Vor 150 Jahren wurde Chiassos Bahnhof gebaut. Er ist ein Symbol für den früheren Wirtschaftsboom der Grenzstadt, die gegen ihren Niedergang ankämpft.
«Letzter Halt in der Schweiz: Chiasso!» Diese Durchsage sorgte einst bei Generationen von Italienreisenden für Herzklopfen. Sie hatten den südlichsten Punkt der Schweiz erreicht, Italianità und Mittelmeer waren zum Greifen nah. Doch erst mussten Lokomotiven ausgewechselt werden, Italien hat andere Spannungsleitungen.
Diskreter Charme
Heute findet kein Lokomotivwechsel mehr statt, doch auf dem Bahnhof Chiasso ist immer noch viel los. Pendler, Touristen, Grenzgänger, Asylsuchende, Schweizer Grenzwächter in ihren auffälligen königsblauen Hemden, italienische Kondukteure und Beamte der Guardia di Finanza, die auch für die Grenzüberwachung zuständig sind – sie alle sorgen für ein buntes Durcheinander. Nach Jahren des Umbaus verströmt der Bahnhof einen diskreten Glanz. Im riesigen Güterbahnhof hingegen wird noch gebaut. Die Renovationen stehen im Zusammenhang mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels 2021.
Vor 150 Jahren wurde die «stazione» von Chiasso zum internationalen Grenzbahnhof. Ende Januar 1874 paraphierte die Bundesversammlung ein zukunftsweisendes Abkommen mit Italien. Es sah die Verbindung der Gotthard-Bahnstrecke mit den italienischen Zugslinien in der Grenzstadt Como sowie in Pino am Lago Maggiore vor.
Die Bezeichnung «international» darf Chiassos Bahnhof tragen, weil hier schweizerische und italienische Grenzbeamte den Zugsverkehr betreuen. In der «stazione» sind neben den schweizerischen auch italienische Bahnschalter zu finden, und neben Schweizer Zügen stehen Wagen und Lokomotiven der Ferrovie dello Stato Italiane.
Chiassos Glück
«Die Verbindung der Bahnlinien vor 150 Jahren war Chiassos Glück», sagt der Sindaco Bruno Arrigoni. Seine Stadt wurde damals rasch zum zentralen Verkehrsknotenpunkt zwischen Nord und Süd. Und spätestens mit der Eröffnung des Gotthard-Bahntunnels 1883 begann im 800-Seelen-Grenznest Chiasso ein ungeahnter Wirtschaftsboom.
Wegen der Industrialisierung Norditaliens nahm der Güterverkehr zwischen Nord und Süd rasant zu. Immer mehr Speditionen liessen sich in Chiasso nieder. Sie schafften viele neue Arbeitsplätze und bildeten das wirtschaftliche Rückgrat der Grenzstadt. Daher zählte sie ums Jahr 1900 bereits 4000 Einwohner. Ein wirtschaftliches Standbein war auch der Schmuggel: Er war nur auf italienischer Seite verboten, so dass viele Chiasseser Familien vom Verschieben von Tabak oder Zucker lebten.
Dann kamen die Banken. Schon 1905 habe der Bankverein in Chiasso eine Filiale eröffnet, aber im grossen Lugano erst 50 Jahre später, sagt Stadtpräsident Arrigoni stolz. So begann gemäss seinen Worten früh Chiassos Bankenboom, der in den 1960er Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Auch ihren ersten grossen Bankenskandal erlebte die Schweiz 1977 in Chiasso, schuld waren Unsauberkeiten in der dortigen Credit-Suisse-Filiale. Ums Jahr 2001 setzte dann der Niedergang ein. Rom hatte eine neue Steuerpolitik eingeführt. Italienische Bürger, die im Tessin ihr Schwarzgeld deponiert hatten, erhielten mehrmals Straferleichterung oder sogar Straffreiheit bei einer Rückführung ihrer Gelder.
