Zwischen den USA und China drohe eine schmerzhafte Entkopplung, sagt der Geschichtsprofessor. Er kritisiert, dass in der Schweiz nun manche Politiker eine raschere Anbindung an die EU fordern.
Donald Trump hat einen Rückzieher gemacht und eine Zollpause verfügt. Ist damit der «dümmste Handelskrieg der Geschichte», so die Wortwahl des «Wall Street Journal», schon wieder vorbei?
Das grösste Problem ist aus dem Weg geräumt. Die Risiken sind jetzt geringer.
Wobei die sogenannten «reziproken» Zölle nur für 90 Tage aufgeschoben, nicht aufgehoben wurden.
Richtig. Und drei Monate werden kaum ausreichen, um mehr als 70 neue Handelsverträge abzuschliessen. Es ist daher denkbar, dass die Frist im Sommer noch einmal verlängert wird.
Noch vor wenigen Wochen hätten Beobachter einen Grundzoll von 10 Prozent, Zölle von 145 Prozent gegenüber China und 25 Prozent auf Stahl- und Aluminium als massiv bezeichnet.
Das stimmt. Die Situation ist immer noch unbefriedigend. Aber mit 10 Prozent kann die Schweizer Exportindustrie vorerst leben – mit 31 Prozent hingegen nicht. Und gegenüber China war es unvermeidlich, dass es irgendwann zu einer Konfrontation kommt. Der momentane Zollkrieg ist zwar höchst schädlich und wird hoffentlich bald wieder beendet. Aber mit China kann es nicht weitergehen wie bisher.
Warum nicht?
China verletzt systematisch die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Der jüngste Report des US-Handelsministeriums, der noch von der Biden-Regierung stammt, führt eine unglaublich lange Liste mit Verletzungen auf. Ich verstehe gut, dass ein US-Präsident das nicht mehr tolerieren will.
Was sind das für Verletzungen?
Es geht vor allem um Verletzungen geistiger Eigentumsrechte und massive Subventionen, die China geschickt verschleiert. Zudem werden ausländische Firmen und Investoren systematisch diskriminiert oder gar nicht zugelassen. Auch die WTO kritisiert dies, obschon in diplomatischeren Worten. Ich bin überzeugt: China hat zuerst begonnen, die regelbasierte Welthandelsordnung auszuhöhlen. Nicht die Amerikaner.
Wenn China das Problem ist, warum bestrafen die USA auch alle anderen Staaten?
Das ist in der Tat nicht nachvollziehbar und für Amerika ein Eigentor.
Zur Person
Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann
Tobias Straumann ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Ob Aktiencrash, CS-Zusammenbruch oder Handelskrieg: Wenn es wirtschaftspolitisch brenzlig wird, tritt Straumann regelmässig in den Medien auf und ordnet die Ereignisse in den grösseren Kontext ein. (jab.)
China versucht, sich international als Verfechterin des Freihandels und der WTO zu präsentieren. Wie finden Sie das?
Sehr geschickt, aber es entspricht nicht den Tatsachen. Der Höhepunkt der Täuschung war, als sich Xi Jinping im Jahr 2017 am Davoser Weltwirtschaftsforum für den Freihandel starkmachte und er dafür von der versammelten Wirtschaftselite gefeiert wurde.
China hat die Handelsbeziehungen in den letzten Jahren aber ausgebaut.
Natürlich macht China den verschiedenen Ländern verlockende finanzielle Angebote. Aber beispielsweise bei der Belt-and-Road-Initiative ist die Begeisterung verflogen. China musste viele Kredite abschreiben. Auch in Afrika hat der Ruf Chinas stark gelitten, denn die Infrastrukturprojekte fokussieren sich auf die Rohstoffzentren, weniger auf den Aufbau eines umfassenden Strassen- oder Eisenbahnnetzes, wie es sich die afrikanischen Staaten erhofft hatten.
Wie beurteilen Sie heute, dass China im Jahr 2001 der WTO beitreten durfte?
Rückblickend war das wohl ein Fehler, denn die schlagartige Öffnung der Märkte für chinesische Waren hat starke innenpolitische Verwerfungen ausgelöst. Das würde man heute vorsichtiger angehen. Wenn chinesische Behörden von der WTO für einen Regelverstoss gerügt werden, versprechen sie stets Besserung – und machen am Ende doch weiter wie bisher. Es reicht nicht, mit Peking zu reden.
Was empfehlen Sie zusätzlich?
Es braucht eine Politik des Containment, also eine Eindämmungspolitik wie im Kalten Krieg, wie sie der Hongkonger Professor Frank Dikötter empfiehlt. Nur so kann man sich gegen Chinas Praktiken schützen. Das ist aber anspruchsvoll und muss langfristig angelegt sein. Die Kommunistische Partei sucht den Systemwettbewerb und versucht, das westliche Modell zu schwächen. Das haben wir allzu lange unterschätzt.
