Die globale Chipindustrie ist im Umbruch. Der Branchenkenner Jonathan Goldberg äussert zum Konkurrenzkampf um die schnellsten Chips für künstliche Intelligenz, zu Chinas Gegenoffensive angesichts der US-Boykottmassnahmen und zu Intels Überlebenschancen.
Das ging schnell. Die Börsen haben das Gros des Rückschlags bereits wettgemacht. Eine markante Gegenbewegung haben Aktien aus dem Halbleitersektor verzeichnet. Mit Spannung wird der Abschluss von Nvidia am nächsten Mittwoch erwartet.
Angesichts des Booms im Bereich künstliche Intelligenz sind die Quartalszahlen des Chipkonzerns inzwischen ein Makro-Ereignis. «Nvidia ist bei diesen Rechenleistungen, die wir als KI bezeichnen, unantastbar», sagt Branchenkenner Jonathan Goldberg. «Andererseits müssen wir aber bald spannende Anwendungen sehen, damit sich die Bewertung der Aktie rechtfertigt», räumt er ein.
Goldberg weiss, wovon er spricht. Er ist Partner bei der Wagniskapitalfirma Snowcloud Capital im Silicon Valley und berät Unternehmen aus der Elektronik- sowie Halbleiterindustrie. Er kennt sich zudem in China gut aus, wo er rund zehn Jahre gelebt und soeben eine mehrwöchige Geschäftsreise verbracht hat.
In unserem heutigen Interview teilt er seine Gedanken zu Nvidia und zum Konkurrenzkampf um die schnellsten Computerchips. Ausserdem äussert er sich zu Pekings Gegenoffensive angesichts der immer schärferen US-Boykottmassnahmen gegen die chinesische Halbleiterindustrie und zu Intels Überlebenschancen.
Herr Goldberg, im Tech-Sektor dreht sich alles um künstliche Intelligenz. Wie gehen Sie das Thema als Spezialist für den Halbleitersektor an?
Ich versuche zunächst einmal, den Begriff überhaupt nicht zu verwenden. Ich bin mit Science-Fiction aufgewachsen und bis heute ein grosser Fan. Bei künstlicher Intelligenz denke ich an «Star Trek» oder den Computer HAL in «Space Odyssey». Damit haben die heutigen KI-Programme nichts zu tun, denn sie basieren bloss auf linearer Algebra; konkret auf Matrixmultiplikation. Solche Modelle können in mancher Hinsicht überaus nützlich sein, doch das ist keine künstliche Intelligenz im Sinn eines echten Verständnisses der Welt.
Wie lässt sich die Technologie zum heutigen Stand denn besser einordnen?
Es lassen sich drei Kategorien unterscheiden. Die erste ist «KI als Magie»: eine Vorstellung von Computern, die wie Menschen denken und lernen können. Manche Leute behaupten, dass wir greifbar nahe daran sind. Andere wiederum sage, dass es nie dazu kommen wird. Ich weiss es nicht, aber ich glaube nicht, dass es in nächster Zeit passieren wird. Und wenn doch, wird sich die Welt so radikal verändern, dass ich mir darüber keine Gedanken mache.
Was sind die anderen zwei Kategorien?
Am anderen Ende des Spektrums steht «KI als Feature»: die Technologie hilft, Arbeitsprozesse zu erleichtern, für die es bereits Anwendungen gibt. Hier kommen die meisten der KI-Modelle ins Spiel, die wir bisher sehen. Meta Platforms beispielsweise sagt, dass KI die Zuspielung von Online-Werbung um 10% effizienter mache. Das klingt ziemlich langweilig, doch es geht um viel Geld, Hunderte von Millionen von Dollar. Einige Softwareunternehmen berichten wiederum, dass sie die Kosten bestimmter Dienste dank KI um 5 bis 10% senken können. Auch das hört sich nicht sehr aufregend an, aber wenn man alles aufaddiert, ist der Effekt beachtlich. Im Prinzip spielt sich dieser Trend derzeit im gesamten Technologiesektor ab: KI oder neuronale Netze erweisen sich auf kleine, unscheinbare Weise nützlich – und in der Summe macht das einen Unterschied.
Und die dritte Kategorie?
