Seine Familie musste 1958 aus Marokko flüchten, heute gehört Georges Bensoussan zu den bekanntesten französischen Historikern. Die extreme Rechte hält er schon lange nicht mehr für die grösste Gefahr in Frankreich.
Seit dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober wird darüber gestritten, ob man es mit der Rache von Unterdrückten zu tun habe – oder mit Hass von religiösen Fanatikern, der viel weiter zurückreicht als bis zur Gründung des Staates Israel. Georges Bensoussan gehört zu jenen, die letztere These vertreten: Der marokkanisch-französische Historiker warnt seit Jahren davor, den islamischen und arabischen Antisemitismus zu unterschätzen.
Bensoussan gehört zu den besten Kennern der jüdischen Kulturgeschichte, er hat über die Shoah geforscht und über den Zionismus. Seine Werke und Beiträge wurden oft gelobt, lösten aber auch einige Kontroversen aus. So gehörte er 2002 zu den Ersten, die auf eine neuartige Bedrohung für offene und liberale Gesellschaften hinwiesen: Jugendliche, die Frauen, Homosexuelle und Juden verachten, aus kulturell-religiösen Gründen. 2017 wurde er deswegen in ein kafkaeskes Gerichtsverfahren verwickelt, wobei eine Soziologin behauptete, es habe nichts mit Judenhass zu tun, wenn arabischstämmige Jugendliche «Jude» als Schimpfwort benutzten.
Wunschdenken und die Unfähigkeit, unangenehme Tatsachen zu akzeptieren, prägen nach Bensoussans Meinung auch den westlichen Umgang mit dem Palästinakonflikt. Seit drei Jahren lebt Bensoussan mehrheitlich in Israel – er habe, so erklärt er der NZZ im Zoom-Gespräch, nicht als Zionist in Paris enden wollen. Damit gehört er zu den Zehntausenden Juden, die Frankreich in den letzten Jahren verlassen haben, oft aus Angst.
Herr Bensoussan, wo waren Sie am 7. Oktober?
An jenem Tag war ich in Paris. Ich erhielt gegen 7 Uhr 30 eine SMS von meiner Tochter, die in Israel lebt. Zuerst haben wir von 20 bis 30 Toten gehört. Wir wussten, dass es schlimm ist, aber das Ausmass der Tragödie wurde uns erst am nächsten Tag bewusst.
Konnten Sie sich zuvor vorstellen, dass so etwas passieren könnte?
Es hat mich überrascht, dass die Hamas dazu fähig ist. Aber ich war nicht überrascht, dass die Hamas so etwas tun würde, wenn sie die Mittel dazu hätte. Ich habe nie an eine Pazifizierung der Beziehungen zur Hamas geglaubt, weil sie eine islamistische Bewegung ist. Es sind radikale Feinde, die das Schlimmste tun, wenn sie es können.
Über die Grausamkeit der Hamas hatten Sie also keine Illusionen?
Nein, diese Grausamkeit ist in der arabischen Welt weit verbreitet. Nehmen Sie die Massaker, die Drusen 1860 in Libanon an Christen verübten. Oder die extreme Grausamkeit des libanesischen Bürgerkriegs ab 1975, des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren und jene des Islamischen Staates ab 2014. Oft erkennt man darin das gleiche Muster wie am 7. Oktober.
Glauben Sie, dass es jemals Frieden geben wird?
Ich habe lange daran geglaubt, heute glaube ich es nicht mehr. Im Moment geht es nur darum, einen Aggressor daran zu hindern, aktiv zu werden. Dazu braucht es einen starken israelischen Staat, mit einer starken Armee. Der israelische Staat ist wohl für Jahrzehnte dazu verdammt, im Schatten einer Bedrohung zu leben, unter dem Schirm der Armee. Das ist eine triste Perspektive, aber ich sehe keine andere.
Weshalb?
Die Freude, mit der die palästinensische Bevölkerung auf das Massaker des 7. Oktober reagiert hat, kann man nicht als Nebensache abtun. Wenn eine Gesellschaft, zumindest ein Teil von ihr, vom Wunsch beseelt ist, den Nachbarn verschwinden zu sehen, gibt es keine Aussicht auf Frieden. Die Zwei-Staaten-Lösung ist illusorisch, weil das arabische Palästina derartige Pläne fünfmal abgelehnt hat. Diejenigen, die heute das Lied von den «zwei Staaten» anstimmen, sind entweder naiv oder zynisch oder, was wahrscheinlicher ist, ignorant gegenüber der Geschichte.
