Francesco Schettino verursachte 2012 das grösste Schiffsunglück im Italien der Nachkriegszeit. Der Kapitän wurde zum Symbol für die Unzuverlässigkeit des Landes – und bekommt das dieser Tage einmal mehr zu spüren.
Am Abend des 13. Januars 2012 rammte die «Costa Concordia» einen Felsen vor der Insel Giglio. Die Teller rutschten von den Tischen, die Lichter gingen aus, das Schiff bebte. 32 Personen kamen ums Leben, mehr als 4200 schwebten in Lebensgefahr. Es ist das grösste Schiffsunglück Italiens der Nachkriegszeit. Eine Katastrophe für die Hinterbliebenen, eine Katastrophe für die Überlebenden.
Und in diesen Tagen ist sie wieder sehr präsent. Francesco Schettino, Kapitän des havarierten Kreuzfahrtschiffs, hat inzwischen die Hälfte seiner Strafe von 16 Jahren und einem Monat abgesessen. Im vergangenen Januar stellte er einen Antrag auf offenen Vollzug. Nun steht der Entscheid bevor. Diesen Dienstag wird ein Römer Gericht das Urteil bekanntgeben.
Was Schettino fordert, sorgt für Wut und Unverständnis. Denn es geht bei diesem Gerichtsentscheid um mehr als ein Strafmass. Es geht um einen Mann, der fahrlässig handelte, sich in Ausreden flüchtete, sich in Widersprüchen verstrickte und sich vor seiner Verantwortung drückte: vor, während und nach der Katastrophe. Die Geschichte der «Costa Concordia» steht für eine Seite eines Landes, die viele Italiener nicht mehr dulden wollen.
Schettino wurde zum Sinnbild dessen, was in Italien schlecht lief. «Fare lo Schettino» ist bis heute eine gängige Bezeichnung für einen Feigling.
Job im Vatikan
Schettinos Aussichten auf mildere Haft sind intakt. Bisher verhielt sich der 64-Jährige im Gefängnis offenbar vorbildlich. Er belegte Universitätskurse in Recht und Journalismus, nahm Arbeit in der Anstalt an. Er digitalisierte Gerichtsakten, etwa über die Entführung und Ermordung des christlichdemokratischen Politikers Aldo Moro. Dank einer Organisation könnte er im offenen Vollzug einen ähnlichen Job im Vatikan übernehmen.
Doch dass Francesco Schettino bald täglich die Mauern des Römer Gefängnisses Rebibbia verlassen könnte, irritiert die Hinterbliebenen. Der Vater eines Opfers sagte im «Corriere della Sera»: «Die Richter sollten Schettino keinen offenen Vollzug gewähren. Für mich ist er ein Mann, der für 32 lebenslange Haftstrafen ins Gefängnis gehört, so viele wie die Zahl der Opfer.»
Er denke immer wieder an jene «verfluchte Nacht», an die Toten. Das liess Schettino im Jahr 2022 aus der Haft über einen Anwalt ausrichten. Schettino behauptete, die Schuld liege am Versagen des ganzen Systems. Obwohl ein organisatorischer Fehler am Ursprung der Katastrophe gelegen habe, sei er der Einzige, der mit Gefängnis bezahle. «Man wollte einen Schuldigen und nicht die Wahrheit», so das effekthascherische Statement.
Fünf Crew-Mitglieder standen mit ihm vor Gericht. Sie erhielten Strafen zwischen anderthalb und zwei Jahren und 10 Monaten. Ins Gefängnis musste nur Schettino. Für die Richter waren die Beweise gegen den Kapitän erdrückend, ihr Verdikt 2015 eindeutig: mehrfache fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung, fahrlässiger Schiffbruch und Verlassen des Schiffes. Auch das Berufungsgericht bestätigte Schettino als Hauptverantwortlichen.
Der legendäre Befehl der Küstenwache
Unfälle passieren, manchmal wird Schuldigen verziehen. Im Fall Schettinos ist das schwieriger. Die Liste seiner Unzulänglichkeiten ist lang.
45 Minuten lang dauerte es, bis die Besatzung etwas unternahm. Die Passagiere wurden nicht informiert, man bat sie um Ruhe, verbannte sie in ihre Kabinen. Einige kamen nie mehr aus ihnen heraus – viele Betagte, ein sechsjähriges Mädchen. Das 32. Opfer fanden Arbeiter erst zwei Jahre nach der Katastrophe.
Auch die Behörden wurden lange nicht über den Unfall ins Bild gesetzt. Erst gegen 22 Uhr 30 begann die Evakuierung. Als einer der Ersten verliess Schettino das Schiff – entgegen der unumstösslichen Regel seines Berufsstands: zuerst Kinder und Frauen, zuletzt der Kapitän.
Vermutlich war es der fatalste aller fatalen Fehler. Zu seiner Fahrlässigkeit paarte sich die komplette Verantwortungslosigkeit. «Vada a bordo, cazzo!», «kehren Sie zurück an Bord, verdammt!». So herrschte ihn per Funk der Chef der Küstenwache von Livorno an. Die Aufzeichnung wurde legendär, die Aufforderung ein geflügeltes Wort.
Nach dem Unglück behauptete Schettino, ausgerutscht und auf ein Rettungsboot geplumpst zu sein. Später nahm er diese alberne Ausrede zurück.
Wie ein Auto gesteuert
Mit seinem tollpatschigen Handeln wurde er zu einer medialen Figur, die den Zustand des damaligen Italien verkörperte. Schettino wurde zum Symbol einer Kultur des Mittelmasses, der Unzuverlässigkeit, der Schlamperei.