In der Mitte dieser beiden Kategorien befindet sich «KI als Plattform». Das ist der Bereich, um den Google, Meta, Microsoft und alle anderen Tech-Konzerne heute kämpfen: Sie versuchen, neue Anwendungen auf Basis von künstlicher Intelligenz zu entwickeln. Für mich fällt diese Kategorie unter die Überschrift «Wir werden sehen». ChatGPT kam vor fast zwei Jahren auf den Markt, und seitdem hat sich nicht viel getan. Das Programm ist zwar besser geworden, aber es ist nichts wirklich Neues oder Aufregendes mehr.
Wie meinen Sie das?
ChatGPT ist für bestimmte Nischenanwendungen sehr nützlich; etwa zum Programmieren von Computercode oder um Texte zu schreiben, die niemand liest, wie Spam. Das Problem ist, dass es immer noch menschliche Intervention braucht. Vor rund einem Monat veröffentlichte Google eine interne Analyse über den Einsatz von KI-Werkzeugen für Programmierer. Dabei stellte sich heraus, dass etwa die Hälfte der Programmierer die Werkzeuge einsetzt, was zu einer Steigerung des rohen Outputs um 20% führt. Allerdings muss dann mehr Zeit zur Überprüfung und Bearbeitung des Computercodes aufgewendet werden, womit netto nur eine Produktivitätssteigerung von 10% resultiert. KI ist also auch hier eher ein Feature, und über diese eng gefassten Bereiche hinaus gibt es nicht viel, wofür die Technologie nützlich ist. Es gibt noch keine begeisternde Anwendung für Konsumenten.
Dennoch bauen Tech-Riesen wie Microsoft, Google, Meta und Amazon ihre Rechenkapazitäten für künstliche Intelligenz in grossem Stil aus. Werden sich diese Investitionen rentieren?
Da ich für und mit Halbleiterunternehmen arbeite, sehe ich diese Zahlen natürlich gerne. Doch Fragen zur Rendite sind berechtigt. Selbst für diese Grosskonzerne ist das eine Menge Geld. OpenAI, Microsoft und Google, die wahrscheinlich im Lead sind, haben in den letzten anderthalb Jahren alle neue KI-Softwareanwendungen lanciert, mussten die spannendsten dann aber in jedem einzelnen Fall zurückziehen, weil sie nicht ausgereift waren. Es ist daher verständlich, dass hinterfragt wird, wofür diese Investitionen gut sein sollen. Manche Leute sind unglaublich skeptisch. Sie glauben, dass es sich um eine reine Blase handelt, alles zum Scheitern verurteilt ist und in einer Katastrophe endet. Ich bin nicht derart pessimistisch, aber es muss sich allmählich ein greifbarer Wert zeigen.
Der grösste Profiteur dieses Investitionsbooms ist Nvidia. Wie erleben Sie die Euphorie um den Spezialisten von KI-Chips an der Börse?
Es gibt zwei Seiten. Einerseits ist Nvidia bei diesen Rechenleistungen, die wir als künstliche Intelligenz bezeichnen, unantastbar. AMD hat ein paar Produkte, und eine Gruppe von Startup-Firmen versucht, Nvidia zu attackieren, aber sie hinken alle weit hinterher. Nvidia hat einen riesigen Vorsprung, ausgezeichnete Software und ist kurzum eine sehr solide Story. Andererseits müssen wir aber bald spannende KI-Anwendungen sehen, damit sich die Bewertung der Aktie rechtfertigt. Letztlich kann man aber auch zynisch sagen, dass künstliche Intelligenz bloss einen Übergang in der Architektur von Rechenzentren bedeutet: von Anlagen, in denen Intel dominiert, zu Anlagen, in denen Nvidia dominiert. Das ist im Prinzip alles, was aus einer nüchternen, rein finanziellen Perspektive momentan passiert.
Wie, glauben Sie, geht es mit Nvidia an der Börse weiter?
Was ich gerade beschrieben habe, ist sozusagen der Bear Case: Nvidia bleibt der Marktführer, aber der Anteil sinkt von 80% im Markt für Datacenter auf 50 oder 45%. Das Unternehmen bleibt also der Branchenleader, ist aber nicht mehr ganz so dominant. Der Bull Case hingegen basiert darauf, dass diese Erfolgsstory einfach weitergeht und Nvidias Anteil in den nächsten fünf Jahren bei 80% bleibt. Ich denke, wir werden wahrscheinlich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen landen.