In den arabischen Ländern gibt es heute kaum noch Juden. Viele Leute im Westen glauben, die Juden hätten dort friedlich gelebt, bis die Gründung des Staates Israel die Idylle zerstört habe. In Ihrem Buch «Die Juden der arabischen Welt» vertreten Sie die These, dass dies ein Mythos sei. Wie sind Sie darauf gekommen?
Als ich vor etwa zwanzig Jahren angefangen habe, zum Thema zu arbeiten, bin ich von einer einfachen Frage ausgegangen: Ich wollte verstehen, warum die Juden in der arabischen Welt verschwunden sind. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es rund eine Million, heute sind es noch etwa 4000. Selbst in islamischen, nichtarabischen Ländern wie der Türkei und Iran gibt es fast keine mehr. Je mehr ich geforscht habe, desto mehr kam ich von der These weg, dass der israelisch-arabische Konflikt der Hauptgrund für die Abwanderung ist. Er hat sie zweifellos beschleunigt, aber die Wurzel des Exodus liegt woanders.
Inwiefern?
Die tiefere Ursache der Auswanderung war, dass die Juden in der arabischen Welt seit dem späten siebten Jahrhundert als Untertanen gelebt hatten. Auf Arabisch nannte man solche Leute «dhimmi». Mehr noch als die Christen waren die Juden Demütigungen und Schikanen ausgesetzt, manchmal auch Pogromen wie 1912 in Fez oder 1941 in Bagdad. Arabische Kinder, das wissen wir aus Hunderten Reiseberichten von westlichen Besuchern, machten sich einen Spass daraus, ältere Juden mit Steinen zu bewerfen. Sie durften sich ja nicht wehren. Mit der Kolonialisierung des arabischen Raums änderte sich jedoch die Stellung der Juden. Sie emanzipierten sich, auch dank westlichen Schulsystemen. Sie verwestlichten – und indem sie das taten, stellten sie sich in den Augen ihrer einstigen Unterdrücker gegen das islamische Recht. Sie galten als Verräter und Symbole der Moderne, die in der arabischen Welt bewundert und gehasst wird. Über all das wurde später der Konflikt um Israel gestülpt. Das ergab einen explosiven Cocktail.
In Europa wurden die Juden auch im 19. Jahrhundert viel grausamer verfolgt als im arabischen Raum. Was unterscheidet den muslimischen Antisemitismus vom christlichen?
Der christliche und westliche Antisemitismus ist älter und vor allem struktureller. Hier geht es um eine ganze Weltanschauung. «Der Jude» hat den Sohn Gottes getötet, er verkörpert Verrat, Heimtücke, List und Habgier, kurz gesagt: das Böse. In der arabischen Welt ist der Jude ein minderwertiges Wesen, aber er macht keine Angst und steht nicht im Mittelpunkt der islamischen Weltsicht. Wenn er seine Unterwerfung und ständige Erniedrigung als «dhimmi» akzeptiert, ist alles in Ordnung. Wenn er sich dagegen auflehnt, kommt es zum Krieg. Diese Rebellion hat die arabische Welt den Juden bis heute nicht verziehen.
Im deutschen Sprachraum hört man oft, dass es Adolf Hitler gewesen sei, der den Antisemitismus in die arabische Welt exportiert habe. Was sagen Sie dazu?
Es war nicht nötig, den Antisemitismus zu exportieren, es gab ihn bereits, und er war oft verbunden mit dem Hass gegen den Westen. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, suchten viele arabische Nationalisten ihre Nähe, insbesondere die Anführer der palästinensischen Bewegung. Im «Dritten Reich» interessierte man sich dagegen erst ab 1937/38 für die Araber. Die rassistischen Passagen über Araber, die Hitler in «Mein Kampf» formuliert hat, wurden in den arabischsprachigen Ausgaben gestrichen. Hitler hat den Antisemitismus also nicht exportiert, er hat ihm lediglich eine rassische, biologische Prägung verliehen, die er ursprünglich nicht hatte.
Die Deutschen, so wird behauptet, würden in manchen autoritären Staaten für zwei Dinge bewundert: Mercedes und Adolf Hitler. Wie weit trifft das auf den Nahen Osten zu?
Was Mercedes angeht, weiss ich es nicht. Im Fall Hitlers spricht vieles dafür, vor allem in Gaza. Seit die israelischen Soldaten im Oktober in Gaza interveniert haben, finden sie Hitler-Poster und Computer mit Bildschirmschonern, die Hitler zeigen. Von den Schulbüchern ganz zu schweigen, da wird der Hauptverantwortliche für den Holocaust als Held dargestellt.
