Ein Interview der etwas anderen Art zum Abschied: Der scheidende Pfarrer erhält Bibelzitate vorgelegt, die er frei und unvorbereitet aufgreift.
Wir sitzen auf dem harten Holz der Stabellen in der geschichtsträchtigen Zwinglistube der Helferei Grossmünster in Zürich; ein grüner Kachelofen in der Ecke, ein altes Chorgestühl an der Wand. Pfarrer Christoph Sigrist ist auf den Vorschlag für ein spezielles Interview ganz im reformierten Geist eingegangen: Statt Fragen erhält er Bibelzitate vorgelegt, auf die er sich nicht vorbereiten konnte. Er zieht eine winzige, weinrote Bibel aus der Hosentasche, um gelegentlich etwas nachschlagen zu können, und stellt sich der Aufgabe mit Verve und Lust.
Herr Pfarrer Sigrist, nehmen wir als ersten Bibelvers einen der berühmtesten: «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.»
Christoph Sigrist: Ja, ich halte es für wahr, dass die Welt nicht aus sich heraus entstanden ist. Der naturwissenschaftliche Ansatz verbindet das mit dem Bild des Urknalls, der biblisch-theologische mit der Schöpfung: Gott hat die ganze Welt erschaffen, und zwar mit dem Minus und dem Plus. Der Ursprung dieses Gedankens war die Katastrophe der Vertreibung der Israeliten ins Exil. Da merkten die Priester beim Tigris im heutigen Irak, dass man anders von Gott und der Welt zu denken beginnen musste: Sie wiesen ihm nicht mehr nur das Gute und dem Teufel das Schlechte zu, sondern sahen Gott als jenen, der beides schafft. So fällt man auch nicht aus seinen Händen, wenn etwas Böses geschieht. Als Pfarrer erlebe ich aber noch oft dieses «Herr der Ringe»-Denken: Gott ist weiss, das Böse schwarz. Doch es gibt diese fünfte Dimension der Realität, ähnlich wie in der Mathematik, und das steht nicht in Konkurrenz mit den Naturwissenschaften.
«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.»
Das, verdammt noch mal, ist doch, was auch eine säkularisierte Öffentlichkeit noch mit christlichem Glauben verbinden kann! Dabei handelt es sich um ein Erbe der jüdischen Tradition. Und Sie haben, wie es in diesem Fall leider meist geschieht, nur die eine Hälfte der Wahrheit zitiert. Der erste Teil des Satzes lautet nämlich: «Du sollst Gott lieben mit deiner ganzen Seele, deinem Herzen, deiner Kraft und mit deinem Verstand». Diese Stimmgabel erst bringt die zweite in Schwingung, jene der Nächstenliebe. Und wir sind Gott ebenbildlich, indem wir seine Schwingungen aufnehmen und für die Liebe gestimmt sind. Dabei schwingen wir stets zwischen zwei Polen: Urvertrauen und Urangst. Darum ist der Glaube immer mit Zweifel verbunden, er wächst wie das Urvertrauen in der Krise. Fundamentalisten behaupten umgekehrt, man sei gegen Krisen gefeit, wenn man nur glaube.
«Also kommt der Glaube aus der Predigt.»
Das Wort Gottes ist nicht die Heilige Schrift selbst, es ereignet sich, wenn ich mit Verstand alles Menschenmögliche tue, um den Text ins Heute auszulegen. Das kann nur im öffentlichen Raum passieren, das war für die Reformatoren zentral. Wenn es dann beim Hören unverhofft zündet und ich glaube, dass das Gehörte mir gilt, dann rede ich vom Wort Gottes. Ich vergleiche das Predigen mit dem Erzählen eines Witzes, den Glauben mit dem Lachen, das aus dem Hören kommt. Ist ein Witz schlecht erzählt, ist es absurd zu fordern, jetzt zu lachen. So hat auch Glauben nie mit Müssen zu tun.
Sind nicht viele Predigten beliebig geworden, da die Verkündigung dieses Glaubens nicht mehr in ihrem Zentrum steht?
