Präsident Boric setzt auf verstärkte Polizeipräsenz und schärfere Gesetze. Doch wird er damit das Problem lösen können?
Frühmorgens in der Hauptstadt Santiago. In einer Baugrube ist ein einfaches Zelt aufgestellt, es wimmelt von Polizisten. Mit ein paar Minuten Verspätung kommt der chilenische Präsident Gabriel Boric und setzt den ersten Stein für den Bau eines neuen Kommissariats der chilenischen Kriminalpolizei (PDI), das spezialisiert auf organisierte Kriminalität sein soll. In seiner Ansprache verspricht er mehr Sicherheit und ein härteres Vorgehen gegen kriminelle Banden.
Fast wöchentlich weiht der Präsident zusammen mit der Innenministerin Carolina Tohá neue Polizeiposten ein, präsentiert neue Polizeifahrzeuge oder Kampagnen zur Bekämpfung von Kriminalität. Denn die einstige Sicherheitsoase in Lateinamerika ist längst vom Fieber der Angst eingeholt worden. Das Thema Kriminalität füllt mittlerweile die Agenda der progressiven Regierung von Boric.
Mehr Delikte seit der Pandemie
Weitab vom künftigen Kommissariat, in einem Randviertel von Santiago, in der östlichen Gemeinde Maipú, sitzt derweil der Sozialarbeiter Luis Sepúlveda in einem staatlich finanzierten sozialen Zentrum. Er wirkt sichtlich betroffen von der steigenden Kriminalität. Das Viertel, San Luis, gegründet als eng bebautes Ghetto während der Militärdiktatur in den 1980er Jahren, kommt regelmässig in den Fokus der Medien – mit Schiessereien und als Lebensort von Kriminellen, die Autos und Häuser in den wohlhabenden Vierteln ausrauben.
Sepúlveda sagt, hier habe die Anzahl Waffen zugenommen. Ständig würden Kinder und Jugendliche bei Schiessereien getötet, sei es wegen Drogenbanden oder wegen banaler Nachbarschaftskonflikte. Er erklärt, mit der Pandemie habe sich der Staat aus den Armenvierteln zurückgezogen. Das habe zu einer enormen Krise geführt. Die Auswirkungen seien im Viertel, aber auch ausserhalb zu spüren. «Bei Drogenbanden zu arbeiten oder vom Diebstahl zu leben, ist zum Ziel vieler Kinder und Jugendlicher geworden», erklärt Sepúlveda.
In Chile nahm vor allem die Anzahl der Morde in den letzten Jahren rasant zu. Innerhalb von vier Jahren wuchs die Mordrate von 4,8 auf 6,7 pro 100 000 Einwohner. Damit überholte das Land die USA, deren Rate im Jahr 2022 bei 6,4 lag. Mehr noch als die offiziellen Zahlen ist die Angst gestiegen. In einer Umfrage vom Januar 2024 sagten 83 Prozent der Befragten, sie dächten, die Kriminalität sei insgesamt gestiegen, und 54 Prozent glaubten gar, dass Chile bald eine ähnliche Situation erleben werde wie Ecuador. Das kleine Andenland lebt seit Anfang 2024 im Ausnahmezustand wegen Bandengewalt.
Neue, international operierende Banden
Obwohl Chile weit entfernt ist von einer Situation wie in Ecuador, gerät das Land zunehmend ins Fadenkreuz international agierender Banden. Besondere Medienaufmerksamkeit hat dabei der sogenannte Tren de Aragua bekommen. Das ist eine kriminelle Organisation, die ihren Ursprung in Venezuela hat und sich laut der Polizei mittlerweile in Teilen des chilenischen Nordens festgesetzt hat. Dort ist die Bande für Entführungen und Auftragsmorde bekannt – Delikte, die vorher in Chile nur selten vorkamen.
Sowohl auf der Rechten wie auf der Linken gibt es Stimmen, welche die venezolanische Migration generell für die wachsende Kriminalität verantwortlich machen. Knapp eine halbe Million Venezolaner leben derzeit in Chile, viele ohne gültige Papiere. Die Regierung Boric verlangte in diesem Zusammenhang schon mehrfach, dass Venezuela die Rückführung kriminell gewordener venezolanischer Staatsbürger zulasse. Organisationen, welche die Migranten vertreten, warnen hingegen vor Stigmatisierung. Sie machen geltend, dass Ausländer weniger oft strafbar würden als die Chilenen selbst.