Grosse Tech-Konzerne setzen aber auch vermehrt auf hauseigene Chips, wobei Google und Amazon am weitesten fortgeschritten sind. Was spielt dieser Trend für eine Rolle?
Stimmt. Es ist gut möglich, dass Nvidia Anteile im Markt für Cloud-Infrastrukturdienste verliert, im Wesentlichen an die eigenen Kunden. Im Cloud-Bereich entfallen heute etwa 60 bis 70% der Ausgaben für KI-Chips auf Nvidia und 20 bis 30% auf Google. Alle anderen Anbieter weisen keine nennenswerten Zahlen aus. Google verfügt damit bereits über eine beträchtliche Basis eigener Server-Chips. Der Konzern kauft zwar immer noch Nvidia-Chips, doch das dürfte sich ändern. Google, und auch Meta, sind allerdings Spezialfälle, weil sie ihre eigene Softwareumgebung kontrollieren. Bei Amazon ist das anders. Die Cloud-Sparte AWS muss Zugriff auf Server-Chips anbieten, die Kunden wollen, und was sie wollen, sind Nvidia-Chips. Eine Grossbank zum Beispiel, die einen KI-Chatbot einführt, hat kein Interesse, sich auf die Softwareumgebung der Server-Chips von AWS umzustellen.
Wie sieht es demgegenüber bei den Endgeräten aus, sprich bei KI-optimierten PC- und Smartphone-Geräten?
Als ich mich letztes Jahr und Anfang dieses Jahres verschiedentlich mit Anbietern wie Qualcomm, AMD oder Intel traf, wurde mir stets gesagt, dass PC-Geräte mit spezieller Rechenkapazität für KI-Funktionen enormes Potenzial hätten. Doch wenn man dann Fragen stellte wie: «Was können die Verbraucher damit anfangen?», oder: «Warum sollte ich als Konsument mehr Geld für einen KI-PC ausgeben?», herrschte jeweils peinliches Schweigen. Wie gesagt besteht das Problem darin, dass es bis heute keine wirklich spannenden KI-Anwendungen für Konsumenten gibt.
Und wie verhält es sich im Smartphone-Markt?
Smartphone-Geräte verfügen seit Langem über KI-Rechenkapazitäten. Die iPhone-Prozessoren von Apple beispielsweise sind schon seit sechs oder sieben Jahren mit Modulen für maschinelles Lernen ausgestattet. Sie machen beispielsweise ein Foto etwas besser, doch von einer KI-Revolution spricht deswegen niemand. Wir werden mehr von solchen Funktionen sehen. Künstliche Intelligenz als Feature macht das Smartphone etwas besser, wird die Welt aber nicht verändern. Die neuen KI-Funktionen, die Apple im Juni als Apple Intelligence präsentiert hat, sind denn auch alle in eine bereits vorhandene Anwendung integriert. Und soweit ich weiss, wird der Konzern dafür kein Geld verlangen.
Weiten wir den Blickwinkel etwas aus: Welche Unternehmen sind für künstliche Intelligenz am besten positioniert, wenn man sämtliche Stufen der Wertschöpfung im Tech-Sektor betrachtet?
Meine Antwort bleibt Nvidia. Auf technischer Ebene kommen die besten KI-Produkte für Endgeräte von Qualcomm, doch dort ist der Effekt auf den Geschäftsgang begrenzt. Das Problem ist, dass die Gewinne nur in einem engen Segment anfallen: bei Nvidia und bei Unternehmen im Umfeld des Konzerns, zumal KI den Erneuerungszyklus bei Rechenzentren beschleunigt. Hinter den Kulissen finden ausserdem wichtige Veränderungen statt, wie der Konzern seine Systeme auf den Markt bringt. Bisher baute Nvidia primär eigene Server, doch jetzt setzt er vermehrt auf die Kooperation mit anderen IT-Herstellern. Davon profitiert nicht nur Super Micro Computer, sondern auch Dell, HP Enterprises und Auftragsproduzenten aus Taiwan wie Foxconn. Grundsätzlich ist jedes Unternehmen gut aufgestellt, das die Lieferkette für Rechenzentren bedient, doch das ist ein ziemlich kleiner Kreis.
Gilt das auch für Netzwerk-Equipment?