Nein, mit Beliebigkeit hat das nichts zu tun, das sind alles Sprachsuchbewegungen: In Stein im Toggenburg, an meiner ersten Pfarrstelle, lernte ich ein Jahr lang die Sprache der dortigen Bauern, bis ich so predigen konnte, dass der Köbi vom Miststock sagte: «Jetzt habe ich zum ersten Mal verstanden, was du gesagt hast!» Ich habe die Sprache zu finden, mit der ich meine Gemeinde erreichen kann. Und wenn ich im Grossmünster an Heiligabend vor tausend Leuten predige, ist es für mich unsagbar schwierig geworden, alle zu erreichen. Und bei meinen Konfirmanden, das muss ich selbstkritisch anmerken, fallen meine Predigten meist durch. Sie wollen lieber selbst partizipieren, musizieren, vorlesen. Offenbar ist ein viertelstündiger Vortrag ohne Powerpoint-Präsentation in Zeiten von Social Media für viele gar nicht mehr hörbar.
Was schliessen Sie daraus?
Der Sonntagsgottesdienst ist nicht mehr exklusiv der Ort, an dem Glaube entsteht. Was Glaube an seinen vielfältigen Orten auszeichnet, hat aber immer mit Gemeinschaft zu tun und mit der gemeinsam formulierten Hoffnung: Wir setzen heute nochmals ein Apfelbäumchen, wenn die Welt morgen untergehen sollte.
Womit auch Martin Luther die Reverenz erwiesen wäre. Dazu passt aus dem Alten Testament: «Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter unter den jungen Männern. In seinem Schatten begehrte ich zu sitzen, und seine Frucht war meinem Gaumen süss.»
Das ist wohl der Vers aus dem Hohen Lied, den ich am häufigsten als Trauspruch verwendet habe. Und bei manchen Liebesbriefen an meine Frau – ich war 21, sie 18 – habe ich mich zu einem grossen Teil aus dem Hohen Lied bedient. Ich gestand es ihr später. Warum fand aber eine erotische Ansammlung von Liedern aus der Zeit zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. überhaupt Aufnahme in der Bibel? Das diente den Rabbinern als Metapher für das Verhältnis von Gott zu seinem Volk, später symbolisierte es jenes von Christus zur Kirche. Da sind wir wieder am Punkt, dass die Sprache des Glaubens die Sprache der Liebe ist. «Glaube» ist ein unglaublich schwieriges Wort geworden, das die meisten nur triggert. Wer aber Liebende sieht, die einander hundertprozentig vertrauen, weiss: Glaube ist Vertrauen. Und man kann ihn, wie die Liebe, weder befehlen noch einfordern, sonst führt es immer zu Kriegen.
«Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, wird es gewinnen.»
In die Sprache der Liebespoesie gesetzt, heisst das: Der Geliebte verliert sich in der Geliebten, findet sich in ihrem Herzschlag neu. Die Liebe ist die einzige Kraft, die einen überrascht, indem man sich verlieren kann und sich dabei umso mehr findet.
Auf dem Banner von Glaubenskriegern könnte dieser Vers für ganz anderes stehen.
Dann wird es schwierig, ja: Die Frucht davon wären Folter, Krieg und Tod.
«Das Sinnen des Fleisches ist Tod, das Sinnen des Geistes aber ist Leben und Frieden.»
Da erweist sich Paulus als griechisch inspirierter Theologe, der sein hebräisches Gedankengut um- und weiterinterpretierte. Er hat die Polarität von Geist und Fleisch, von Gut und Böse wirkungsvoll in eine zweitausendjährige abendländische Geschichte eingepflanzt, die Descartes später gefährlich zuspitzte. Ich halte diese Teilung bis heute für hochproblematisch, da spielt auch die Genderthematik hinein, denn es werden damit auch Frau und Mann separiert und hierarchisiert; das habe ich von feministischen Theologinnen namentlich aus Südamerika gelernt. Das führte so weit, dass Luther wie Zwingli ernsthaft fragten, ob die Frau auch eine Ebenbildlichkeit Gottes habe. Das alles hat so starke Bremsspuren und Ausgrenzungen zur Folge, dass man es überwinden muss. Da würde ich gerne mit Paulus über ein alternatives Denkmodell diskutieren. Und ich behaupte, er würde nicht schweigen, sondern eine Lösung vorlegen.