Sie selber sind in Marokko geboren, Ihre Familie gehört zu den rund 900 000 Juden, die nach der Gründung der arabischen Nationalstaaten geflüchtet sind. Wie haben Sie den Antisemitismus damals erlebt?
Ich habe kaum Erinnerungen an Marokko, ich war sechs Jahre alt, als wir 1958 nach Paris gingen. Aber mein Vater hat mir oft erzählt, es habe nach der Unabhängigkeit Marokkos ein diffuses Klima der Angst geherrscht. Wir lebten in einem europäischen Quartier in einer kleinen Stadt. Mein Vater wurde von arabischen Freunden davor gewarnt, dass seine Töchter – meine älteren Schwestern – entführt werden könnten. Deshalb beschloss er, in Frankreich ein neues Leben anzufangen, mit fünf Kindern, von denen das jüngste sechs Monate alt war. Wir mussten das Land ohne jegliche Mittel verlassen, verloren unser gesamtes Hab und Gut, und wir erhielten keine Entschädigung vom marokkanischen Staat. Dessen Bevölkerung hat stark von der Abwanderung der Juden profitiert, weil diese ihre Besitztümer zu extrem niedrigen Preisen verscherbeln mussten.
Waren die Sorgen Ihres Vaters über die Entwicklung in Marokko berechtigt?
Ja, das war keine Paranoia. Das wurde mir erst sehr viel später klar, als ich in Archiven forschte, etwa der französischen Diplomatie. Ich fand Berichte über jüdische Mädchen, die entführt worden waren, um sie zwangsweise zum Islam zu bekehren und mit Muslimen zu verheiraten. Das geschah überall. Auch sonst lebten Juden in Unsicherheit. Man verweigerte ihnen Pässe und Geschäftslizenzen, es gab dumpfe oder offene Drohungen.
Wie hat man Sie in Frankreich aufgenommen?
Gut, wir waren ja Franzosen, sprachen seit Generationen Französisch. Wir hatten einfach nicht in Frankreich gelebt. Ich habe keinen Rassismus gespürt oder offenen Antisemitismus gehört. Das hat sich in den letzten Jahren dramatisch geändert – wegen derselben Leute, vor denen wir einst aus Marokko geflohen sind. Islamistische Terroristen und Kriminelle wählen in Frankreich bewusst jüdische Opfer aus, in den Schulen werden jüdische Kinder schikaniert.
Wann haben Sie diesen neuen Antisemitismus erstmals gespürt?
Ab den 1990er Jahren, besonders seit dem Golfkrieg von 1991. Es gab erste Berichte über wachsenden Antisemitismus in Teilen der arabischstämmigen Bevölkerung in Frankreich und vor allem in Nordafrika. Der eigentliche Auslöser war für mich 1995 der Fall Khaled Kelkal (ein algerischer Terrorist, der unter anderem einen Sprengstoffanschlag in Paris mit acht Toten und rund 200 Verletzten verübte und einen Anschlag auf eine jüdische Schule plante, Anm. d. Red.). Vor seinem Tod wurde er von einer deutschen Journalistin interviewt. Sie schrieb, sie sei von Kelkals extrem gewalttätigem Antisemitismus schockiert gewesen. Zur gleichen Zeit las ich Reportagen über den wahnhaften Judenhass während des algerischen Bürgerkriegs, in einem Land, in dem es keine Juden mehr gab. Da habe ich verstanden: Ein Teil der nach Frankreich eingewanderten Bevölkerung ist ein Reservoir des Hasses, das eines Tages explodieren wird.
Tatsächlich gab es 2000 eine Explosion: Im Zuge der zweiten Intifada eskalierte auch die Gewalt gegen Juden in französischen Quartieren. Sie haben 2002 als einer der Ersten über den arabischen und islamischen Antisemitismus in Frankreich geschrieben, im Buch «Les territoires perdus de la République». Zuerst hat man Ihre Befunde ignoriert oder als Rassismus abgetan. Gibt es heute ein grösseres Bewusstsein für diesen Hass?