Die Datenlage ist nicht ganz klar. Aber wenn man die Einnahmen grosser Ausrüster wie Cisco Systems und Arista Networks bei KI-Rechenzentren vergleicht, deutet vieles darauf hin, dass der grösste Profiteur auch hier Nvidia heisst. Der Konzern hat vor vier Jahren Mellanox gekauft, einen Anbieter von Netzwerk-Equipment. Dieses Geschäft bringt nun enorm viel Geld ein. Die Übernahme von Mellanox ist wohl einer der lukrativsten M&A-Deals der letzten zehn Jahre.
Ein zentraler Aspekt in der generellen Diskussion um künstliche Intelligenz ist die Rivalität zwischen den USA und China. Sie waren soeben für mehrere Wochen in der Volksrepublik. Was für Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Die Situation ist recht chaotisch. Es kommt viel innovative, fortschrittliche KI-Technologie aus China, vor allem spannende Software. Tendenziell sind chinesische Internetunternehmen besser darin, neue Technologien in Produkte umzusetzen, als amerikanische Tech-Konzerne. Das Paradebeispiel ist TikTok: Die erfolgreiche Social-Media-App ist de facto ein KI-Unternehmen. Ein Teil ihres Erfolgs basiert auf dem Algorithmus, der den Nutzern Kurzvideos zuspielt und auf maschinellem Lernen aufgebaut wurde. Solche Innovationen und Dienste, die sich stark am Verhalten der Nutzer orientieren, wird es noch mehr geben. Mit Mobvoi hat im April zudem das erste reine KI-Unternehmen in Hongkong den Gang an die Börse gewagt. Es ist winzig und schreibt tiefrote Zahlen, aber trotzdem interessant.
Es heisst, die USA sollen weitere Restriktionen erwägen, um China den Zugang zu Halbleitern für KI-Anwendungen zu verweigern. Inwiefern werden chinesische Tech-Konzerne dadurch gebremst?
Es gibt ein paar Dutzend chinesische Startup-Firmen, die KI-Chips entwickeln. Die drei grossen Internetkonzerne – Baidu, Alibaba und Tencent – arbeiten ebenfalls an eigenen KI-Chips. Alibaba ist vermutlich am weitesten fortgeschritten, aber wir wissen nicht viel darüber, da sich alle diese Unternehmen in einer Art Grauzone bewegen. Noch haben sie Zugang zur modernsten Prozesstechnologie der taiwanischen Chipschmiede TSMC. Aber jedes Unternehmen, das ich in China getroffen habe, wollte wissen, wie man sich am besten verhält, um nicht auf der Schwarzen Liste der USA zu landen und den Zugang zu TSMC so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.
Für die Spitzentechnologie des niederländischen Ausrüsters ASML besteht bereits ein Exportverbot. Wie lange kann Chinas Halbleiterindustrie ohne diese Systeme mithalten?
Huawei hat die Welt vor einem Jahr mit einem neuen Smartphone-Prozessor geschockt, der sich als durchaus wettbewerbsfähig erweist und vom chinesischen Halbleiterproduzenten SMIC hergestellt wird. Angeblich basiert er auf einem 7-Nanometer-Verfahren, aber konkurriert mit Chips, die mit einem 5- oder 3-Nanometer-Prozess gefertigt werden. Wie lange China noch mithalten kann, ist indes fraglich. Wahrscheinlich kann SMIC noch bei einer Technologiestufe mitziehen, aber dann geht es ohne die fortschrittlichsten Systeme von ASML nicht mehr. Auch sind die Kosten ausgesprochen hoch. Bei den hochkomplexen Verfahren, auf die SMIC ohne die neuste Prozesstechnologie von ASML zurückgreifen muss, ist die Fehlerquote sehr gross, womit sich aus ökonomischer Sicht gravierende Probleme ergeben. Andererseits wissen wir nicht, wie viel finanzielle Unterstützung SMIC von Huawei und von der chinesischen Regierung erhält.
Dennoch haben Sie nach Ihrer Rückkehr berichtet, dass die Stimmung in der chinesischen Halbleiterindustrie überraschend gut sei. Wie erklären Sie sich das?
