Dänemark will bis 2030 ein Land ohne Parallelgesellschaften sein. Kann das gelingen und wenn ja, zu welchem Preis?
Die Bagger sind gekommen, um die Segregation zu durchbrechen. Mjölnerparken, die berüchtigtste Siedlung Dänemarks, soll radikal umgebaut werden. Einst lebten hier 1500 Einwanderer aus Ländern wie Palästina, Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Doch nun müssen viele von ihnen ihr Zuhause verlassen. Denn die dänische Regierung verfolgt einen Plan: In dem Land soll es bis 2030 keine Parallelgesellschaften mehr geben.
Um das Ziel zu erreichen, werden gerade in verschiedenen Quartieren im Land Häuser abgerissen und über 10 000 Personen umgesiedelt. Betroffen ist auch Mjölnerparken. Die Siedlung landete 2010 auf der sogenannten Ghetto-Liste der dänischen Regierung. So bezeichnete die Regierung bis 2021 Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner einen «nichtwestlichen Migrationshintergrund» haben. In Mjölnerparken waren es bis vor kurzem über 80 Prozent.
Inzwischen hat sich die Regierung vom umstrittenen Begriff verabschiedet. Doch der Plan ist derselbe geblieben: Ethnische Däninnen und Dänen sollen in die umgebauten Wohnungen ziehen und die Problemsiedlungen aufwerten.
Die Geschichte von Mjölnerparken ist eine Geschichte über Dänemarks Migrationspolitik. Von ihr existieren zwei Versionen.
I. Verfehlte Integration, Gangs und Terroristen
In der ersten Version der Geschichte geht es um verfehlte Integration, Gewalt und um Männer wie Omar al-Hussein. Al-Hussein wird im September 1992 als Sohn palästinensischer Eltern in Dänemark geboren. Im selben Jahr zieht die Familie nach Mjölnerparken. In den Backsteinhäusern, einst gebaut für die dänische Mittelklasse, leben schon in den 1990er Jahren mehrheitlich Personen mit Migrationshintergrund. Damals ist die dänische Migrationspolitik liberal. Heute gilt sie als eine der restriktivsten in Europa.
Im November 2023 stehen vier Männer auf der Baustelle, die einst ein grüner Innenhof war, und trinken Kaffee. Sie stammen alle aus Palästina. Die Situation im Gazastreifen beschäftigt sie stärker als die dänische Migrationspolitik. Nur noch einer der Männer lebt in Mjölnerparken. Die anderen sind bereits weggezogen. «Als wir nach Dänemark kamen, hat man uns hier platziert, und jetzt beklagen sie sich, dass hier nur Muslime leben», sagt einer der Männer. Er klingt zynisch. «Wegen ein paar Youngstern, die Ärger gemacht haben, werfen sie uns nun alle raus.»
Einer dieser Youngster ist Omar al-Hussein. Er ist bereits ein Krimineller, als er am 14. Februar 2015 zum Terroristen wird. Um 15 Uhr 33 fallen vor einem Kulturlokal im Kopenhagener Stadtteil Österbro Schüsse. Drinnen findet eine Veranstaltung zum Thema Kunst, Blasphemie und Meinungsfreiheit statt, draussen auf dem Gehweg liegt der 55-jährige dänische Filmemacher Finn Nörgaard in seinem eigenen Blut. Al-Hussein schiesst 27 Mal durch die Glastüre in das Café und verletzt vier Polizisten, die vor Ort sind, um den Anlass zu schützen. Dann ergreift er die Flucht.
Später wird bekannt, dass er gar nicht Nörgaard töten wollte. Der Anschlag galt eigentlich Lars Vilks, einem Karikaturisten, der den Propheten Mohammed als Hund gezeichnet hat. Noch am selben Abend fährt al-Hussein zu einer Synagoge in der Innenstadt. Dort erschiesst er einen Wächter und verletzt zwei weitere Sicherheitsmänner. Um 5 Uhr am nächsten Morgen wird er von einer Polizeipatrouille in der Nähe von Mjölnerparken gesichtet. Die Festnahme endet in einer Schiesserei, bei der al-Hussein ums Leben kommt.
Der Anschlag erschüttert Dänemark, und der Terrorist wird zum Gesicht von Mjölnerparken. Die Siedlung gilt fortan als Symbol für Kriminalität, gescheiterte Integration und Einwanderer, die lieber unter sich bleiben. Dass al-Hussein zwischen 2004 und 2006 in Jordanien gelebt hat und sich auch dort hätte radikalisiert haben können, geht in der Debatte weitgehend unter. Der Anschlag scheint das zu bestätigen, was viele bereits denken: In Mjölnerparken existiert eine Parallelgesellschaft, und diese ist eine Bedrohung für Dänemark.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Siedlung Schlagzeilen macht. Sie steht bereits seit 2010 auf der sogenannten Ghetto-Liste. Im Stadtteil Nörrebro tobt damals ein gewaltsamer Bandenkrieg. Mjölnerparken ist die Heimat der Brothas-Gang. Auch al-Hussein soll Teil der Bande gewesen sein. Im November 2017 eskaliert die Situation, als die rivalisierende Loyal-to-Familia-Gang in Mjölnerparken einen 22-Jährigen in seinem Auto mit sechs Schüssen hinrichtet. Auch der Beifahrer stirbt bei der Schiesserei. Die Brothas schwören Rache. Der Dezember 2017 wird zum blutigsten Monat in Kopenhagens Ganggeschichte.