Dass sich die Situation verschlechtert hat, verneint allerdings niemand. Die Pandemie und die damit einhergehenden Lockdowns oder die kurz vorher stattfindenden sozialen Proteste vom Oktober 2019 werden – je nach politischer Affinität – als Katalysator der gegenwärtigen Situation gesehen. Auf ultrarechter Seite bezeichnete der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast die sozialen Proteste und die nebenbei stattfindenden Plünderungen als «kriminellen Ausbruch», bei dem man den Delinquenten freien Lauf gelassen habe.
Die Rechte sieht hartes Vorgehen in El Salvador als Vorbild
Kast, der Wortführer der rechten Partei Republicanos, reiste Anfang April 2024 nach El Salvador und pries das dortige Vorgehen gegen organisierte Kriminalität als Beispiel für Chile an. Angesprochen auf die Menschenrechtsverletzungen, meinte Kast in einem Fernsehinterview: «Wir müssen auch die Menschenrechte der Opfer betrachten. Heute gibt es sechs Millionen Menschen in El Salvador, die wieder ohne Angst auf die Strasse gehen können.»
Nicht nur bei ultrarechten Parteien, auch in breiten Kreisen der Gesellschaft scheint das harsche Vorgehen gegen mutmassliche Kriminelle an Popularität zu gewinnen. In einer im April 2024 veröffentlichten Studie gaben 79 Prozent der befragten Chilenen an, ein positives Bild von Nayib Bukele, dem Präsidenten von El Salvador, zu haben.
Eine Tendenz, die auch die politische Mitte besorgt macht. In Peñalolén, einer anderen Vorstadtgemeinde von Santiago, sitzt die Bürgermeisterin Carolina Leitao hinter ihrem Schreibtisch und sagt: «Wir müssen alles daransetzen, mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln diese Krise zu überwinden.» Bis vor wenigen Wochen war sie noch Mitglied der Christlichdemokratischen Partei, inzwischen bezeichnet sie sich als parteiunabhängig, unterstützt allerdings viele Vorhaben des linksreformistischen Präsidenten Gabriel Boric.
«Wir haben eine Krise der Sicherheit», betont sie. Viele Nachbarn kämen auf sie zu mit der Angst, ausgeraubt zu werden. «Man fordert von uns, zu handeln.» Und das tut sie, mit Kameras, Nachbarschaftsvereinigungen und der Schaffung eines eigenen Sicherheitsdienstes. Denn laut Leitao fehlt es in Peñalolén an ständiger Polizeipräsenz.
Polizei ist schlecht vorbereitet
Die gegenwärtige Sicherheitskrise sei daher auch eine Krise der Polizei, meint die Politologin Alejandra Mohor von der Universidad de Chile. In Chile zeige sich eine neue Handlungsweise der organisierten Kriminalität, auf welche die Sicherheitskräfte wenig vorbereitet seien. «Es fehlt an investigativen Kapazitäten», meint Mohor und ergänzt mit einem frustrierten Ton: «Doch anstatt eine Reform und Modernisierung der Polizei voranzutreiben, beharrt die Politik auf einer erhöhten Feuerkapazität für die einzelnen Polizisten.»
Mohor sagt, die Führungsriege wehre sich gegen sämtliche echten internen Reformen. Denn seit Jahren häufen sich die Korruptionsfälle in der Polizei. Der ehemalige Direktor der Kriminalpolizei musste im März 2024 zurücktreten, nachdem bekanntgeworden war, dass er Bekannte vor Ermittlungen gegen sie gewarnt hatte. Der Generaldirektor der Carabineros, der anderen grossen Polizeieinheit, steht kurz vor einer Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen während der Niederschlagung der Proteste von 2019.
Hinzu kämen institutionelle Missstände, welche die Arbeitszeit und Sicherheit für die unteren Polizeiränge beträfen, so Mohor. Diese führten etwa dazu, dass viele Polizisten in gefährliche Situationen gebracht würden. Dies könne erklären, warum viele Polizisten sich lange Zeit krankschreiben liessen oder den Dienst quittierten. Deshalb finde man auch nicht genug Polizeischüler, so Mohor.
Zurück zu Sepúlveda. Er wäre froh, wenn die ganze Panik rund um die Sicherheit anders gelöst würde. Es brauche mehr soziale Verbesserungen in den Randvierteln und weniger Gewaltphantasien gegen mutmassliche Kriminelle. Dabei erinnert er auch an ein historisches Versagen in seinem Viertel. «Woher, denkst du, kommen all die Waffen?», fragt er rhetorisch und antwortet gleich selbst: «Schliesslich haben wir um die Ecke eines der Polizeikommissariate mit der höchsten Verlustrate bei Schusswaffen im ganzen Land.»