden Lincolns endgültig zu seiner Tat angestachelt worden sein – diese war Teil einer Verschwörung, der auch der Vizepräsident und der Aussenminister zum Opfer fallen sollten. Booth erkannte in Lincolns Worten die Ankündigung eines Wahlrechts für farbige Amerikaner, die jüngst befreiten Sklaven und die «free blacks».
Ein Grundmotiv bei politischen Morden – wenn ein Motiv erkennbar ist, was bei dem zum Mörder Kennedys erklärten Lee Harvey Oswald fraglich bleibt – ist neben dem blanken Hass häufig das Bestreben, eine von dem Opfer verkörperte Entwicklung zu verhindern. Im Falle Lincolns war es die erst mehr als ein Jahrhundert später erfolgte Gleichberechtigung der Afroamerikaner.
Das Jahr 1968
Präsident Lincoln, der am Tag des Attentates noch fast seine gesamte zweite Amtszeit vor sich hatte, hätte die Nation wohl entschlossener und kompetenter durch die Nachkriegszeit geführt als sein schwacher Nachfolger Andrew Johnson. Die Bürgerrechtsbewegung, die auch aus dem Widerstand gegen Lincolns Emanzipationspolitik heraus entstand, musste zahlreiche Opfer auf ihrem langen Weg erbringen.
Die bekanntesten sind der Aktivist Medgar Evers und Martin Luther King. Evers wurde am 12. Juni 1963 erschossen. Ausgerechnet an dem Abend, als Präsident John F. Kennedy seine berühmte Fernsehansprache zu den Bürgerrechten hielt. Martin Luther Kings Ermordung in Memphis am 4. April 1968 löste gewaltsame Proteste und Ausschreitungen in zahlreichen amerikanischen Städten aus; für die Bürgerrechtsbewegung wurde er zu einem Märtyrer, der heute in den USA mit einem nationalen Feiertag (Martin Luther King’s Birthday) gewürdigt wird.
Das durch zahlreiche Gewaltakte gekennzeichnete Jahr 1968 hält auch das vielleicht prägnanteste Beispiel dafür bereit, dass ein politischer Mord den Ablauf der Geschichte ändern kann – auch unter der Berücksichtigung der Unwägbarkeiten von Spekulationen über ein «Was wäre, wenn . . .». Robert F. Kennedy, der Bruder des fünf Jahre zuvor ermordeten Präsidenten, führte einen inzwischen nostalgisch verklärten Wahlkampf der hundert Tage. Der 42-jährige Politiker löste vor allem bei jungen Amerikanerinnen und Amerikanern, bei Farbigen und Indigenen eine Begeisterung aus, die in deutlichem Kontrast zu der aufgeheizten Stimmung jenes «Epochenjahres» 1968 stand – eine Parallele zur Gegenwart.
«RFK», so sein Kürzel, das sein Sohn, der heutige amerikanische Gesundheitsminister, mit ihm teilt, verkündete seine Vision eines sozial gerechten Amerika – und eines Amerika, das sich aus dem Sumpf von Vietnam zurückzieht. In der Nacht nach seinem entscheidenden Vorwahlsieg in Kalifornien am 4. Juni 1968 wurde er von dem Palästinenser Sirhan Sirhan erschossen. Man kann die Tat wohl als ersten islamistischen Terroranschlag in den USA bezeichnen.
Zunehmender Zynismus
Robert Kennedy hätte gute Aussichten gehabt, gegen den Republikaner Richard Nixon zu gewinnen. Der an seiner Stelle für die Demokraten kandidierende, wenig charismatische Hubert Humphrey verlor knapp. Statt Kennedys Vision eines liberalen Amerika erlebte die Nation weitere vier Jahre Vietnamkrieg, innere Unruhen, einen zunehmenden Zynismus gegenüber dem Politikbetrieb und schliesslich die Watergate-Affäre.
So spekulativ wie ein Amerika und mit ihm eine Welt mit einem 37. Präsidenten Robert F. Kennedy bleibt es, darüber zu sinnieren, welche politische Karriere an der Utah Valley University vorzeitig und brutal beendet wurde. Das tragische Schicksal von Charlie Kirk und sein Kultstatus bei seinen Anhängern erinnern an einen anderen Aktivisten, vom gegenüberliegenden Ende des politischen Spektrums, auf den in seinem Lager grosse Hoffnungen ruhten: In den 1970er Jahren wurde Harvey Milk im ganzen Land bekannt als der erste offen schwule Mann, der in Kalifornien in ein öffentliches Amt gewählt wurde, und damit der erste offen schwule Politiker in den USA.
Milk trat im Januar 1978 sein Amt im San Francisco Board of Supervisors an, was ungefähr einem Stadtrat entspricht. Nur zehn Monate später wurde er ebenso wie der Bürgermeister San Franciscos, George Moscone, von dem ehemaligen Stadtrat Dan White erschossen. Der Mörder wurde zu nur sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Verteidiger machten geltend, dass er zu viele Süssigkeiten gegessen und dadurch irrationale Verhaltensweisen entwickelt habe, was als «Twinkie defense» in die Rechtsgeschichte einging (White beging in Haft Selbstmord).
Harvey Milk wurde zu einer Ikone der LGBTQ-Bewegung. Möglicherweise nimmt das Gedenken an Charlie Kirk in konservativen Kreisen ähnliche Formen an. Über Milk wurde 1984 ein Dokumentarfilm produziert, der mit einem Oscar prämiert wurde. Die Filmbiografie «Milk» von 2008 erhielt sogar zwei Oscars, einen davon für den Hauptdarsteller Sean Penn. Sollte eine ähnliche cineastische Hagiografie über Charlie Kirk erstellt werden, dürften ihr, so wie Hollywood politisch ausgerichtet ist, kaum solche Ehren zuteilwerden.
Ronald D. Gerste ist ein deutscher Historiker, Sachbuchautor und Augenarzt. Er lebt in der Nähe von Washington.