Es war Maos Millionenarmee, die Nordkorea 1950 im Krieg gegen den Süden vor der sicheren Niederlage bewahrte. Seither gilt eine eiserne Freundschaft. Allerdings hat sich Pjongjang emanzipiert, seit es über Atomwaffen verfügt. In Peking steigen Verdruss und Nervosität.
Manchmal ist ein Motto erhellender als jede sorgfältige Analyse: «Wenn die Lippen fehlen, dann frieren die Zähne», stellte der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai 1950 lapidar fest, um die Intervention seines Landes in den Koreakrieg und die Vermeidung der Zerschlagung der nordkoreanischen Armee im Zuge der amerikanischen Gegenoffensive unter General MacArthur zu erklären.
Die damalige Logik hat in der Führung der Kommunistischen Partei (KP) Chinas noch heute ihren festen Platz. Allerdings scheint man sie im Zuge von Kim Jong Uns mittlerweile populärem «Katz-und-Maus-Spiel» restriktiv auszulegen: Eine mögliche Unterstützung Pjongjangs durch Peking soll nurmehr dann geleistet werden, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Nordkorea als Pufferzone für China wegfällt.
Ein Kollaps des Regimes von Kim Jong Un ist allerdings unwahrscheinlich. Mit nuklearen Drohgebärden und Atomtests hat Pjongjang in den letzten Jahren nicht nur Unruhe in der Region – vor allem gegenüber Südkorea und Japan – gesät, sondern auch Ängste in den USA geschürt, selbst zur Zielscheibe nordkoreanischer Raketenangriffe zu werden. Im Zuge der seit Beginn des Ukraine-Krieges zunehmend engeren militärischen Zusammenarbeit Kim Jong Uns mit Putin tritt Nordkoreas Diktator immer selbstsicherer auf.
Mit Genugtuung darf Kim feststellen, dass Moskau viel mehr Waffen und Munition benötigt, als die russische Wirtschaft produzieren kann. Im Gegenzug erhält er fortschrittliche Technologie für sein nukleares Aufrüstungsprogramm. Beim Gipfeltreffen zwischen Putin und Kim Jong Un im Juni unterzeichneten die beiden Diktatoren ein Dokument für eine «allumfassende strategische Partnerschaft», was immer diese im Einzelnen bedeutet.
Tücken der Dreiecksbeziehung
Wie aber stellt sich Peking, bis vor kurzem Nordkoreas einziger enger Verbündeter, zu dieser in aller Eile eingegangenen Vernunftehe zwischen Moskau und Pjongjang? Freut man sich über eine potenzielle Ménage-à-trois, oder ist man gezwungen, den eifersüchtigen Partner zu spielen?
Die Beibehaltung des Status quo ist für Peking das primäre Anliegen aus Eigeninteresse. Jahrzehntelang hatte China deswegen für das Überleben Nordkoreas gesorgt, was sich jetzt als Bumerangeffekt erweisen könnte. Denn obwohl sich Peking immer wieder als Mediator zwischen Pjongjang und dem Rest der Welt inszenierte (beispielsweise über die gescheiterten Sechs-Parteien-Gespräche), konnte es den Aufstieg seines eigenwilligen Nachbarn zur Nuklearmacht nicht verhindern. Ein Albtraum, so nationalistische Stimmen in China, die selbst das Szenario eines nuklearen Konflikts zwischen Peking und Pjongjang für möglich halten.
Es ist nicht Pekings Stil, sich von aussen in die Karten schauen zu lassen. Dennoch sind Analysen nötig, auch wenn in ihnen Raum für Spekulationen übrigbleibt. Ohne Zweifel fühlt sich Xi Jinping ob der neuen «Bromance» zwischen Putin und Kim düpiert. Der Kremlherrscher hatte gleich nach seinem Staatsbesuch in Peking im vergangenen Mai vorgehabt, nach Nordkorea weiterzureisen. Peking gelang es laut Medienberichten, den russischen Präsidenten von seinem ursprünglichen Plan abzuhalten, wenngleich sich die Reise lediglich um einen Monat verzögerte.