Die chinesische Regierung ist tief besorgt über den Zustand der Wirtschaft. Sie hat keine gute Lösung gegen die schwere Krise im Immobiliensektor. Deshalb hat sie sich auf die traditionelle Strategie zur Förderung exportorientierter Unternehmen besonnen. Das bedeutet, dass es jedem Unternehmen gut läuft, das zur Lieferkette der Elektronikindustrie gehört. Wer für ein Halbleiterunternehmen arbeitet, ist daher guter Dinge; die Exporte aus China sind deutlich gestiegen. Viel komplizierter ist es nicht.
Was sind die Konsequenzen dieser Exportoffensive für westliche Halbleiterkonzerne?
Chinas gigantischer Ausbau der Halbleiterproduktion ist beängstigend. Die Dimensionen dieser Investitionen sind gigantisch. Es geht nicht um die schnellsten Chips, um mit TSMC zu konkurrieren, sondern um Massenprodukte, für die ältere Prozesstechnologien ausreichen. Dieser massive Kapazitätsausbau wird vor allem zum Problem für europäische Halbleiterunternehmen wie NXP Semiconductors, STMicroelectronics und Infineon, auf deren Absatzmärkte die chinesische Konkurrenz abzielt. Es handelt sich dabei zwar um relativ einfache Chips mit einem Preis von bloss 5 oder 10 Cent, doch die neuen Fabriken in China sind alle sehr modern und werden entsprechend niedrige Stückkosten haben.
Chinas Kapazitätsausbau betrifft also in erster Linie den Markt für Analog-Chips. Nimmt dadurch auch der Wettbewerbsdruck auf amerikanische Hersteller zu?
In den USA könnte On Semiconductor in Schwierigkeiten geraten. Analog Devices und Texas Instruments dürften etwas besser geschützt sein, weil sie eine engere Beziehung zu ihren Kunden pflegen. Zudem arbeiten sie in der Regel mit grösseren Kunden zusammen, was ihnen ebenfalls etwas mehr Puffer gibt.
Texas Instruments treibt zudem selber einen massiven Kapazitätsausbau voran, was vom aktivistischen Aktionär Elliott Management kritisiert wird. Wie nehmen Sie diese Situation wahr?
Texas Instruments ist ein interessantes Unternehmen, doch es macht sich für Aussenstehende absichtlich so langweilig wie möglich. Es wurde in den letzten zwei Jahren dafür kritisiert, dass es riesige Lager aufbaue und zu viel Geld ausgebe, um die Produktionskapazität zu erweitern. Bei genauerer Betrachtung geht es aber weniger um den Ausbau der Produktion per se, sondern vielmehr um die Modernisierung bestehender Anlagen. Die Fabriken werden zur Verarbeitung grösserer Wafer aufgerüstet, auf die mehr Chips passen – und je mehr Chips auf einen Wafer passen, desto günstiger sind die Stückkosten. Ich vermute stark, dass der Konzern sieht, was in China passiert, und sich dafür rüstet, die niedrigste Kostenbasis unter den westlichen Herstellern zu haben. Im Branchenvergleich dürfte Texas Instruments daher am besten dastehen.
Im Gegensatz dazu sieht es bei Intel nicht gut aus. Der einstige Branchenleader hat Investoren Anfang August mit desaströsen Quartalszahlen geschockt. Wird er überleben?
Ich weiss es nicht, es wird knapp. Intel hat drei Probleme, die sequenziell nacheinander gelöst werden müssen. Das erste Problem besteht darin, den Fabrikationsprozess zu verbessern. Soweit wir wissen, hat das geklappt. Intels nächste Technologiestufe, 18A genannt, kann zwar vermutlich noch nicht ganz mit TSMC mithalten, ist aber wettbewerbsfähig. Mit der nächsten Stufe, 14A genannt, sollte es dann möglich sein, TSMC zu überholen. Das ist eine enorme Leistung. Obschon wir nicht vor Mitte 2025 wissen werden, wie gut der 18A-Prozess in der kommerziellen Produktion funktioniert, glaube ich, dass dieses Problem gelöst ist.
Was sind die nächsten zwei Probleme, die Intel nun lösen muss?
