Nach zehn Kantonalwahlen hat sich an der Rangliste der Parteien nichts geändert. Der Historiker und Politologe erklärt, weshalb sich die Mitte halten kann, während die FDP verliert. Und er sagt, warum die SVP 2027 drei Bundesratssitze beanspruchen könnte.
Herr Longchamp, bei den nationalen Wahlen 2023 lieferten sich FDP und Mitte ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen. Seither hat die FDP ihr Profil verschärft, dennoch verlor sie in acht von zehn Kantonen. Die Mitte hingegen hält sich. Weshalb?
Auf den ersten Blick erstaunt das. Die FDP hat ja durchaus Gas gegeben, vor allem, was den öffentlichen Auftritt betrifft. Sie äussert sich pointierter und angriffiger als früher. Die politische Mitte hingegen macht im Moment mehr mit personellen Problemen von sich reden als mit politischen Inhalten. Bei näherem Hinsehen ist das Resultat aber keine Überraschung. In dieser Legislatur hat es noch keinen echten Wendepunkt gegeben.
Was verstehen Sie unter Wendepunkt?
Es gab keinen Moment, der dazu geführt hätte, dass die Karten neu gemischt worden wären. Auch das ist aus meiner Sicht nicht überraschend. Nach zehn Kantonalwahlen haben sich erst 17,8 Prozent der Wählerinnen und Wähler geäussert; die Wahlbeteiligung lag bei 32 Prozent. Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, dass es keinen frischen Impuls gab. Die Lage bleibt, wie sie ist. Man könnte auch sagen: Die FDP verharrt in der Mitte. Sie will zwar ihr Profil schärfen, hat aber noch keine tragfähige Position gefunden.
Wie äussert sich das?
Die Partei hat nach wie vor viele Baustellen. In der Sozial- und Finanzpolitik versucht sie zwar, ihr Profil zu schärfen. Aber es gibt immer noch grosse Unterschiede innerhalb der Partei. Die einen wollen höhere Renten, die anderen wollen strikt sparen. Die Geschlossenheit in solchen Fragen ist zwar grösser als in der SVP-Basis, aber auch in der FDP sehen es nicht alle gleich.
Die FDP positioniert sich auch klarer. Zum Beispiel beim Thema Volksschule und Integration. Müsste das nicht wenigstens in den freisinnig geprägten Kantonen zu einer Trendwende führen?
In den Kantonen Aargau und Schaffhausen hat das geklappt, in Solothurn und Neuenburg nicht. Der Unterschied ist, dass Aargau und Schaffhausen ländlich und bürgerlich-konservativ geprägt sind. Dort kommt die Kurskorrektur an, in den anderen Kantonen offenbar nicht. Das Grundproblem der FDP ist und bleibt, dass sie aus mehreren Strömungen besteht, die immer wieder zusammengeführt werden müssen. Es fehlt eine überragende, integrative Persönlichkeit, die die Partei zusammenbringen und zusammenhalten kann.
Der FDP-Chef Thierry Burkart ist das nicht?
Thierry Burkart fällt es schwer, eine breite Akzeptanz zu finden. Er hat den bürgerlichen Flügel hinter sich, dem liberal-progressiven Flügel und den Frauen ist der neue Kurs aber offenbar zu scharf. Allenfalls wäre Karin Keller-Sutter eine solche Integrationsfigur, aber sie ist im Bundesrat und nicht an der Parteispitze.
Das Thema, das den Freisinn am meisten spaltet, sind die geplanten Verträge mit der EU.
Die Frage der europäischen Integration schwebt wie ein Damoklesschwert über der FDP. Lange Zeit hat man versucht, verschiedene Positionen zu integrieren. Nun hat die Parteileitung mit dem kompromisslosen Nein zur «10-Millionen-Schweiz-Initiative» der SVP den Befreiungsschlag versucht.
Mit Erfolg?
Es ist ein wichtiger Schritt. Doch die Frage, ob die FDP Ja zum neuen Abkommen mit der EU sagt, ist nach wie vor offen. Je nachdem, wie sich die Partei hier positioniert, werden die internen Bruchstellen wieder grösser.
Auch die Mitte ist in der EU-Frage gespalten. Droht ihr keine Zerreissprobe?