«Der Herr sagt: Ich hasse eure Feste und kann eure Feiern nicht ausstehen (. . .). Und eure Speise- und Schlachtopfer sind mir zuwider! Möge aber das Recht heranrollen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein Fluss, der nicht versiegt.»
Das ist die DNA meines Glaubens und meines Lebens, wie Vater – der Diakon war – und Mutter es mir mitgegeben haben: Ich kann auf der Kanzel noch so hochintellektuell und theologisch tiefsinnig reden – wenn ich am Montag auf der Gasse nicht einlöse, was ich am Sontag predige, ist es gar nichts. Die Ethik ist das Recht und der Schutz allen Lebens, sie gehört zu den drei Bausteinen jeder Religion. Der zweite ist der Mythos, er macht einsichtig, woher ich komme. Der dritte ist das Ritual als Fluchtort der drängendsten Frage des Lebens: Wer bin ich, dass ich so oft mache, was ich nicht will, aber kaum je, was ich will? Das, sagt Paulus, sei Sünde. Ich brauche das Ritual, um dieses Dilemma immer wieder anzuschauen und verändert rauszukommen.
Wenden wir uns ein paar der Zehn Gebote zu . . .
. . . auch das noch!
«Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.»
Das ist hochaktuell: Gott wird in den Dreck gezogen, wann immer in seinem Namen Menschen vergewaltigt, gemordet, ausgegrenzt, diffamiert werden.
«Du sollst den Feiertag heiligen.»
Das ist ebenso aktuell.
Wird das nun ein Statement gegen den Sonntagsverkauf?
Überhaupt nicht. Der Sonntag war in unserer Kultur lange der Erholungsraum für die Mehrheit der Arbeitenden, heute verfliessen diese Grenzen zu den Wochentagen. Aber wir sind chronisch in einer Tretmühle, 7 Tage, 24 Stunden; E-Mail ist ein Dauerrauschen wie früher bei DRS 1 nach Sendeschluss. Das Gebot vermittelt also eine evolutionsbiologisch erhärtete Erfahrung: Du kannst nicht immer, mach mal Pause.
«Du sollst nicht ehebrechen.»
Eines der wichtigsten Gebote, auch heute noch, um die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Sexualität zu schützen. Liebe hat mit absoluter Treue zu tun, mit Vertrauen. Deshalb ist sie zwar die einzige Kraft, die aushält, dass Vertrauen missbraucht und gebrochen wird. Aber dieses Gebot hält dazu an, in diesem Spannungsfeld immer äusserst achtsam zu sein gegenüber geliebten Menschen. Dazu gehört auch Offenheit in einer Ehe. In meiner Tätigkeit als Pfarrer bin ich manchmal überrascht, was heute alles tabuisiert wird. Oft ist es nicht mehr die Sexualität, sondern etwa der Glaube. Wenn ich ein Brautpaar frage: «Betet ihr noch?», werden oft beide rot.
Es ist ein Geheimnis, dessen Enthüllung peinlich ist?
Genau. «Du sollst nicht ehebrechen» heisst vielleicht auch, mir in jedem Augenblick bewusst zu sein, dass ich der Beschützer des Geheimnisses der geliebten Person bin. Da sind wir nahe bei jenem der Zehn Gebote, das eine der zentralsten Einsichten aller drei abrahamitischen Religionen liefert: «Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist.» Max Frisch hat das in seinen Tagebüchern so wahrhaftig auf die Liebesbeziehung zwischen Menschen übertragen: Sobald du die geliebte Person in einen Rahmen drücken willst, versündigst du dich an ihrer Freiheit. Gott kann ich ebenso wenig im Hosensack haben wie die geliebte Person. Und einer der verrücktesten Gedanken ist ja: Gott ist immer noch einmal anders als das, was ich mit dem Wort sagen und mit dem Hirn denken kann. Deshalb ist die Sprache des Glaubens auch nicht Dogmatik, sondern Poesie: Sie ist die Sprache der Liebe und erfindet Bilder dessen, was man nicht bezeichnen kann.
Und noch ein letztes Gebot: «Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.»