Auf jeden Fall wird er nicht mehr so vehement geleugnet. Das ist ein Fortschritt. Aber es gibt immer noch eine Tendenz seitens der Medien, die Dinge falsch zu benennen. Man verurteilt den Antisemitismus, aber man benennt nicht die Antisemiten. Man darf nicht, so ein tausendfach gehörter Satz, «der extremen Rechten in die Hände spielen». Oder man anerkennt, dass es unter Muslimen Antisemitismus gibt, fügt aber gleich hinzu, dass es auch unter Rechtsextremisten Antisemitismus gibt. Hier gibt es immer noch eine mentale Barriere, eine Art stillschweigendes Verbot.
Wie meinen Sie das?
Es gibt rechten Antisemitismus, aber er ist weniger wichtig und vor allem weniger gefährlich als der islamische Antisemitismus, der mehrere Todesopfer gefordert hat. Die extreme Rechte ist das beste Argument, um die Realität in Frankreich zu verschleiern. Das gilt nicht nur für den Antisemitismus, sondern für alle grossen Probleme Frankreichs, angefangen bei der Einwanderung und der Islamisierung. Man wollte es nicht sehen, als ob das Benennen von Tatsachen das Risiko eines neuen Faschismus bergen würde. Dabei gibt es keine faschistische Gefahr in Frankreich. Das Rassemblement national von Marine Le Pen ist nicht faschistisch. Es ist schwer vorstellbar, dass eine faschistische Organisation dreissig Jahre lang ruhig in der Opposition bleibt.
Dennoch gab es in letzter Zeit einige Aufmärsche von Rechtsextremen, etwa nach dem Mord in Crépol, wo mit Messern bewaffnete Jugendliche eine Festgesellschaft überfielen und gemäss Zeugen Hassparolen gegen Weisse riefen. Danach zogen extreme Rechte durch die Strasse und skandierten «Islam raus!». Bereitet Ihnen das keine Sorgen?
Es gibt eine extreme Rechte, und natürlich gibt es Antisemiten im Rassemblement national, wahrscheinlich mehr als in der Durchschnittsbevölkerung. Aber kann man alle, die Angst vor dem Islam haben, als Faschisten bezeichnen? Ist die Sorge um den Fortbestand der französischen Identität stets faschistisch, oder kann sie angesichts einer schleichenden Islamisierung der Gesellschaft ein nachvollziehbarer Verteidigungsreflex sein?
Das Rassemblement national gibt sich heute projüdisch, der Holocaust-Leugner Jean-Marie Le Pen musste die Partei verlassen. Auf der Linken dagegen ist mit La France insoumise eine Bewegung entstanden, die offen mit Islamisten kooperiert, über «Islamophobie» klagt und Israel als Schurkenstaat sieht.
La France insoumise ist meiner Meinung nach eine echte Gefahr für die Demokratie. Schauen Sie, wie sich die Abgeordneten dieser Partei in der Nationalversammlung aufführen: Provokationen, Beschimpfungen, kein Respekt für das Parlament und die Demokratie. Weil sich grosse Teile der ehemaligen Arbeiterklasse und der kleinen Angestellten von der Linken abgewandt haben, wendet sich La France insoumise den muslimischen Vorstädten zu. Sie ortet dort eine Art neues Proletariat, das morgen vielleicht den Wahlerfolg garantieren wird. Daher ihre systematische Verurteilung Israels, daher ihr Schweigen zum muslimischen Antisemitismus. Dies, obwohl sie wissen, dass dieser Antisemitismus in diesen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet ist. All das ist demagogisch und verachtenswert.
Gibt es hier ein Aufwachen seit dem 7. Oktober? Und gibt es noch eine Chance, das Desaster zu verhindern, oder ist es zu spät?
In der Politik kann man einen Niedergang immer aufhalten. Ist es dafür zu spät? Ich glaube nicht, sofern die Bereitschaft da ist, die Dinge beim Namen zu nennen und sie zu bekämpfen. Was die Ereignisse vom 7. Oktober betrifft, so ist es schwierig, die öffentliche Meinung in Frankreich zu erkennen, da der Medienbetrieb mächtig und insgesamt nicht sehr israelfreundlich ist. Mir scheint jedoch, dass der Terror – insbesondere der Angriff auf die Rave-Party in der Wüste – bei vielen Franzosen Erinnerungen an das Massaker im «Bataclan» geweckt hat. In einer Umfrage im Dezember gaben 80 Prozent an, sie würden Israels Vorgehen gegen die Hamas unterstützen.
Wirklich? Die propalästinensischen Kundgebungen mit Hunderttausenden Teilnehmern zeigen doch eher das Gegenteil.