Bei der Mitte ist die Situation ähnlich komplex. Auch hier führt die Europafrage zu internen Spannungen. Doch seit der Fusion von CVP und BDP vor vier Jahren hat sich die Mitte sozialpolitisch der SP angenähert. Sie konnte das Fusionsresultat halten, aber der grosse Wachstumsschub ist ausgeblieben.
Der neue Kurs der Mitte ist wesentlich geprägt vom Parteipräsidenten Gerhard Pfister. Doch er tritt nun zurück.
Nicht nur der Parteipräsident tritt zurück. Auch die Generalsekretärin geht. Zudem muss die Partei allenfalls einen neuen Fraktionschef suchen. Das ist für die Partei ein grosses Risiko. Bis zu den nächsten nationalen Wahlen dauert es nur noch zweieinhalb Jahre. Dass die Mitte mit einer neuen Spitze einen Wachstumskurs fahren kann, halte ich für unwahrscheinlich. Realistisch sind wohl 14 bis 15 Prozent Wähleranteil.
Das wäre gleich viel wie heute und etwa gleich viel wie die FDP. Die FDP will ihren zweiten Bundesratssitz verteidigen, die Mitte fordert einen zweiten. Doch rein arithmetisch reicht es beiden Parteien nicht für zwei Sitze.
Wenn die FDP und die Mitte ihre Wähleranteile in den nächsten zweieinhalb Jahren nicht steigern können, wird sich die Bundesratsfrage neu stellen.
Die SVP gewinnt seit den nationalen Wahlen weiter. 2027 könnte sie die 30-Prozent-Grenze durchbrechen. Hat Sie dann Anrecht auf drei Sitze?
Wenn die SVP weiter wächst, kommt sie bei den nationalen Wahlen auf 32 Prozent. Dann kann sie tatsächlich einen dritten Sitz für sich beanspruchen. Ob sie das tut, ist offen. Aber die Diskussion wird sich stellen, wenn die SVP in diesem Tempo weiter gewinnt.
Die SVP ist seit langem die stärkste Partei der Schweiz. Doch seit 2023 hat sie einen regelrechten Höhenflug. Wieso?
Die SVP hat sich strategisch verbessert. Der neue Parteipräsident Marcel Dettling agiert professioneller als sein Vorgänger Marco Chiesa. Seine ländlich-bäuerlich, robust bürgerliche Art kommt bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten gut an. Zudem hat die Partei ihren Social-Media-Auftritt verbessert und betreibt seit einiger Zeit systematische Basisarbeit. Zudem setzt sie konsequent auf dieselben Themen: Sicherheit, Zuwanderung, Neutralität.
In Umfragen und dem Sorgenbarometer taucht seit 2018 das Problem der Polarisierung auf. Die SVP setzt gezielt auf Polarisierung und profitiert. Wie passt das zusammen?
Die SVP setzt zwar auf die kommunikativen Mittel der Polarisierung. Aber diese Polarisierung ist nicht mit derjenigen in den USA zu vergleichen. In der Schweiz haben wir keine verhärteten ideologischen Gräben.
Die FDP wirft der SVP vor, sich in sozialpolitischen Fragen zunehmend der Linken anzunähern. In den Medien war auch schon von einer «Wagenknechtisierung» der Partei die Rede. Was halten Sie davon?
Wenn ich ehrlich bin, nichts. Dass die SVP-Basis eine 13. AHV-Rente wünscht und gegen die BVG-Reform stimmte, bedeutet nicht, dass die Partei ihr Profil verändert hätte. Christoph Blocher hat das Profil als liberal-konservativ definiert. Das trifft meiner Meinung nach immer noch zu. Die SVP ist keine sozial-konservative Partei.
Auffällig ist, dass die beiden Polparteien, die SVP und die SP, seit 2023 gewinnen, während die anderen stagnieren oder verlieren.
Die SP beherrscht, wie die SVP, ihr Handwerk. Sie führt seit ein paar Jahren eine überaus erfolgreiche Basiskampagne, die oft gar nicht als Basiskampagne wahrgenommen wird. Beide Parteien profitieren stark von emotionaler Mobilisierung, starken Identifikationsfiguren und klaren Profilen. Sie polarisieren zwar, aber sie spalten nicht.
