Der US-Traditionskonzern setzt darauf, dass Grösse im Rennen um die besten KI-Modelle nicht alles ist. IBM will mit Open-Source und Quantencomputern zurück an die Spitze.
Wer IBM verstehen will, braucht ein wintertaugliches Auto. Über zig Meilen fährt man durch die verschneiten Wälder des New Yorker Hinterlands, bis ein diskretes Schild den Weg zum Thomas J. Watson Research Center weist, dem Forschungszentrum von IBM. Erst spät kommt der von Eero Saarinen entworfene und 1961 eröffnete Bau in den Blick; ein gläsernes Ufo, das im Winterwald landete.
Saarinens Spätwerk ist Architektur gewordene IBM-Kultur: Das Unternehmen gilt als innovativ, verkopft und manchmal eigensinnig. Es entwickelt langfristige Pläne und bleibt ihnen treu.
IBM verpasste den Anschluss
Das hält IBM davon ab, jedem Modetrend nachzurennen. Aber wenn die Firmenchefs falschliegen, dauert die Kurskorrektur umso länger. Wie zuletzt: Nach einer verlorenen Dekade steht IBM unter Rechtfertigungszwang. Zu lange hatten die Chefs die Gewinne aus dem IT-Dienstleistungsgeschäft als Dividende ausgeschüttet, statt in die Forschung und Entwicklung zu investieren. IBM verpasste den Cloud-Computing-Boom und blieb auf seinen Mainframe-Servern sitzen.
Amazon ist heute 2,1 Billionen Dollar wert, Microsoft 2,9 Billionen. IBM steckt bei einem Zehntel davon fest. 2011 spielten sie noch in derselben Liga. Auch beim Rennen um die beste KI schienen flinke Gegner «Big Blue» abgehängt zu haben, seit Chat-GPT 2022 die Weltbühne stürmte. Sam Altmans Open AI wird nach der neuesten Finanzierungsrunde mit 300 Milliarden Dollar bewertet und wäre somit wertvoller als IBM.
Dabei war der Konzern ein Pionier der KI-Forschung: 2011 setzte der Supercomputer Watson neue Massstäbe, als er die besten Menschen im Quizspiel «Jeopardy» besiegte. Kein Rechner hatte bis dahin natürliche Sprache so souverän beherrscht wie Watson. Aber seit dem Aufkommen der generativen KI schien es nur noch um eines zu gehen: Immer grössere KI-Modelle zu trainieren und sie auf immer leistungsfähigeren Nvidia-Grafikkarten in gigantischen Datencentern laufen zu lassen.
Haben die Forscher im Ufo vor New York dem etwas entgegenzusetzen?
KI geht auch anders
Anfang Jahr keimt Hoffnung auf. Das chinesische Startup Deepseek hat soeben demonstriert, dass auch schlanke KI-Modelle sehr gute Resultate liefern können. Open AI wirft den Chinesen vor, abgekupfert zu haben. Doch die Prämisse, dass nur die grössten und teuersten Modelle Erfolg haben, hat Deepseek zerstört.
«Deepseek hat uns gar nicht überrascht», sagt Nick Fuller, der Vizepräsident und KI-Chef von IBM Research. Es zeige: Kooperation und ein Open-Source-Ansatz böten klare Vorteile für alle Beteiligten. IBM hat 2023 zusammen mit Meta, dem Mutterkonzern von Facebook, die AI Alliance gegründet, die sich diesem Ziel verschrieben hat. Inzwischen zählt die Allianz 145 Mitglieder; darunter die beiden ETH Zürich und Lausanne und das Nuklearforschungszentrum Cern bei Genf.
Die Allianz baut darauf, dass sich bei der KI-Entwicklung ein Open-Source-Ansatz gegenüber proprietären Modellen durchsetzt; Modelle also, für deren Nutzung man zahlen muss und die man nur sehr eingeschränkt abändern darf.
«Wir haben diesen Film schon einmal gesehen», sagt Fuller und spielt auf den weltweiten Siegeszug des offenen Betriebssystems Linux an. Der Vorteil von offenen Systemen besteht darin, dass viel mehr Nutzer Schwachstellen ausbessern und neue Anwendungen bauen können – schneller, als dies eine einzelne Firma tun kann.
IBM hat seine eigenen KI-Basismodelle unter dem Namen Granite öffentlich zugänglich gemacht, seine Forscher arbeiten eng mit einer Entwickler-Community zusammen. Fuller argumentiert, dass der wahre Mehrwert der Modelle durch die Kombination mit anderen Produkten und Anwendungen entsteht – einige davon sind von IBM, aber nicht alle.
Der Ansatz, Kernprodukte in ein Ökosystem aus nützlichen Dienstleistungen einzubetten, hat sich für IBM in der Vergangenheit ausbezahlt: 1992 war das Unternehmen dem Ende nah, weil es das Aufkommen des Personalcomputers verschlafen hatte. IBM fing sich auf, indem es ein florierendes Geschäft mit Technologieberatung und IT-Dienstleistungen aufbaute. Man entwickelte und wartete die IT-Systeme seiner Kunden und konnte sie en passant wieder für die eigene Hardware begeistern.
