Biotech-Start-ups aus China holen rasant auf und fordern Europas Pharmakonzerne heraus. Wer als Investor in die Volksrepublik reist, stellt fest: Beide Wirtschaftssysteme haben für die Entwicklung des Sektors ihre Stärken und Schwächen.
Lange galt Europa als ein Zentrum pharmazeutischer Forschung und Entwicklung. Unternehmen wie Roche, Novartis oder Sanofi setzen weltweit Standards. Die Welt der Pharmaindustrie befindet sich im Wandel und wer im Sektor nach Herausforderern sucht, sollte den Blick nach Fernost richten, von wo eine neue Konkurrenz auf die globale Bühne drängt: Chinas forschungsstarke Biotech- und Pharmafirmen entwickeln sich mit rasantem Tempo zu ernstzunehmenden Mitbewerbern.
Innovationsdynamik: China setzt auf Onkologie und Biologika
Chinas Pharmaunternehmen investieren in einem bislang ungekannten Ausmass in Forschung und Entwicklung. Laut Daten des chinesischen Ministeriums für Wissenschaft und Technologie hat sich das Biotech-Förderbudget des Landes seit 2016 mehr als verdoppelt. Besonders auffällig ist der Fokus auf Onkologie und Immuntherapie.
Der Wettbewerb zwischen China und dem Westen findet nicht nur im Automobil- und Informationstechnologiesektor statt, sondern auch in den Life Sciences. So hatte auch diese Branche ihren DeepSeek-Schock: Summit Therapeutics verkündete im vergangenen Herbst, dass es ein Medikament gegen Lungenkrebs zur Marktreife entwickelt hat, das sich in klinischen Studien als besser erwiesen hat als Keytruda, das mit 30 Mrd. $ pro Jahr umsatzstärkste Medikament überhaupt. Entwickelt wurde der Wirkstoff vom weitgehend unbekannten chinesischen Biotech-Unternehmen Akeso.
Unternehmen wie BeiGene und Hutchmed führen die Innovationswelle an. BeiGene entwickelt unter anderem den BTK-Inhibitor Brukinsa, der mittlerweile in den USA, der EU und China zugelassen ist und stellt damit insbesondere für das US-Pharmaunternehmen AbbVie eine Konkurrenz dar. Hutchmed wiederum hat mit Fruquintinib (Handelsname Fruzaqla) einen Wirkstoff gegen kolorektale Karzinome auf den Markt gebracht, der 2023 von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurde – ein Meilenstein für ein rein chinesisches Produkt.
Im Vergleich dazu agieren viele europäische Pharmafirmen vorsichtiger. Zwar verfügt die Schweiz mit Roche über einen weltweit führenden Onkologie-Spezialisten, doch während Roche kontinuierlich auf inkrementelle Verbesserungen setzt, wagen chinesische Firmen öfter den Sprung zu neuartigen Therapieansätzen.
Start-up-Mentalität versus Konzernstruktur
Viele chinesische Biotech-Firmen wie Zai Lab, Innovent Biologics oder Junshi Biosciences sind erst in den letzten 10 bis 15 Jahren gegründet worden. Diese Unternehmen sind oft schlanker organisiert und gründergeführt. Sie können schneller auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse reagieren.
Chinas Biotech-Boom spiegelt den Aufstieg des Technologiesektors. In beiden Fällen hat sich China in der Wertschöpfungskette nach oben bewegt – von der verlängerten Werkbank des Westens hin zu einem anspruchsvolleren Innovationszentrum, das in Branchen konkurriert, die einst von den USA dominiert wurden. Das Wachstum der Branche hat mehrere Gründe. Zum einen sind viele in Europa und den USA ausgebildete Spitzenwissenschaftler im letzten Jahrzehnt nach China zurückgekehrt und haben so die Entstehung von Biotech-Zentren rund um Schanghai vorangetrieben. Und so wie DeepSeek ein beeindruckendes KI-Produkt entwickelt hat – angeblich mit knappem Budget und begrenztem Zugang zu Halbleitern – sind auch chinesische Biotech-Unternehmen sehr erfinderisch und profitieren von hochqualifizierten und kostengünstigeren Arbeitskräften.
Demgegenüber stehen europäische Grosskonzerne wie Bayer oder Sanofi mit ihren komplexen Konzernstrukturen. Diese bieten zwar Stabilität und regulatorische Erfahrung, führen aber oft zu längeren Entscheidungswegen, weniger Flexibilität und hohen Kosten im Innovationsprozess.
Daher ist es kein Wunder, dass westliche Pharmaunternehmen sich in China nach kostengünstigen Alternativen zur eigenen Forschung umsehen: So hat sich etwa AstraZeneca für nur 185 Mio. $ Vorauszahlung und maximal 1,8 Mrd. $ ergebnisabhängiger Zahlungen ein vielversprechendes GLP-1 Medikament des chinesischen Unternehmens Eccogene gesichert, das oral verabreicht wird und zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Abnehmspritzen und -tabletten von Novo Nordisk und Eli Lilly werden kann. Für AstraZeneca ist dies ein kostengünstiger und deutlich verkürzter Weg zu einem der lukrativsten Märkte.
