Künstliche Intelligenz kann literarische Figuren zum Leben erwecken, zumindest ein bisschen. Chatten mit Faust, Mephisto, Gretchen: Der Zürcher Lehrer Robin Fürst weiss, wie’s geht.
Wissen Sie, was ein «Rollen-Prompting» ist? Robin Fürst, Deutschlehrer an der Kantonsschule Zürich Unterland in Bülach, weiss es. In einem «Rollen-Prompting» unterhält man sich mit Chat-GPT, dem Computerprogramm, das selber schreiben kann. Genauer: Man bittet den Schreib-Bot, eine Figur der deutschen Literaturgeschichte zu spielen. Wie wäre es zum Beispiel mit Gretchen aus Goethes «Faust»?
Fürst hat das vor ein paar Monaten ausprobiert und den Chat-Verlauf seiner Maturklasse gezeigt. Die erste Nachricht an den Bot lautete:
Es handelt sich um einen ausgefeilten «Prompt». So nennt man Befehle, Fragen, Eingaben an Chat-GPT. Dieser Prompt ist präzise, klar umrissen, mit Kontext und Angaben zur Textsorte, die man vom Bot erwartet. Nun sollte die Maschine wissen, was sie zu tun hat. Sie soll Gretchen spielen, eine junge Frau, die von Faust verführt und geschwängert wird, ihre Mutter vergiftet, ihr Kind tötet, im Gefängnis landet und zum Tod verurteilt wird.
Und so entwickelt sich ein munterer Dialog zwischen dem Lehrer und Gretchen. Doch schon bald verplappert sich die Gesprächspartnerin am Bildschirm. Fürst will wissen, wie es ihr im Kerker ergangen sei. Chatbot-Gretchen antwortet:
Hm. Gretchen will unschuldig sein? Die Kindsmörderin? Das macht verdächtig. Von der Klarheit der weiblichen Hauptfigur bei Goethe – «Meine Mutter hab ich umgebracht, / Mein Kind hab ich ertränkt» – ist in den computerisierten Antworten nichts zu spüren. Von Scharfsinn, Demut und Religiosität des Originals von 1808 erst recht nichts.
Aber das macht nichts, im Gegenteil. Die Antworten der Maschine sollen stutzig machen, den Menschen herausfordern, etwas in Bewegung setzen. Robin Fürst sagt: «Ein solches Rollen-Prompting hat einen doppelten Effekt: Die Schülerinnen und Schüler lernen, die Qualität der Antworten des Chatbots zu beurteilen. Gleichzeitig erfahren sie, dass sie selber viel mehr wissen als Chat-GPT.»
Ausprobieren und ausprobieren lassen
Fürst, 42, ist ein Prompt Engineer der ersten Stunde. Lehrer wie er brennen für neue Formate im Klassenzimmer. Sie probieren einfach aus und lassen ihre Schüler dann genauso experimentieren. Eine seiner Klassen nutzt Chat-GPT, um sich damit auf den Diskutierwettbewerb «Jugend debattiert» vorzubereiten. Der Deutschlehrer beschäftigt sich seit Jahren mit digitalisierten Elementen im Unterricht. Experte für spielerische Zugänge ist er bereits («Gamification» heisst das in der Fachsprache). Jetzt wendet man sich an ihn, wenn man wissen will, was man mit Chat-GPT so machen kann in der Schulstunde. Und vor allem, wie. Fürst sagt: «Das Potenzial ist riesig.»
Ist es das wirklich?
Der Gretchen-Chat von Robin Fürst lässt zumindest erahnen, dass sich klassische und ganz neue Unterrichtsformen durchaus ergänzen können. Und dass die Schüler mit verstaubten Klassikern wie «Faust» etwas lernen können, um sich in der Welt von Bots und künstlicher Intelligenz (KI) zurechtzufinden.