Das Unternehmen braucht zweitens ein Sortiment an wettbewerbsfähigen Produkten. Drittens muss es dann die Fabriken, die es derzeit baut, mit Aufträgen anderer Unternehmen auslasten können. Intels Produkte stossen momentan auf wenig Anklang. Im PC-Markt ist das weniger ein Problem. Der Konzern dürfte zwar weitere Anteile an AMD verlieren, ist aber noch immer gut geschützt. Auch sind die neuen PC-Chips von Qualcomm keine grosse Gefahr. Wesentlich problematischer ist der Markt für Server-Prozessoren, wo Intel dieses Jahr kein konkurrenzfähiges Angebot hat, und wahrscheinlich auch nicht nächstes Jahr. Früher erzielte dieses Segment 30 bis 40% des Konzerngewinns, jetzt macht es Verluste. Das heisst, in den nächsten sechs bis acht Quartalen bleibt unklar, ob Intel den Turnaround schafft – und an Wallstreet ist das eine Ewigkeit.
Für einige Zeit sah es so aus, dass der Konzern auf gutem Weg ist. Wie konnte es zu diesem erneuten Rückschlag kommen?
Wenn Intel wieder bessere Produkte hat und der Herstellungsprozess funktioniert, ist bereits viel erreicht. Helfen sollten auch die bedeutenden Subventionen der US-Regierung. Am meisten beunruhigt mich jedoch, wie überrascht Intel selbst von der enttäuschenden Performance ist. Alle Massnahmen, die der Konzern jetzt angekündigt hat, die Aussetzung der Dividende, den Abbau von Arbeitsplätzen etc., hätten schon vor einem Jahr oder vor zwei Jahren umgesetzt werden müssen. Aufgrund meiner Erfahrungen aus den vielen Jahren, in denen ich mit Intel zu tun hatte, liegt das Problem in der internen Kultur. Ich glaube nicht, dass das Unternehmen akzeptiert hat, wie gut AMD geworden ist, und es hat sich auch noch nicht wirklich mit der Tatsache abgefunden, dass 80% der Ausgaben für Server-Chips derzeit auf Nvidia entfallen.
Braucht es demnach einen Führungswechsel? Sollte CEO Patrick Gelsinger gehen?
Gelsinger ist der einzige Mann, der diesen Turnaround bewerkstelligen kann. In der Branche gibt es nur fünf oder sechs Leute, die so gut sind wie er. Die meisten führen zudem bereits einen anderen Grosskonzern. Er ist kompetent, hat die richtigen Massnahmen eingeleitet, und wenn er jetzt gefeuert werden sollte, würde das die Situation nur verschlimmern. Man könnte das Unternehmen dann genauso gut verkaufen. Es ist nicht seine Aufgabe, Marktprognosen zu erstellen. Intel hat ein Team, das dafür zuständig ist, und ich vermute, dass es dort zu einer Reihe grober Fehleinschätzungen kam.
Bei der Produktion der modernsten Chips kann ausser Intel kein anderer Konzern noch halbwegs mit TSMC und Samsung Electronics mithalten. Kann es sich der Westen aus strategischer Sicht überhaupt leisten, Intel zu verlieren?
Schwer zu sagen. Washington teilt üblicherweise nicht gerne Geld an einzelne Unternehmen aus. Die beste Lösung wäre, wenn Intel Qualcomm, Broadcom und einige anderen grossen Halbleiterkonzerne dazu bringen könnten, sich mit einem Anteil von 10% zu beteiligen. Die Verwässerung bei einer solchen Transaktion würde den bestehenden Aktionären zwar nicht gefallen. Der Kursanstieg, den die Ankündigung auslösen würde, sollte sie jedoch beschwichtigen. Intels Finanzierungsbedarf wäre dadurch gedeckt. Auch wäre es eine klare Validierung des Unternehmenswerts, die den Aktienkurs stützen würde; speziell, wenn manche dieser Investoren gleichzeitig ankündigen könnten, dass sie einen Teil ihrer Chips künftig von Intel produzieren lassen.
Wie realistisch wäre ein solcher Deal?
Es gibt bereits einen Präzedenzfall. Vor fünfzehn Jahren investierte ein Konsortium von Kunden in ASML, damit der Konzern die Entwicklung seiner EUV-Lithografiesysteme vollenden konnte, mit denen heute die modernsten Chips hergestellt werden. Dieser Deal erwies sich für alle Beteiligten als Gewinn. Die Ironie ist allerdings, dass Intel dieses Konsortium seinerzeit anführte, sich dann aber entschied, den Kauf von EUV-Systemen zu verzögern, was den Konzern schliesslich den Vorsprung gegenüber TSMC kostete.
Jonathan Goldberg