Aufgrund von Trumps Zollpolitik suchen viele Staaten nun aber die Nähe zu China. Die EU und China haben diese Woche über eine Intensivierung ihrer Handelsbeziehungen gesprochen.
Das ist taktisch klug, um Eigenständigkeit zu signalisieren. Aber der EU wird es schwerfallen, gegenüber China offen zu bleiben. Vor dem Zollschock von Trump hat sie ja bereits protektionistische Signale ausgesendet und zum Beispiel die Zölle auf chinesische E-Autos massiv angehoben. Und sollten die USA weiterhin chinesische Importe blockieren, wird China sich verstärkt Europa zuwenden, um mit Dumpingpreisen Marktanteile zu gewinnen. Europa wird das nicht akzeptieren können.
Europa soll sich also gegenüber China besser schützen?
China hat riesige Überkapazitäten und inländische Probleme, etwa mit dem Immobiliensektor und einer deflationären Preisentwicklung. Das Land will mittels einer schwächeren Währung und einer Exportoffensive diese Überkapazitäten nutzen, um sich aus der Krise zu befreien. Die Umstellung auf ein vom Binnenkonsum getragenes Wirtschaftsmodell kommt nicht vom Fleck, obwohl die chinesische Führung schon lange davon spricht.
Wenn China nicht als Alternative taugt, muss Europa ein Auskommen finden mit den USA. Doch das transatlantische Verhältnis scheint stark zerrüttet.
Das ist richtig. Der US-Präsident und seine Regierung haben die EU überhaupt nicht gern. Die transatlantische Zusammenarbeit ist deswegen aber nicht vorbei. Trumps strategische Ziele sind klar: China ist der Hauptgegner, und alle anderen Konflikte sollen eingedämmt oder finanziell nicht mehr von den USA getragen werden. Trump hat nie gesagt, er sei nicht mehr an der Nato interessiert. Es gab nie eine offizielle Aussage in diese Richtung. Vielmehr ging es stets um die Forderung, dass Europa mehr zahlt. Aus amerikanischer Sicht macht ein totaler Rückzug aus dem militärischen Bündnis mit den Europäern überhaupt keinen Sinn.
Aber es gab in Amerikas Geschichte durchaus Phasen des Isolationismus, in denen sich die USA auf die eigene Scholle zurückzogen.
Das war nach dem Ersten Weltkrieg der Fall. Damals gab es aber noch kein vergleichbares Bündnis wie die Nato heute. Das heisst, es fand damals kein Rückzug aus einer bestehenden Struktur statt. Und nach 1945 übernahmen die USA dann die Position als Weltmacht – und haben sie seither nicht aufgegeben. Es hat ihnen viele Vorteile gebracht.
Wer kann es sich eher leisten, im Zollkrieg hart zu bleiben: die USA oder China?
Amerika ist in einer stärkeren Position, weil es weniger vom Aussenhandel abhängig ist als China. Zudem hängt das chinesische Wachstumsmodell von einem grossen Exportüberschuss ab. Wenn also der US-Markt wegfallen würde, wäre dies ein herber Verlust. Aber wichtiger ist, dass beide Volkswirtschaften immer noch stark miteinander verflochten sind. Wenn die Zölle so hoch bleiben sollten, wird auch die amerikanische Wirtschaft einen massiven Schaden erleiden. Es gäbe nur Verlierer.
China hat aber ein finanzielles Druckmittel: Es hält viele US-Staatsanleihen und hilft, die amerikanische Überschuldung zu finanzieren.
Das ist eine stumpfe Waffe. Der chinesische Anteil ist zu gering, um die USA in die Knie zu zwingen. Zudem bilden US-Staatsanleihen die Grundlage des globalen Finanzsystems.
Auch nach dieser Woche, in der die Papiere unter Druck kamen?
Ja, für diese Papiere gibt es immer Käufer. Das kann sich eines Tages ändern, aber nicht von heute auf morgen.
Wenn in der Weltwirtschaft künftig einem amerikanischen Block ein chinesischer Block gegenübersteht, muss man sich als kleines Land für eine der beiden Seiten entscheiden?
Jetzt noch nicht. Aber das wird kommen, vor allem bei sicherheitspolitisch relevanten Themen. Das ist unvermeidlich angesichts des Systemwettbewerbs und zeichnet sich schon lange ab. Denn beide Seiten arbeiten auf eine Entkopplung hin.
Wie soll sich die Schweiz jetzt verhalten?
Sie soll offen und mit allen im Gespräch bleiben. Sie soll sich nicht auf eine Seite schlagen, solange sie das nicht muss. Sich auf Vorrat zurückzuziehen, ist nicht zu empfehlen.