Das Ende des Bankenbooms in Chiasso war auch der Schlusspunkt der langen Wirtschaftsblüte der Region. Lebten Anfang der 1980er Jahre in der Grenzstadt noch fast 10 000 Menschen, waren es Ende letztes Jahr noch 7738.
Auch der immer stärker zunehmende Güterverkehr konnte den wirtschaftlichen Niedergang nicht aufhalten. Die Modernisierung und die Digitalisierung von Abläufen reduzierten die Zahl der Bahnangestellten innert weniger Jahrzehnte von mehreren tausend auf wenige hundert.
Schliesslich verlor auch die Grenze selbst an Bedeutung. Seit deren vollständiger Öffnung sind lokale Spediteure seltener mit dem Import von Gütern und deren Abfertigung beschäftigt. Seit über einem Jahr besteht für die Lastwagenfahrer zudem die Möglichkeit, die Warenverzollung online durchzuführen. Das hat die Zahl der Stopps weiter verringert.
Hoffen auf den Aufschwung
Heute haben etwa noch dreissig Logistikfirmen ihren Sitz im Raum Chiasso. Darunter befindet sich auch die Hupac AG, die konsequent auf den Schienenverkehr setzt. Sie ist eine der grössten Firmen der Region mit über 200 Mitarbeitern im Head-Office Chiasso und weiteren 500 Mitarbeitern in verschiedenen europäischen Ländern.
Erst kürzlich hat das Hupac-Verwaltungsrats-Mitglied Bernhard Kunz in den Tessiner Medien betont, die Logistik bleibe das Rückgrat der regionalen Wirtschaft. Grösstenteils verkehren dabei die Güterzüge der Hupac laut der Sprecherin Irmtraut Tonndorf allerdings auf der Luino-Linie. Diese weist als Flachbahn entlang des Lago Maggiore ideale Bedingungen für den Güterverkehr ins norditalienische Busto Arsizio und nach Novara auf, wo die grossen Terminals stehen.
Laut Tonndorf ergeben sich mit der Eröffnung neuer Terminals östlich von Mailand in den nächsten fünf Jahren allerdings weitere Chancen für den Güterverkehr via Chiasso. Im Fokus stünden dabei die grossen Wirtschaftsräume östlich von Mailand und der Anschluss an die Meereshäfen in Ligurien.
Sorgen bereiten hingegen die Personenzüge. Man müsse darum kämpfen, dass die Haltestelle Chiasso für die internationalen Züge auch in Zukunft erhalten bleibe, erklärt der Sindaco Arrigoni. Denn es gebe Überlegungen, im Tessin nur noch eine Haltestelle, vermutlich in Lugano, vorzusehen. Allerdings erst dann, wenn eines Tages die superschnelle Verbindung zwischen Lugano und Mailand Wirklichkeit werden sollte.
Doch Arrigoni blickt dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft. Seit der Bund die vielen Asylsuchenden auf mehrere Zentren verteilt, hat sich die Situation mit den Migranten gebessert. Gleichzeitig wird erfreulich oft gebaut und investiert. Auf dem Areal der alten Bahnwerkstätten beim Güterbahnhof hat ein neues Zentrum für die Instandhaltung von Zugrolllagern seinen Betrieb aufgenommen, gleichzeitig eröffnen immer mehr Luganer Finanzdienstleister Filialen in Chiasso. Die italienischen Kunden kommen wieder – nun vermehrt mit Weissgeld.
Und noch ein Projekt zeigt in die Zukunft: Geht es nach dem Kanton Tessin, wird auf dem Areal des Güterbahnhofs eine Modedesigner-Schule gebaut. Die 50-Millionen-Franken-Investition muss der Grosse Rat allerdings noch bewilligen. Die Hoffnungen sind gross: Im Grossraum Mendrisio sind viele internationale Kleiderfirmen angesiedelt, die junge Kräfte suchen. Auch die Modemetropole Mailand liegt praktisch um die Ecke.
Nach 150 Jahren ist die Internationalität wieder in Griffweite.