Ja, man kann sogar zu den ganz grossen Fragen vordringen: Was macht uns Menschen aus? Was unterscheidet uns von der Maschine, von einem rasenden, blinkenden Strich am Bildschirm?
Quatsch am Bildschirm
Goethes Gretchen erkennt den Teufel sofort, als dieser in Gestalt des Mephisto aus dem Kerkerboden aufsteigt. Mit ihm will sie nichts zu tun haben – und damit auch nicht mit Faust, der sich mit dem Beelzebub eingelassen hat: «Heinrich, mir graut’s vor dir!» Lieber sterben, lieber in den Himmel: «Gericht Gottes! dir hab ich mich übergeben!»
Chatbot-Gretchen hingegen weicht aus, macht sich zum Opfer, eiert herum, ist sich ihrer Sache plötzlich nicht mehr sicher. Sie redet sich um Kopf und Kragen, als Fürst zurückschreibt:
Was für ein irrlichternder Quatsch!
Das Beispiel zeigt: Chat-GPT kann’s nicht, zumindest nicht in der Gratisversion GPT-3.5, die Fürst damals benutzt hat. Der Bot kann nicht reflektieren, kein Argument aufbauen, nichts verknüpfen. Nichts Neues erschaffen, was einer (literatur-)kritischen Betrachtung standhielte. Stattdessen «halluziniert» er vor sich hin, wie Kenner sagen. Er faselt irgendetwas von gerettet werden. Dabei hat Gretchen im Kerker doch schon längst abgeschlossen mit dem Leben und der Welt. «Tag! Jetzt wird es Tag! der letzte Tag dringt herein!», sagt sie bei Goethe.
Rattern statt denken
Schreiben ist denken, nachdenken, überarbeiten, feilen am Text. Der Chatbot macht nichts von alldem. Er rattert lediglich seine Daten durch (und damit auch die 4614 Verse von «Faust I», die er irgendwo aufgeschnappt hat im Internet) und setzt dann schnell, schnell eine Antwort zusammen. Oder, wie die Maschine auf Anfrage selber schreibt:
Chatbot-Gretchen schreibt fehlerfrei, nüchtern, in austauschbarem, automatischem Stil. Der Duktus der literarischen Vorlage ist verlorengegangen, aber das wäre verschmerzbar. Das Kernproblem liegt vielmehr darin, dass die Maschine ohne Fakten auskommen muss. Gefragt sind keine Zahlen, kein lexikalisches Wissen über die Welt. Das wäre ihre grosse Stärke, damit kennt sich der Bot aus wie niemand anderes in irgendeiner Schulklasse.
Nicht so beim «Rollen-Prompting»: Hier braucht es Adaptionsvermögen und Kreativität – Qualitäten also, die weit über das hinausgehen, was sich ein Chatbot mit all seinen Daten, Statistiken und Wahrscheinlichkeitsberechnungen an «menschenähnlichen Texten» so zusammenreimen kann.
Schreiben wie Gretchen? Hier muss die Maschine scheitern. Das schaffen nur Genies. Das sollten Maturanden eigentlich merken – sofern sie «Faust» gelesen und ein Gespür entwickelt haben für Goethes Meisterwerk. Sie könnten zum Beispiel ein Lese-Journal führen, wo sie notieren, was ihnen auffällt, wenn sie mit Gretchen, Faust oder dem liebeskranken Werther hin und her schreiben. Die Jugendlichen könnten sich fragen: War der Bot authentisch? Warum (nicht)? Wie trickst man ihn aus?
Das könnte eine coole Erfahrung sein. Und natürlich ist es ziemlich cool, dass man dank Chat-GPT mit Figuren sprechen kann, die sonst nur in Reclam-Büchlein oder E-Books auftauchen und das Korsett der literarischen Vorlage so gar nicht verlassen können.