Allem Anschein nach wollte Xi Jinping nicht den Eindruck erwecken, sein Land lehne sich immer enger an die «neue Achse tyrannischer Staaten», wie die Allianz antiwestlicher Staaten wie Iran, Russland und Nordkorea schon länger genannt wird. Obwohl sich Chinas Präsident über die Rhetorik der beiden nachbarschaftlichen Diktatoren gegen die «imperialistische Politik der USA und ihrer Satelliten» mitgefreut haben dürfte.
Xi Jinping steckt in einer Zwickmühle: Zum einen möchte er Chinas Prestige – zumindest das, was trotz Pekings Nichtverurteilung von Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine übriggeblieben ist – nicht ganz verloren sehen. Trotz den immer engeren Beziehungen zu Russland braucht China aus wirtschaftlichen Gründen den Westen, sowohl als Absatzmarkt wie auch für den Import von Hochtechnologien. Das chinesische Aussenministerium kommentierte den Pakt zwischen Putin und Kim nur kurz und nannte ihn eine «bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und Nordkorea». Der klägliche Tonfall einer verlassenen Mutter über das flügge gewordene Kind war nicht zu überhören.
China: Gewinner oder Verlierer?
Es kann aber auch sein, dass Peking glücklich darüber ist, nicht mehr als Buhmann und alleiniger Nordkorea-Unterstützer dastehen zu müssen. Diese Rolle hat für unbestimmte Zeit Putin übernommen. Trotzdem kann China Pjongjang mehr oder weniger unter dem Radar der Weltöffentlichkeit unterstützen, Uno-Sanktionen hin oder her. Vor wenigen Wochen tauchten Fotografien auf, die Kim Jong Un in einer der neuesten Waffenfabriken seines Landes zeigten – mit offensichtlich in China produzierten Maschinen zur Herstellung von «ultramoderner Präzisionsmunition». Auch Anklagen von Menschenrechtsorganisationen, nordkoreanische Flüchtlinge würden von Peking trotz Aussicht auf Gefängnis oder sogar Hinrichtung zwangsweise in ihre Heimat zurückgeschickt, weist China nach wie vor als «völlig unbegründet» von sich.
Xi Jinping weiss, dass letztlich sowohl Russland wie Nordkorea Chinas Bittsteller bleiben werden: Beide Länder werden ohne Chinas wirtschaftliche oder politische Unterstützung Schwierigkeiten haben, ihre Ambitionen langfristig durchzusetzen. Selbstverständlich ist sich Chinas starker Mann auch bewusst, dass sein Land für Nordkorea im Grunde weit wichtiger ist als Russland. Irgendwann wird der Ukraine-Krieg zu Ende sein und Moskau weniger Waffen aus Nordkorea benötigen. Was hätte Pjongjang dazumal einem Land, das mehr Interesse an strategischer Überlegenheit in Europa denn in Asien hat, noch zu bieten?
Chinas Priorität liegt in erster Linie auf dem Schutz des eigenen Territoriums. Nordkoreanische Nukleartests in unmittelbarer Nähe der nordöstlichen chinesischen Provinzen (Liaoning, Jilin, Heilongjiang) sind für Peking mehr als nur ein Ärgernis. Was, wenn ein solcher Test misslingt und das Gebiet mit seinen fast 100 Millionen Menschen radioaktiv verseucht wird? Schon in der Vergangenheit mussten Schulen und Gebäude wegen solcher Tests im Nachbarland evakuiert werden.
China reagierte in der Vergangenheit stets gereizt auf diese Art und Weise militärischer Kräftedemonstration, worum sich Pjongjang seinerseits keinen Deut scherte. Ähnliches galt, wenn sich amerikanische Spitzenpolitiker wie Jimmy Carter 1994, Madeleine Albright 2000 und jüngst Donald Trump 2019 mit der nordkoreanischen Führungsspitze trafen (erfolglos, wie sich nicht unerwartet erwies), um das Regime von seinem Nuklearwaffenprogramm abzuhalten: Auch bei diesen Annäherungsversuchen der beiden ungleichen Länder zeigte sich Pjongjang ob Pekings Nervosität unbeeindruckt.