Diese Demonstrationen sind letztlich ein oberflächliches Phänomen. Die tiefere Realität ist schwieriger zu erkennen, denn die grosse Mehrheit in diesem Land demonstriert nicht. Sie geht nicht auf die Strasse. Ich bin davon überzeugt, dass diese Mehrheit zutiefst antiislamistisch eingestellt ist, aber nicht gehört wird. Sie spürt, dass Frankreich der gleichen Gefahr ausgesetzt ist wie Israel: dem Islamismus, der im «Bataclan» getötet hat, der einen Priester enthauptet hat, der 86 Menschen in Nizza und die Redaktion von «Charlie Hebdo» getötet hat. Die Medien spiegeln dieses Frankreich oft nicht wider, sie sind von einer kulturellen, intellektuell verarmten Linken geprägt. Diese Linke erkennt in den Muslimen, angefangen mit denen in Gaza, die neuen Verdammten dieser Erde.
Linke Intellektuelle wie Edwy Plenel behaupten tatsächlich, die Muslime seien die neuen Juden in Frankreich, und Islamophobie sei das eigentliche Problem des Landes. Was halten Sie von dieser These?
Das ist eine absurde Parallele. Die Juden waren immer eine winzige Minderheit, in Frankreich machen sie bestenfalls 0,6 Prozent der Bevölkerung aus. Die Zahl der Muslime ist viel höher, Schätzungen schwanken zwischen sechs und neun Millionen Menschen. Man kann nicht mehr von einer unbedeutenden Minderheit sprechen. Ausserdem: Warum wollen Millionen von Muslimen nach Europa kommen, wenn Europa so sehr von Rassismus und «Islamophobie» durchsetzt ist? Haben Sie vielleicht von Juden gehört, die 1936 nach Deutschland einwandern wollten?
Während die Migration aus islamischen Ländern anhält, haben in den letzten Jahren Tausende jüdische Bürger Frankreich verlassen, weil sie sich nicht mehr in Sicherheit fühlen. Wie ernst ist das Problem?
In den letzten zwanzig Jahren hat die jüdische Gemeinschaft rund 100 000 von 500 ooo Mitgliedern verloren. Etwa 70 000 sind nach Israel gegangen. Das Gefühl der Bedrohung war für viele ausschlaggebend, es gibt aber auch religiöse Gründe. Die jüdische Bevölkerung hat sich rejudaisiert. Viele Familien haben entschieden, in Israel zu leben, weil sie glauben, sie könnten in diesem Land ein vollkommenes jüdisches Leben führen. Seit dem 7. Oktober zeichnet sich jedoch ab, dass es eine weitere Auswanderungswelle geben wird.
Warum?
Die Agence juive pour Israël hat eine Flut von Anfragen erhalten, 400 Prozent mehr als im Vorjahr. Statt einer Welle des Mitgefühls hat der 7. Oktober weltweit eine Welle des Hasses ausgelöst, vor allem in den arabischen Staaten. Frankreich zählt die grösste arabische und muslimische Bevölkerung in Europa. Seit dem 7. Oktober gab es eine Explosion von antisemitischen Gewalttaten im Land. Natürlich werden nicht alle, die sich über eine Emigration nach Israel informieren, tatsächlich auswandern. Aber allein dass sich so viele informieren, ist beunruhigend.
Schon heute sind Juden in manchen Gegenden Frankreichs fast so rar wie in arabischen Ländern.
Das stimmt, in Seine-Saint-Denis leben noch etwa 20 Prozent der einstigen jüdischen Bevölkerung. Nehmen Sie eine grosse jüdische Gemeinde wie jene in Sarcelles, die zählte fast 35 000 Einwohner vor zwanzig Jahren. Heute sind es noch knapp 20 000. Die Juden ziehen nicht unbedingt nach Israel, sie sammeln sich in bestimmten Vororten und Stadtvierteln von Paris. Sie rücken zusammen, so fühlen sie sich sicherer.
Wird es eines Tages keine Juden mehr in Frankreich geben? Oder wird sich die Lage beruhigen?
Die Grundtendenz ist, dass der Exodus weitergeht. Ein Rest wird bleiben, aber auf immer diskretere Weise leben. Jene, die bleiben, werden immer unauffälliger leben, sich weiter in bestimmte Viertel zurückziehen und auffällige Zeichen wie die Mesusa von den Türen entfernen, wie das viele bereits heute tun. Gleiches gilt für die Kippa, die viele nur noch verborgen oder gar nicht mehr tragen. Wir bewegen uns auf eine Gemeinschaft zu, die unsichtbar wird.