Robin Fürst liess sich von Gretchens Geplapper nicht entmutigen. Der Deutschlehrer stieg um auf die Bezahlversion GPT-4 – das kostet knapp 20 Franken pro Monat – und probierte es noch einmal. Nun wies er dem Bot die Rolle des Fiesco aus Schillers «Die Verschwörung des Fiesco zu Genua» zu. Der Deutschlehrer wollte von Fiesco wissen: ob er mit Julia, der Schwester seines Kontrahenten, nur gespielt oder echte Gefühle für sie empfunden habe?
GPT-4 antwortete:
Der Trick mit dem Wahrheitsserum
Jetzt trifft der Bot den Ton. «Diese blumige Sprache, das ist doch toll! Probiert das aus!» Fürst ist begeistert, als er Anfang November in einem Workshop für Gymilehrer auf dieses Rollenspiel zu sprechen kommt. Fiesco, Charmeur und Intrigant in einer Person, zieht sich gekonnt aus der Affäre: Er lässt sich nicht in die Karten blicken. Auch Schiller lässt vieles offen, die wahren Motive der Hauptfigur des Dramas bleiben unklar. Der Bot füllt seine Rolle viel besser aus als im Gretchen-Chat.
Nur: Wie war das wirklich mit Julia?
Das wollte Fürst unbedingt herausfinden. Und so kam er irgendwann auf die Idee, der Figur des Fiesco mitzuteilen, dass er ihr ein Wahrheitsserum verabreicht habe:
Damit war der Bot geliefert. Er bekennt:
Der Intrigant war enttarnt, zumindest in diesem Rollenspiel.
Kritiker befürchten, dass Chat-GPT den Schulbetrieb komplett durcheinanderbringen wird. Ähnlich wie damals, als Computer, das Internet und das Smartphone erfunden wurden. Das dürfte auch mit dieser Technologie nicht passieren. Chat-GPT ist ein guter Sparringpartner, auch in anderen Fächern. Aber die Schreib-Maschine ist nichts ohne den Menschen, der sie bedient. Lehrer sind nichts ohne ihre Schüler, und umgekehrt. Selbst Profis wie Robin Fürst arbeiten nur punktuell mit KI.
«Die Schüler lassen sich alles schreiben von Chat-GPT»
Doch der Bot hat auch Schattenseiten. Das zeigt sich an einem weiteren Anlass für Lehrer und Schüler diesen Monat in Zürich. Ein Lehrer sagt: «Die Schüler lassen sich alles schreiben von Chat-GPT. Das ist die Realität an Zürcher Gymnasien. Sie sind auch sehr fit im Umschreiben, damit der abgegebene Text wie ihr eigener klingt.» Das habe man viel zu spät gemerkt. Ein Maturand behauptet: «Ich habe keines meiner Bücher gelesen. Das hat alles die KI für mich gemacht. Ich habe trotzdem eine Sechs bekommen.»
Tief blicken lässt auch ein Statement, das ein Schüler oder eine Schülerin nach einem Workshop anonym gepostet hat. Man setze den Bot fast täglich ein, steht da geschrieben, alle machten das so in der Klasse. Das Programm liefere in fast allen Fächern akzeptable Resultate. Also lehne man sich zurück und lasse die Maschine die Arbeit übernehmen. «Die generierten Texte werden manchmal nicht einmal durchgelesen, geschweige denn korrigiert oder auf Korrektheit überprüft.» Man frage Chat-GPT, ohne überhaupt nachzudenken, «da es schneller und einfacher ist». Das mache abhängig. Keine schöne Vorstellung.
Damit müssen sich Lehrerinnen und Lehrer auseinandersetzen. Das nimmt ihnen niemand ab. Auch hier sind menschliche Qualitäten gefragt. Man kann zum Beispiel ein Gespräch führen mit den Jugendlichen. Ihnen hierzu oder dazu eine Frage stellen, um herauszufinden, ob sie das Thema ihres «eigenen» Texts wirklich verstanden haben – offline, altmodisch, ganz ohne KI.