Juche contra Sinozentrismus
Seit der Gründung Nordkoreas 1948 (vor dem Zweiten Weltkrieg war ganz Korea eine japanische Kolonie) hat das Verhältnis zwischen Pjongjang und Peking einen Pferdefuss. Und der lässt sich beim besten Willen nicht einfach wegdenken.
Dabei geht es primär um den Streit zweier gegensätzlicher Philosophien: Zum einen ist da Juche, Nordkoreas Eigenständigkeitsideologie, die selbstbewusst und narzisstisch von der Kim-Familie seit Kim Il Sung praktiziert wird. Diesem Gedankengut steht diametral der Sinozentrismus gegenüber, Chinas Überlegenheitssichtweise seit Jahrhunderten. Was einstmals als Tributsystem (wie etwa im Falle Koreas oder Vietnams) begann, wird auch heute noch, unter anderen Vorzeichen, von der KP-Führung praktiziert. Jene hegemoniale Denkweise lässt man, wenn nötig, den Kim-Clan auf der anderen Seite des Yalu- beziehungsweise Tumen-Flusses immer wieder spüren.
Schon während des von Pjongjang vom Zaun gebrochenen Koreakrieges (1950–1953) beklagte sich Nordkoreas Gründervater Kim Il Sung bei Mao über den «Grossmachtchauvinismus» von Peng Dehuai, dem damaligen Oberbefehlshaber der chinesischen Freiwilligenverbände. Zhou Enlai wiederum beklagte sich darüber, dass die Nordkoreaner nur selten Geheimdiensterkenntnisse mit den Chinesen teilten. Mitte der fünfziger Jahre drohte Mao Kim Il Sung gemäss neuen Archivdokumenten offen mit Massnahmen, die auf dessen (mögliche, aber nicht vollzogene) Machtentfernung hindeuteten. Während der Kulturrevolution, bei der Chinas Rote Garden Kim Il Sung als «fetten Revisionisten» brandmarkten, eskalierte der Streit so weit, dass Ministerpräsident Zhou Enlai nach Pjongjang reisen musste, um sich zu entschuldigen.
In den siebziger Jahren wurde klar, dass sich aus der «Allianz der Unterwürfigkeit» eine «Allianz der Trotzbereitschaft» entwickelt hatte (Bernd Schaefer). Über diese Schatten emotionaler Befindlichkeiten zu springen, scheint heute mehr denn je ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Längst hat Nordkorea für China nicht mehr nur einen strategischen Wert, sondern ist mehr und mehr zu einer strategischen Belastung geworden.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die USA und seine Verbündeten aus dieser merkwürdigen «Lippen-Zähne-Konstellation»? Washington muss sich strategisch für einen Krieg an mehreren Schauplätzen gleichzeitig rüsten: Ein Angriff Pekings auf Taiwan würde trotz dem Misstrauen zwischen China und Nordkorea mit Sicherheit auch Pjongjang auf den Plan rufen.
Die USA wären demnach gut beraten, ihre Bereitschaft für die Verteidigung zweier demokratischer Staaten – Südkorea und Taiwan – in einem Strategiepapier offenzulegen. Vor genau 75 Jahren, nach Gründung der Volksrepublik China, führte just das Nichterwähnen dieser beiden Länder zum Koreakrieg: Stalin, dem der streng geheime Bericht (NSC48) des US National Security Council dank einem Spion bekannt war, wusste über diese Nichtbereitschaft der Amerikaner zur Verteidigung der beiden Länder Bescheid und unterstützte Kim Il Sung bei seinem Waffengang gegen den Süden.
Matthias Messmer ist Sozialwissenschafter, Berater und Autor.