Schlankere Modelle
IBM will sich zudem mit ressourcenschonenden und günstigeren KI-Modellen profilieren. Diese sollen mit weniger Parametern und Rechenleistung auf gute Ergebnisse kommen und sind auf einen Gebrauch mit firmeninternen Daten optimiert. Die Konkurrenz – Google, Anthropic oder Open AI – versucht das natürlich auch.
Um sich abzuheben, setzt IBM auf seine grosse Erfahrung mit Firmenkunden. Ein Drittel seines Umsatzes verdient «Big Blue» mit der Beratung von Unternehmen, die wissen wollen, wie sie die neueste Technologie für ihr Geschäft einsetzen können. Auch wegen dieser engen Bindung zu den Firmenkunden hält IBM dem Forschungsstandort New York die Treue, während andere Tech-Firmen vor allem auf das Silicon Valley setzen.
Wenn es um die Sicherheit von kritischen Firmendaten geht, vertrauen viele Einkaufsmanager auf Traditionsunternehmen. Hier bleibt der alte Leitspruch gültig: Wer bei IBM einkauft, kriegt von seinen Chefs keine Probleme, selbst wenn etwas schiefgeht.
Ein Quentchen Vorsprung
IBM glaubt zudem, dass der Kampf um die Technologieführerschaft mit dem Quantencomputer bald die nächste Stufe erreicht. In diesem Forschungsfeld bewegt man sich an der Spitze, bei der Hardware wie bei den Software-Tools für Entwickler.
Es ist theoretisch schon lange belegt, dass Quantencomputer manche Probleme sehr viel schneller lösen können als normale Rechner. Sie sind aber störungsanfällig und weit entfernt vom Heimgebrauch. Jay Gambetta, der für die Entwicklung von Quantencomputern verantwortliche Vizepräsident von IBM, argumentiert aber, dass die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass sie schon jetzt für die Lösung von Alltagsproblemen nützlich wird.
Die Entwicklung gleicht dem Werdegang des Computers in den 1940er Jahren. Die ersten Computer waren monströse Maschinen und hielten dennoch nicht mit der Rechenleistung von geübten Menschen mit. Es gab ein klassisches Henne-Ei-Problem: Die potenziellen Anbieter wollten nicht in die Entwicklung eines Produkts investieren, das nicht nachgefragt wird. Die potenziellen Kunden konnten derweil noch gar nicht verstehen, wie sie das Produkt einsetzen sollten.
IBM spielte bei der Auflösung dieses Problems eine wichtige Rolle, als es 1964 sein Grossrechner-System 360 vorstellte. Dank einem Rundum-sorglos-Paket aus Hardware, Software und Wartung konnten immer mehr Unternehmen und Universitäten Computer sinnvoll einsetzen – und kauften sich welche. Langjährige Verträge brachten IBM sichere Einnahmen, die der Konzern in die Weiterentwicklung der Technologie investieren konnte. Dieses Schwungrad trieb die Computer-Entwicklung für mehr als 15 Jahre an.
Warten auf die Quantenüberlegenheit
Gambetta ist überzeugt, dass seine Firma auch diesmal auf das richtige Pferd setzt. Es ist eine typische IBM-Wette mit langem Zeithorizont. Bereits in zwei Jahren sollen Quanten-Systeme gemäss diesem Plan Fehler so gut erkennen und minimieren können, dass sie handfeste Vorteile bieten: Dann soll das Zeitalter der «Quantenüberlegenheit» beginnen.
Da IBM aus der Entstehungsgeschichte des Computers lernte, versucht man gemäss Gambetta nun, parallel schon die potenziellen Nutzer in die Entwicklung einzubinden. «IBM hat grosse Fortschritte im Aufbau des Quanten-Ökosystems gemacht», sagt er. Es zähle mehr als 600 000 Nutzer und ein Netzwerk mit mehr als 250 Unternehmen und Forschungseinrichtungen.
Gambetta sieht in der Quantentechnologie eine Ergänzung, nicht einen Ersatz bisheriger Computer. «Es wird auch weiterhin viele Aufgaben geben, für die herkömmliche Computer, CPU und für KI optimierte Grafikprozessoren besser geeignet sind.»
IBM ist nicht allein
Ein Bericht von McKinsey vom April 2024 schätzte, dass Quantencomputer bis 2035 allein in vier Sektoren – Finanzwesen, Chemie, Bio-Wissenschaften und im Transportsektor – zwei Billionen Dollar an Wert generieren könnten. Aber IBM ist nicht allein. Google hat im Dezember seinen neuen Quanten-Computerchip Willow vorgestellt, der bei der Fehlerkorrektur neue Massstäbe setzen könnte. Microsoft hat im Februar zumindest einmal verkündet, einen viel stabileren Typ von Quantenbit erschaffen zu haben.
Die Gefahr besteht, dass agile Konkurrenten IBM überholen, nachdem der Konzern mit jahrelanger Grundlagenforschung das Feld bereitet hat. Manche setzen dafür auf sogenannte Ionenfallen, die weniger fehleranfällig sind, aber gemäss Gambetta weniger leistungsfähig als die supraleitenden Qubits, auf die IBM setzt.
«Besser gründlich als schnell» – die Forscher im Ufo vor den Toren New Yorks bleiben sich treu. Die Anleger sind vorerst an Bord. Und träumen davon, dass IBM im neuen Zeitalter zur alten Dominanz zurückfinden möge.