Mit ungewöhnlich deutlichen Worten beschreibt der Ministerpräsident Li Qiang die wirtschaftlichen Probleme des Landes. Seine Rezepte zielen darauf ab, dass die Chinesen mehr konsumieren sollen.
Als Chinas Ministerpräsident Li Qiang am Mittwoch vor die knapp 3 000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses (NVK) trat, brauchte er nicht sehr lange, um die Kernpunkte der chinesischen Wirtschaftsmalaise zu benennen: «Die Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind nicht stark genug, und die effektive Nachfrage, besonders der Konsum, ist schwach», sagte Li in seinem mit Spannung erwarteten Arbeitsbericht in der Grossen Halle des Volkes in Peking. Ausserdem gebe es Druck auf die Löhne und den Arbeitsmarkt. Manche Unternehmen hätten zudem Probleme, die Produktion aufrechtzuerhalten, und lokale Regierungen hätten mit «fiskalischen Problemen» zu kämpfen.
Treffender kann man Chinas wirtschaftliche Schwierigkeiten kaum beschreiben. Doch trotz den grossen Herausforderungen solle das Bruttoinlandprodukt (BIP) Chinas in diesem Jahr um «rund 5 Prozent» wachsen, sagte Li am Mittwoch. So haben es die Machthaber der Kommunistischen Partei in geheimen Sitzungen während der vergangenen Wochen festgelegt.
Zweifel an der offiziellen Zahl des Wachstums
2024 wuchs die chinesische Wirtschaft nach offiziellen Angaben um 5 Prozent und erreichte damit exakt das von der Regierung vor einem Jahr vorgegebene Wachstumsziel. Es gibt allerdings Experten, die diese Darstellung anzweifeln. Sie glauben, dass das Wachstum im vergangenen Jahr weniger als 3 Prozent betragen habe.
Die Regierung, auch das zeigte Lis Vortrag, scheint in grösster Sorge um die soziale Stabilität im Land zu sein. Die Formulierung des «Wohlergehens der Menschen» zieht sich wie ein roter Faden durch den 43-seitigen Arbeitsbericht.
Viele Chinesinnen und Chinesen haben im vergangenen Jahr ihre Arbeitsplätze verloren, zahlreiche Betriebe mussten schliessen, und Behörden und Unternehmen im ganzen Land können ihren Mitarbeitern die Saläre nicht mehr zahlen. Die Zahl der lokalen Proteste wegen nicht gezahlter Saläre und Fabrikschliessungen hat im vergangenen Jahr zugenommen. Kein Wunder, dass sich die Regierung vor grösseren Aufständen fürchtet.
Vorsichtige Zeichen der Erholung
In jüngster Zeit zeigte die chinesische Wirtschaft vorsichtige Zeichen der Erholung. So fielen in einigen Grossstädten nach drei Jahren mit kräftigen Rückgängen die Preise für Immobilien kaum noch. Während des chinesischen Neujahrsfests Ende Januar gaben Chinesinnen und Chinesen auch wieder mehr Geld für Kino- und Restaurantbesuche sowie für Reisen aus als vor der Corona-Pandemie.
Chinas Regierung hofft, die positive Entwicklung in diesem Jahr verstetigen zu können. Der Ministerpräsident Li führte dazu in seinem Arbeitsbericht eine ganze Reihe von Massnahmen auf. So will die Zentralregierung die öffentlichen Ausgaben erhöhen, das Haushaltsdefizit soll auf 4 Prozent steigen – ein neuer Rekord. Ausserdem soll die Zentralbank auf eine «angemessen lockere Geldpolitik» einschwenken. Zuletzt galt diese während der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009.
Mit mehr Geld will die Regierung den Immobiliensektor und die Banken stabilisieren. Ausserdem will Peking den Lokalregierungen bei der Bewältigung ihrer Schuldenprobleme helfen, erklärte Chinas Regierungschef.