Die Grünen haben praktisch das gleiche politische Profil wie die SP. Dennoch sind sie gemeinsam mit den Grünliberalen nur noch am Verlieren. Weshalb?
Die Klimawahl von 2019 hat den Grünen enormen Auftrieb verschafft. Aber sie konnten diesen Schwung nicht halten. Es gab zu wenige Erfolge, und zurück blieben zu viele enttäuschte Erstwähler. Die SP hat die sozialen Fragen stark besetzt und konnte die Frauen mobilisieren – das geht zulasten der Grünen. Die Grünliberalen zeigen täglich, dass ihnen der Spagat zwischen Wirtschaftsliberalismus und Umweltpolitik nicht glückt. Zudem litten sie unter internen Skandalen . . .
. . . wie dem Fall Sanija Ameti . . .
. . . Profillosigkeit und einer schlechten Presse.
Vor den nationalen Wahlen im Herbst 2023 haben Sie gesagt, die Zeit der grossen Kompromisse sei vorbei. Nun läuft es ausgerechnet bei der EU-Frage auf eine Einigung hinaus. Ist der guteidgenössische Kompromiss zurück?
Jein. Institutionell, bei den Sozialpartnern und Kantonen, funktioniert die Kompromisskultur noch gut. Auf Parteiebene sehe ich hingegen wenig Kompromissbereitschaft. Am radikalsten ist die SVP. Vor der Abstimmung über die bilateralen Verträge II hielt sich die Partei noch zurück. Gegen das neue Vertragswerk wehrt sie sich heute kompromisslos. Sie wird sich in dieser Frage auch nicht bewegen, weil sie sonst Gefahr läuft, von noch rechteren Kräften bedrängt zu werden.
Die SVP hat den Bundesrat schon immer scharf kritisiert. Nun kommt Kritik am Bundesrat mitunter sogar von der FDP. Schadet der raue Ton dem Vertrauen in die politischen Institutionen?
Der Ton ist rauer geworden, aber ich sehe keinen Vertrauensverlust.
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts GfS Bern, das Sie mit aufgebaut haben, zeigen aber, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen sinkt, dies vor allem seit der Pandemie.
Sie haben das Stichwort genannt: Pandemie. Das direktdemokratische Schweizer System lebt davon, dass sich die Menschen an politischen Entscheiden beteiligen könnten. Das konnten sie während der Pandemie nicht. Der Bundesrat regierte mithilfe einer Expertengruppe weitgehend allein. Das Parlament hatte sich zeitweise sogar selbst zurückgezogen. Es fanden keine Wahlen statt und keine einzige Ersatzwahl in den Bundesrat. Jetzt ist der Austausch zwischen Bevölkerung und Institutionen wieder etabliert. Kritik am Bundesrat schadet nicht, im Gegenteil. Sie entspricht der gewollten Streitkultur in einer direkten Demokratie.
Seit der Pandemie dringen immer wieder Leaks aus dem Bundesrat. Das jüngste Leak betraf die Rücktritte an der Spitze der Armee und des Nachrichtendienstes. Schwächen solche Indiskretionen das Vertrauen der Bevölkerung in den Bundesrat?
Die Medien und die Behörden selbst nehmen das Problem wohl schärfer wahr als die Bevölkerung. Aber auch die Bevölkerung registriert, dass etwas in der Landesregierung nicht stimmt, wenn sich die Departemente mit Indiskretionen gegenseitig schaden wollen. Wenn es gehäuft zu Leaks kommt, steht es in der Regel schlecht um die Stimmung im Bundesrat.
Verteidigungsministerin Viola Amherd hatte im Bundesrat einen schweren Stand. Ändert sich die Stimmung, wenn Martin Pfister Bundesrat wird?
Es ist zumindest nicht auszuschliessen, dass sich die Dynamik ändert, wenn Finanzministerin Karin Keller-Sutter mit Martin Pfister einen neuen Ansprechpartner im Verteidigungsdepartement hat.
Was muss Martin Pfister machen, um ein guter Bundesrat zu werden?
Was hilft, ist ein guter Start. Wer als Bundesrat schlecht startet, kann sein politisches Gewicht in der Regel höchstens noch mit einem Departementswechsel steigern. Man sieht es bei Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider oder bei Aussenminister Ignazio Cassis. Er hat sich seit seinem missglückten Start nie mehr richtig erholt.