Der Götze von heute ist eindeutig das Geld. Nicht zufällig hat Kurt Marti zehn Regeln für die Religion des Marktes aufgestellt. «Du sollst nicht alles in dein gieriges Maul stopfen», sagte Calvin mit Verweis auf das 5. Buch Mose, gemäss dem man beim Ernten einige Ähren für die Armen liegen lassen soll. Zürich, die Schweiz, man tanzt um das Goldene Kalb. Die Gier ist offensichtlich geworden, in unterschiedlichsten Formen.
Ist Zürich besonders betroffen von dieser Gier?
Nein. Öffentlich speziell gut zu beobachten ist in Zürich aber wohl dieses Getriebensein vom Gefühl, zu kurz zu kommen. Wir hamstern alles, man will das Leben hamstern, das endet am Schluss im Tod, im Herzinfarkt. Oder zumindest im Hamsterrad, aus dem jeder nach eigenem Bekunden aussteigen will und vom Regen in die Traufe kommt.
«Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.»
Das ist das Erbe der jüdischen Tradition, die für uns Christen konstitutiv ist: Das, was ist, ist nicht aus sich selbst, sondern die Frucht eines Wortes, das schafft. Du schaffst mit deiner Sprache Welt, aber das ist nur ein Spiegel der Welt, in die du geboren bist. Der Sprache wohnt zudem immer ein dialogisches Prinzip inne, es ist ein Austausch zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Gott.
«Jesus sagte zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr Hunger haben, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.» Was sollen Gläubige, die ganz realen Hunger leiden auf dieser Welt, von dieser Botschaft Jesu halten?
Auf die wirkt es zynisch, klar. Da kommt mir jedoch eine Erzählung aus der chassidischen Tradition in den Sinn, wo Rabbi Moshe Löb sinngemäss sagt, auch niedere Eigenschaften könnten ins Gute kippen, wenn es zum Dienst Gottes geschehe – selbst die Gottesleugnung: Wenn einer komme und Hilfe fordere, sei es nicht an uns, ihm zu empfehlen, in Gott zu vertrauen und seine Not auf ihn zu werfen. Vielmehr solle man handeln, als wäre kein Gott da, sondern auf der ganzen Welt nur einer, der diesem Menschen helfen könne: man selbst.
«Sei zufrieden mit dem, was du hast, und verlange nicht ständig nach mehr, denn das ist vergebliche Mühe – so als wolltest du den Wind einfangen.»
Ich glaube nicht, dass Kirchtürme moralische Zeigefinger sein sollen. Aber daran darf immer wieder erinnert werden: Es bringt nichts, immer noch mehr zu wollen. Das verweist auch auf den Satz: «Und gib uns heute unser tägliches Brot.» Brot als Inbegriff des Lebensmittels kann nicht gehortet, es will immer geteilt werden. In diesem Auftrag der Kirche finden wir auch Menschen, die sich als atheistisch bezeichnen. Die Wahrheit ist die Nahrung, die Deutungen sind ganz unterschiedlich.
Der Mensch hat Methoden ersonnen, Lebensmittel zu horten, indem er sie konserviert.
Auch die Haltbarkeit ist dazu da, länger zu teilen, nicht, um zu bunkern. Da klingt das Thema der Nachhaltigkeit an, des schonenden Umgangs mit den Ressourcen dieser Welt, über meine Generation hinaus. Das ist der Gegenentwurf zu «Après moi le déluge». In der Bibel steht übrigens nicht, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, wie es oft falsch übersetzt wird. Zum Glück muss man im Theologiestudium Hebräisch lernen, darum wusste ich das schon früh: Der Aufruf lautet sinngemäss, die Erde so zu gestalten, dass wir leben können inmitten lebenswerten Lebens.
«Wenn einer Gott und seinen Engeln und Gesandten und dem Gabriel und dem Michael feind ist, so ist Gott den Ungläubigen feind.»
Hm, es kommt darauf an, was man unter «Gott» versteht und was unter «ungläubig».
Also, das war ein kleiner Streich, statt «Gott» steht da «Allah»: Ich habe Ihnen eine Stelle aus dem Koran untergejubelt.
Unabhängig, ob im Koran oder in der Bibel: Die Vorstellung, dass meine Feindschaft gegenüber Gott die Feindschaft Gottes gegenüber mir zur Folge hat, hat nichts zu tun mit dem, was ich mit «Gott» verbinde.