Die Menschen sollen wieder mehr Geld ausgeben
Wichtiger noch ist der Regierung aber, dass die Menschen wieder mehr Geld für Anschaffungen, Reisen und Restaurantbesuche ausgeben. Die Ankurbelung des privaten Verbrauchs ist der Regierung in diesem Jahr das wichtigste Anliegen.
Darum will Peking umgerechnet knapp 37 Milliarden Franken für ein recht eigenwilliges Programm bereitstellen. Dabei können die Menschen etwa ausgediente Hausgeräte, Handys, Tablets oder Autos zurückgeben und im Gegenzug neue Geräte oder Fahrzeuge zu einem reduzierten Preisen erwerben.
Darüber hinaus plant die Regierung, das Angebot an «hochwertigen Produkten und Dienstleistungen» zu erweitern. Mehr Ferien sollen ausserdem dafür sorgen, dass Chinas Bürger mehr Zeit zum Konsumieren haben.
China hat genug Autobahnen, Flughäfen und Bahnhöfe
Allerdings werden diese grösstenteils angebotsseitigen Massnahmen kaum dazu führen, dass Chinas Wirtschaft langfristig auf ein gesünderes Fundament gestellt wird. Jahrzehntelang trieben grösstenteils öffentliche Investitionen das Wachstum. Doch nach mehr als vier Jahrzehnten mit teilweise rapidem Wachstum werfen solche Investitionen kaum noch Erträge ab. China hat genug Autobahnen, Flughäfen und Bahnhöfe.
Folglich muss fortan der private Verbrauch mehr zum Wachstum beitragen. Seit Jahren macht der Privatkonsum in China 38 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. In Europa sind es zwischen 50 und 60 Prozent, in den USA fast 70 Prozent.
Es sind vor allem strukturelle Hindernisse, die dafür sorgen, dass viele Chinesen lieber sparen, statt ihr Geld für Reisen und grosse Anschaffungen auszugeben.
So sind gerade in den ländlichen Regionen die sozialen Sicherungssysteme noch immer unterentwickelt. Lis Bericht liefert allerdings wenig Konkretes, um hier Abhilfe zu schaffen. So plant Peking lediglich, die Pensionen in «angemessenem Umfang» anzuheben, ohne eine Zahl zu nennen. Einzig: Die Mindestrente für Landbewohner soll um umgerechnet 3 Franken pro Monat steigen. Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.
Keine Reform der Krankenversicherung in Sicht
Auch beim Ausbau der Krankenversicherung ist kein grosser Wurf in Sicht. Der Ministerpräsident Li erklärte lediglich, der staatliche Zuschuss zur Krankenversicherung für Landbewohner werde um umgerechnet 4 Franken im Monat steigen.
Beim lange propagierten Umbau des sogenannten Hukou-Systems beliess Li es ebenfalls bei allgemeinen Ankündigungen. Dem überwiegenden Teil der rund 300 Millionen Wanderarbeiter bleibt in den Städten, in denen sie arbeiten, der Zugang zu staatlichen sozialen Einrichtungen sowie Kindergärten und Schulen versperrt. Sie dürfen dort weiterhin nicht ihren offiziellen Wohnsitz anmelden.
Bisher ist die Regierung über einige Lockerungsversuche in kleineren Städten nicht hinausgekommen. Könnte Peking sich dazu durchringen, das System der Haushaltsregistrierung abzuschaffen oder umfassend zu liberalisieren, würde dies enorme Kaufkraft freisetzen. Den Wanderarbeitern bliebe mehr Geld für den Konsum.
Auch wegen solcher Versäumnisse bezweifeln viele Experten, dass China sein Wachstumsziel erreichen wird. Die China-Analysten der UBS rechnen für dieses Jahr mit einem Wachstum von 4 Prozent. Die in New York ansässige Rhodium Group geht von einem Zuwachs des BIP zwischen 3 und 4,5 Prozent aus, die Weltbank rechnet mit 4,5 Prozent.