Regulatorische Anerkennung und Internationalisierung
Ein grosser Erfolgsfaktor europäischer Firmen ist ihr etablierter Zugang zu internationalen Märkten. Die Zusammenarbeit mit den zentralen Akteuren für die Branche, den Arzneimittelbehörden der EU und der Vereinigten Staaten sowie anderen globalen Aufsichtsbehörden, ist dort Routine. Europäische Produkte werden weltweit anerkannt, sowohl im klinischen als auch im regulatorischen Bereich.
Allerdings holen chinesische Firmen auf: Die Zahl der von der US-Aufsichtsbehörde FDA zugelassenen Arzneimittel aus chinesischer Entwicklung steigt. Dennoch bleibt die internationale Anerkennung chinesischer Studiendaten eine Herausforderung. Vorbehalte hinsichtlich Datenqualität und Studienstandards bestehen weiterhin, vor allem in den USA.
China investiert strategisch, Europa zersplittert
Chinas Regierung hat die Pharma- und Biotechbranche als strategisch bedeutsam erkannt. Über Programme wie «Made in China 2025» werden Unternehmen gezielt gefördert. Die Börsen in Hongkong und Schanghai bieten Biotech-Unternehmen vereinfachte Zugangswege zu Kapital, etwa durch die STAR-Market-Initiative.
In Europa hingegen ist die Förderlandschaft zersplittert. Zwar existieren EU-weite Forschungsprogramme wie Horizon Europe, doch der administrative Aufwand ist hoch. Venture Capital für Biotech-Unternehmen ist im Vergleich zu China oder den USA rarer gesät. Start-ups kämpfen oft um Anschlussfinanzierungen oder sehen sich gezwungen, frühzeitig Partnerschaften mit grossen Konzernen einzugehen.
Machtpolitisches Kalkül?
Ein letzter Gedanke zum grossen Interesse Pekings am Pharmamarkt: Im derzeitigen Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China wird bemerkenswert wenig über den grössten Hebel geredet, den China gegenüber dem Rest der Welt hat. Dabei lag 2021 der Anteil Chinas am Weltmarkt für Vorprodukte von Antibiotika bei 44,5%. Die USA werden auch ohne die seltenen Erden auskommen, von denen China sie nun abgeschnitten hat. Aber ohne Antibiotika? Das möchte man sich nicht ausmalen. Im Westen sollte es jedenfalls niemanden überraschen, wenn das politische Kalkül der Chinesen nicht auch diesen Aspekt berücksichtigen würde.
US-Präsident Donald Trump hat die US-Pharmakonzerne bereits aufgefordert, mehr Medikamente in den USA herzustellen. Er begründete dies auch mit dem Ziel, die Abhängigkeit von anderen Staaten zu verringern.
Fazit: Europa muss reagieren, ohne zu kopieren
Der Aufstieg chinesischer Pharmaunternehmen ist beeindruckend. Mit einem klaren Fokus, hoher Agilität und strategischer Förderung holen sie in Bereichen wie Onkologie und Immuntherapie rasant auf.
Für Europa ergibt sich daraus ein doppelter Auftrag: Zum einen gilt es, die eigenen Stärken – regulatorische Kompetenz, klinische Exzellenz und therapeutische Breite – selbstbewusst zu nutzen. Zum anderen braucht es mehr Mut zur Geschwindigkeit, mehr Wagniskapital und agilere Innovationsprozesse. Statt China zu kopieren, sollte Europa lernen, eigene Strukturen neu zu denken – und auf diese Weise seine Vorreiterrolle in der globalen Pharmaforschung langfristig zu sichern.
Für Investoren heisst dies, dass sie immer mehr eine aktive und selektive Anlagestrategie verfolgen und auch den Blick über den Tellerrand hinaus richten müssen. Sie sind gut beraten, gezielt in Unternehmen mit innovativen Ansätzen oder dominierenden Positionen in ihren Marktsegmenten zu investieren und gleichzeitig solche zu meiden, die zu stark von einem einzigen Produkt abhängig sind oder wenig Innovationspotenzial zeigen.
Zur Person
Georg von Wallwitz ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der unabhängigen Vermögensverwaltung Eyb & Wallwitz in München. Er hat Mathematik und Philosophie studiert und mehrere Bücher über Finanz- und Wirtschaftsthemen veröffentlicht. Eyb & Wallwitz ist mit einem verwalteten Vermögen von mehr als 3 Mrd. € einer der grössten in Deutschland für die Finanzportfolioverwaltung zugelassenen unabhängigen Verwalter.