Zu welcher Sure aus dem Koran haben Sie einen näheren Bezug?
«Es gibt so viele Zeichen im Himmel und auf Erden, von denen wir lernen können»: Diesen Vers 105 aus der Sure 12 hat eine junge Frau – sie ist reformiert wie auch muslimisch und will beides bleiben – für ihre Segnung vor zwei Jahren selbst ausgewählt. Es war für mich eine Premiere bei einer Konfirmation. Aus diesem Zeichen kann ich vieles lernen für den interreligiösen Dialog und die interkulturelle Begegnung in «Gotts Name».
«Der Herr leitet und schützt alle, die ihm vertrauen; aber seine Feinde enden in Finsternis, denn kein Mensch erreicht etwas aus eigener Kraft.»
Das entspricht doch einer Grunderfahrung: Dass du etwas kannst, vermagst du nur auf dem Boden dessen zu sagen, dass du nichts für das kannst, was du kannst. Unser Bauchnabel ist das Korrektiv für die Vorstellung, dass wir übersteuert autonom und unabhängig alles im Griff hätten. Dass ich etwas im Griff habe, ist nur möglich, weil einer nach mir greift. Und das ist Gott, auch wenn es mir den Boden unter den Füssen wegzieht.
Der Vers zeigt aber auch: Nicht nur der Koran verdammt die Gottlosen, auch die Bibel tut es. Wer sind denn in diesem Fall diese Feinde?
Die, welche sagen, sie und ich hätten alles im Griff.
Was ist so schlimm daran?
Ich habe existenziell erfahren, was es bedeutet, nichts mehr im Griff zu haben: 1999 fiel ich am Bernina unangeseilt zehn Meter in eine Gletscherspalte, sie hatte die Form einer Sanduhr. Ich sah nur noch schwarz, schaute in absoluter Stille die Welt von unten an. Da rief ich keine frommen Sprüche ab, es passierte einfach mit mir. Die Ostergeschichte wurde für mich neu definiert, als der Bergführer nach einer Dreiviertelstunde durchs Einfallsloch hinunterrief: «Läbsch no?» Er wurde zum Evangelisten meines Lebens, als er mir später sagte: «Wenn du das überlebt hast, wird es zum Gold deines Lebens.» Es ist die Urerfahrung von Trost, dass Gott einen findet, wenn man sich selbst verliert. Das erlebe ich oft in der Seelsorge, und da hilft kein Ratschlag, kein frommes Geschwätz, nur das Aushalten, das Zuhören und die Bestätigung: Es ist normal, wenn man sich verliert, doch da ist immer wenigstens noch einer, der dich findet.
Hat diese existenzielle Erfahrung Ihren Glauben verändert?
Nicht verändert, vertieft. Ich wusste, dass der Glaube immer in Gefahr ist, verloren zu werden. Man kann nie sicher sein darin, da Glaube Vertrauen ist. Mein Vater sagte mir in seinem Sterbeprozess, er könne nicht mehr glauben, ich müsse es nun für ihn tun. Da gelangen wir zu den tiefsten Wurzeln des Menschseins. Keinem Feind wünsche ich, den Glauben in dieser Bodenlosigkeit des Sterbens zu verlieren oder ohne Seil in die Tiefe zu stürzen. Doch gerade wer spürt, dass andere für ihn glauben, kann solche Momente in kostbare Erfahrungen verwandeln.
«Den Vogelflug misst man auch nicht mit dem Zollstock.»
Da kann man ableiten, dass sich die Vogelperspektive auf dem Grossmünsterturm nicht mit der Froschperspektive unten in der Stadt zu messen hat, wo man sich in Sackgassen verliert. Es geht im Leben um Weitblick, nicht ums Erbsenzählen. Mich erinnert das an Psalm 31: «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum.»
Ihr Verweis auf die Grossmünstertürme trifft ins Schwarze. Der Spruch ist nicht biblisch, er stammt von Harald Naegeli: Der Sprayer von Zürich äusserte ihn, nachdem die Behörden seinen von Ihnen befürworteten Totentanz im Grossmünsterturm gemassregelt hatten. Aber zurück zur Bibel: «Jesus aber sagte: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.»