Wie lange geht das gut?
Die Amerikaner sind hier entscheidend. Wenn sie einem Kleinstaat etwas diktieren, kann dieser kaum dagegenhalten.
Manche Schweizer Politiker sagen, dass stabile Beziehungen zur EU nun noch wichtiger geworden seien: Die Schweiz solle nun zügig das Vertragspaket ins Trockene bringen. Wie sehen Sie das?
Es ist auffällig, wie jedes Ereignis zu einem Argument für eine Annäherung an die EU gemacht wird. Alle wollen in einer Krise immer strategische Weitsicht beweisen. Dabei wäre es genau in solchen Momenten wichtig, die kurzfristigen Probleme zu lösen und langfristige Entscheidungen zu vermeiden, weil man nicht weiss, wohin die Reise geht. Im Handelskonflikt mit den USA hat sich die Ausgangslage innert einer Woche bereits wieder verändert. Ich sehe keinen Grund, wieso man beim EU-Vertrag nun den Prozess beschleunigen soll. Zuerst muss der Verhandlungstext einmal publiziert werden. In der Vernehmlassung können die Verbände und Parteien dann zeigen, wie begeistert sie effektiv sind.
Was halten denn Sie von den Inhalten, die schon bekannt sind?
Ich lehne den Vertrag ab, weil er uns zu einem Passivmitglied der EU macht. Ich habe auch Zweifel an der Prognose, dass der Vertrag im Konfliktfall mehr Rechtssicherheit und Verlässlichkeit bringen würde. Wenn die Schweiz nicht spurt, wird sie auch in Zukunft damit rechnen müssen, dass die EU sie massregelt. Die Nadelstiche der jüngeren Vergangenheit waren ja auch nicht regelkonform – etwa der Rauswurf aus dem Forschungsprogramm, die Aberkennung der Schweizer Börse und die Weigerung, das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen bei der Medizinaltechnik zu aktualisieren. Warum soll sich das in Zukunft ändern, wenn es hart auf hart kommt? Nicht nur die USA, auch die EU greift bisweilen zu protektionistischen Massnahmen.
Sie sehen überall nur unangenehme Handelspartner für die Schweiz.
Historisch ist das der Normalfall: Die Schweiz hatte immer wieder mit Grossmächten Probleme. Kürzlich bin ich auf eine interessante Quelle aus den 1830er Jahren gestossen, als die Staaten des Deutschen Bundes den Zollverein gründeten. Da war die Debatte in der Schweiz genau die gleiche wie heute. Manche argumentierten, man müsse aus wirtschaftlichen Gründen unbedingt mitmachen. Andere sagten, dass die Schweiz dadurch ihre politische Handlungsfähigkeit aufgeben würde. Die letzten Jahrzehnte, in denen die Schweiz keinem allzu starken Druck von aussen ausgesetzt war, sind historisch ein Ausnahmefall.
Und diese Zeiten sind vorbei?
Eindeutig.
Wie werden die vergangenen Wochen von künftigen Historikern beurteilt werden? War das eine Fussnote der Wirtschaftsgeschichte oder ein radikaler Bruch mit der Globalisierung?
Weniger ein radikaler Bruch, eher ein weiterer Schritt der Neuordnung, die schon längst in Gang ist. Manche Institutionen der Nachkriegszeit, etwa die WTO und ihr Vorläuferabkommen GATT, haben über Jahrzehnte sehr gut funktioniert und die Globalisierung enorm beschleunigt. Nun müssten sie durch neue ersetzt werden, die dann wahrscheinlich ohne China agieren.
Also regionale Verträge statt einer multilateralen Handelsordnung.
Genau, wie es sie auch schon gibt. Ich denke nicht, dass sich die Amerikaner komplett vom Welthandel zurückziehen werden. Aber dass sie wegen China nicht mehr auf die WTO setzen wollen, verstehe ich.
Was bleibt dann noch von der WTO?
Es gibt viele Staaten wie die Schweiz, die sich nach wie vor an ihr orientieren. Aber sie ist natürlich nicht mehr dieselbe wie früher.
Was hätte man bei der Globalisierung besser machen sollen?
Die Globalisierung braucht Bremsen und Puffer, wenn man sie nicht insgesamt gefährden möchte. Ruckartige Liberalisierungen bergen immer die Gefahr, dass es zu einer starken Gegenbewegung kommt. Die Geschichte der Personenfreizügigkeit in der Schweiz zeigt dies geradezu beispielhaft. Sie wird grundsätzlich begrüsst, weil sie die Migration zwischen Nachbarländern vereinfacht, aber sie ist gefährdet, sobald das Tempo der Einwanderung zu hoch wird.
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