Wie die «Costa Concordia» lief auch der Staat auf Grund. Er befand sich am Rand der Zahlungsunfähigkeit, ausgelaugt von der Politik Silvio Berlusconis, von seinen Ad-personam-Legislaturen, garniert mit Sexskandalen. Erst zwei Monate vor dem Unglück vor Giglio hatte der Technokrat Mario Monti das Steuer des Regierungschefs übernommen.
Schettino und Berlusconi, die «Costa Concordia» und der Staat. Sie standen für die Fehler einer ganzen Gesellschaft. Im cineastischen Meisterwerk «La grande bellezza» aus dem Jahr 2013 lässt der Regisseur Paolo Sorrentino seinen Hauptdarsteller von einer Klippe der Insel Giglio aufs Wrack hinunterschauen. Im Film geht es auch darum: um Dekadenz und Oberflächlichkeit der High Society Italiens.
Trotz allem: Schettino sah sich stets als Sündenbock. Mehrfach hatte er vor Gericht versucht, die Schuld auf den indonesischen Steuermann abzuwälzen. Dieser habe weder Italienisch noch Englisch und somit die Anweisungen des Kapitäns nicht verstanden. Doch die Lage war davor schon kompromittiert. Schettino hatte einen gefährlichen Kurs vorgegeben. Und dafür trug der Kapitän die Verantwortung. Zu schnell fuhr das 290 Meter lange und 120 000 Tonnen schwere Schiff auf die Küste der Insel Giglio zu. Zu spät wies Schettino an, die Richtung zu ändern.
Was in jener Nacht vom 13. Januar 2012 geschah, ist nicht restlos geklärt. Grafiker haben aber simuliert, wie es zum Unglück kam. Die «Costa Concordia» steuerte fast rechtwinklig auf Giglio zu und schwenkte im letzten Moment rechts weg – als hätte jemand die Handbremse gezogen. Die Gutachter schrieben, Schettino habe das Kreuzfahrtschiff «wie ein Auto gesteuert».
Der Bikini der Tänzerin in der Kabine
Am Ursprung des Unglücks stand eine höchst gefährliche Praxis, die seit dem Kentern der «Costa Concordia» offiziell verboten ist. Die Seefahrer haben mehrere Worte dafür. Sie nennen es «inchino», die Verneigung, «saluto», den Gruss, oder sogar «bacio», den Kuss. Dabei fahren grosse Schiffe äusserst nah an die Küste. Reedereien wollen damit schöne Bilder vor beeindruckenden Kulissen schiessen. Oder sie bieten damit den Gästen der Kreuzfahrt ein spektakuläres Foto-Sujet. Schettino behauptete zuerst, die Route sei von seinem Arbeitgeber vorgegeben gewesen. Es war einer von vielen Widersprüchen: Später gab der Kapitän zu, sich selber dazu entschieden zu haben.
Vielleicht war der Grund für das Manöver eine Mischung aus Werbezwecken, Prahlerei und Kumpanei. Schettino, damals 51-jährig, dinierte kurz vor dem Aufprall mit einer 26 Jahre jüngeren Frau. Ob der verheiratete Vater eine Affäre mit ihr hatte und tatsächlich ihr Bikini in der Kabine des Kapitäns wiedergefunden wurde, sei dahingestellt. Laut italienischen Medien: natürlich. Laut Aussagen der Frau: eher nicht. Jedenfalls nahm Schettino die Tänzerin nach dem Essen im Bordrestaurant mit auf die Brücke – um die Insel anzuschauen, sagte sie vor Gericht aus.
Das Detail prägt das Bild Schettinos bis heute: Der italienische Macho mit offenem Hemd und blauen Augen, der einer jungen Blondine imponieren will.
Toxische «famiglia»
Belegt ist ein anderer Grund für die missratene «Verneigung» vor Giglio, auch er hat mit Italianità zu tun: der Stellenwert der Familie. Das Manöver wird von Seeleuten praktiziert, wenn ein Besatzungsmitglied an seiner Stadt oder seiner Insel vorbeifährt. Seine Kollegen fahren dann das Schiff ganz nah an die Küste. So kann der Seemann seine Heimat grüssen. Das war an jenem fatalen Abend der Fall.
Der Oberkellner der «Costa Concordia» stammte aus Giglio. In der Vorwoche war das Schiff schon einmal an der toskanischen Insel vorbeigefahren. Bereits damals hatte Schettino für ihn einen «saluto» organisiert. Wie der Restaurantmanager vor Gericht aussagte, sei der Kapitän aber nicht zufrieden gewesen und wollte an jenem Freitag, dem 13., noch weiter an die Insel herankommen. Zu weit.
Es ist einer der Vorzüge, aber auch eines der Übel der italienischen Gesellschaft: Die engen Beziehungen bieten Geborgenheit und Familiarität. Aber sie werden toxisch, wenn sie zu Vetternwirtschaft ausarten. Schettino setzte für einen Gefallen einer andern Person gegenüber das Leben der 4229 Menschen an Bord aufs Spiel.
Vermutlich ist eine Hafterleichterung für Schettino gerade deswegen ein Aufreger. Sie würde einmal mehr für diese Kultur der «furbizia» stehen, der italienischen Schlaumeierei, des Suchens nach Abkürzungen und des eigenen Vorteils. Bereits die Richter beim ersten Prozess bemängelten, Schettino habe kaum Reue gezeigt.
Von der «Costa Concordia» ist nichts mehr zu sehen. Zweieinhalb Jahre lag sie vor Giglio. Wie ein grosses Mahnmal. Es kostete 1,5 Milliarden Euro, um sie nach Genua zu schleppen und sie zu zerlegen. Schrauben, Teile der Motoren konnten wiederverwertet werden. Sonst blieb nichts übrig. Ausser Empörung.