Ich halte dieses Bild für sehr wahr, und es ist ein Stachel in meinem Fleisch: Für einen mit einem der höchsten Pfarrerlöhne der Welt gilt dieser Satz hundertprozentig, ganz sicher mehr als das «Selig sind die Armen» aus der Bergpredigt. Zum Glück habe ich diesen Stachel im Fleisch, ich habe Armut erlebt in der Kindheit, als meine Mutter für jeden Wochentag ein Zündholzschächtelchen mit einem Zwänzgernötli für die Einkäufe bereithielt. Am Samstag waren es dann meist nur noch zehn Franken. Bei Menschen ohne jeden Reichtum aber erlebte ich in der Zürcher Herberge zur Heimat oft eine unerhörte Leichtigkeit des Seins.
Immerhin federt Jesus den Vergleich mit dem Kamel und dem Nadelöhr dann sofort ab: «Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.» Dazu passt Psalm 139: «Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.»
Das ist eine Grundüberzeugung unseres Glaubens, ein Erbe unserer jüdischen Schwestern und Brüder: Es gibt keinen Raum und keine Zeit, wo du aus den Händen Gottes und aus seiner Liebe fällst. Für mich ist das der Kompass in allem, was ich lebe und tue. Und es ist der Trauspruch meiner letzten Trauung im Grossmünster, es ist eine ökumenische: reformiert und griechisch-orthodox.
Auf der Einladung zu Ihrem Abschiedsgottesdienst am 3. März aber steht Psalm 121: «Ich schaue auf zu den Bergen. Woher wird mir Hilfe kommen?»
Der ist mir auf den Leib und in die Seele geschrieben. Der Blick vom Berg ist für mich die Tür in den Himmel, der Berg ist immer verbunden mit Nähe und Erfahrung zu Gott. Moses erhielt auf dem Zion die Zehn Gebote. Mir kommen viele Ideen auf dem Üetliberg, den wir als Buben jeden Samstag rauf- und runtergehen mussten, während mein Vater am Helvetiaplatz zu den Obdachlosen in den Bunker ging.
«Vater unser, der du bist im Himmel . . .»: Tausende von Malen haben Sie dieses Gebet mit einer Gemeinde angestimmt – und hatten selbst mit 17 Jahren Ihren Vater verloren. Was machte das mit Ihrem Verhältnis zum himmlischen Vater?
Es veränderte sich etwas Entscheidendes. Weil ich gelernt habe, stellvertretend für meinen Vater an Gott zu glauben, ist mir der Gedanke lieb geworden, auch stellvertretend für den himmlischen Vater an das Gute im Menschen zu glauben. Ja, ich erlaube mir, mir vorzustellen, dass Gott im Himmel über die Höllen hier auf Erden bisweilen so verzweifelt war wie mein Vater vor dem Tod.
«Wenn dir’s gut geht, so bedenke, dass dir’s wieder schlecht gehen kann; und wenn dir’s schlecht geht, so bedenke, dass dir’s wieder gut gehen kann.»
Ha, wo steht denn das?
Altes Testament: Sirach 11,25.
(Lacht laut.) Diese Weisheit ist Balsam für die Seele! Du kannst einfach dankbar sein und ein bisschen demütig. Nehmen wir das Leben entgegen, es kommt schon gut.
Pfarrer Sigrist nimmt den Hut
urs. · Christoph Sigrist sorgte in seinen 21 Jahren als Grossmünsterpfarrer für Aufsehen wie kaum ein Berufskollege hierzulande. Ob er Hand für einen lauten Rave-Gottesdienst in der Wasserkirche bot oder leiser den interreligiösen Dialog pflegte: Der 60-jährige Zürcher beherrschte den Spagat zwischen Geltungs- und Sendungsbewusstsein. Nun hat er noch einmal viele überrascht – indem er sein Pfarramt vorzeitig aufgibt. Seine Nachfolge ist noch nicht bekannt. Am 3. März, 10 Uhr, findet der Abschiedsgottesdienst von und für Sigrist statt. Dieser will sich nun ganz der (Lehr-)Tätigkeit zu seinem erklärtermassen wichtigsten Thema widmen: der Diakonie.