Am 1. März 2018 hat der damalige Ministerpräsident Lars Lökke Rasmussen genug. Mit einer Entourage aus acht Ministern und einem Grossaufgebot der Polizei macht er sich auf nach Mjölnerparken. Dort präsentiert er den Medien seinen Plan: «Ein Dänemark ohne Parallelgesellschaften – keine Ghettos im Jahr 2030».
II. Idyll, Gemeinschaft und Fremdenhass
Einige Bewohner von Mjölnerparken erzählen die Geschichte anders. Einer von ihnen ist Jamal. Er lebt seit 1994 mit einigen Unterbrüchen in Mjölnerparken. Seine Frau und er haben in der Siedlung eine Tochter und zwei Söhne grossgezogen. In diesem Artikel will Jamal nicht bei seinem vollen Namen genannt werden, weil er Nachteile für seine Kinder befürchtet.
Jamal stammt aus Palästina. Als er fünf Jahre alt war, wurde er in Libanon angeschossen. Seither ist seine rechte Seite fast komplett gelähmt. 1986 floh er mit 15 Jahren nach Dänemark. Er hat in Kopenhagen studiert und eine Familie gegründet. Er unterrichtete an dänischen Schulen und hat die dänische Staatsbürgerschaft erhalten. Doch seine Herkunft ist wie ein Stempel, den er nicht loswird.
Das Dänemark seiner Jugend beschreibt Jamal als offen und tolerant. Es seien die Terroranschläge vom 11. September 2001 gewesen, die zum Stimmungswandel geführt hätten. «Wenn du heute als Politiker erfolgreich sein willst, brauchst du nichts anderes zu tun, als über Flüchtlinge und Migranten zu poltern», sagt Jamal. «Das ist traurig und enttäuschend, aber auch beängstigend.»
Er erzählt von Fremdenhass und Vorurteilen. Davon, wie er besorgt seinen Sohn anrief, wenn er die Sirenen der Polizeiautos hörte. Von Polizisten, die die Jugendlichen in Mjölnerparken gezielt provoziert haben sollen. Von seiner Angst, dass seinem Jungen etwas zustossen könnte. Ob die Vorwürfe stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Jamals Sorge aber scheint echt zu sein.
Der multikulturelle Stadtteil Nörrebro, zu dem auch Mjölnerparken gehört, ist alles, was das offizielle Dänemark nicht sein will. An diesem Nachmittag im November eilt eine blonde Frau mit einer Kufiya um den Hals aus der Metrostation. Musliminnen mit Hijab ziehen Einkaufstrolleys hinter sich her. Arabische Läden bieten auf dem Trottoir Gemüse und weite Kleider an. Das, was bei vielen Politikern Unbehagen auslöst, ist das, was Jamal anzieht. Nörrebro sei offener als der Rest von Dänemark, sagt er. «Mjölnerparken ist ein wirklich netter Ort zum Leben.»
Das findet auch Majken Felle. Sie ist 2014 nach Mjölnerparken gezogen. In den letzten zwei Jahren ist sie zu einer der prominentesten Kämpferinnen gegen den «Ghetto-Plan» geworden. Felle ist dem Bewohnervorstand beigetreten, sie hat Interviews gegeben und gegen den Staat und die Baugesellschaft, der die Siedlung gehört, geklagt. Sie sagt: «Mjölnerparken ist der beste Ort, an dem ich in Kopenhagen gelebt habe.» Zumindest sei er das gewesen – damals, als noch Kinder draussen spielten und Familien sich zum Kaffee im Innenhof trafen.
Jetzt steht der Spielplatz verlassen da, vor einem Haus, das in eine Gerüstplane eingepackt ist. Die Siedlung gleicht einem Labyrinth aus Baugerüsten. Zwischen den Häusern hängen Stromkabel, der Wind hat den Abfall der Baustelle im Innenhof verteilt. Sich selbst bezeichnet Felle als Kollateralschaden. Die «Ghetto-Politik» ziele nicht auf sie, auch wenn sie von den Folgen direkt betroffen sei. Vielleicht sei es gerade deshalb einfacher für sie, sich zu wehren. «Ich kämpfe für unser Zuhause, unsere Nachbarschaft und für Gerechtigkeit», sagt sie. «Aber ich muss nicht meine Identität verteidigen.»
Für den Protest ist es eigentlich zu spät. Die nichtprofitorientierte Baugesellschaft hat zwei der vier Blöcke bereits an private Investoren verkauft. Viele von ihren Nachbarn sind bereits weggezogen. Manche freiwillig, andere erzwungenermassen. Felle ist geblieben. Sie lebt zurzeit in einer Übergangswohnung.
Majken Felles Mjölnerparken hat wenig mit den vielen Medienberichten über die Siedlung gemein. Sie erzählt von jungen Männern, die ihr anböten, ihre Einkäufe zu tragen, wenn sie sie mit schweren Taschen sähen, und von Nachbarn, die ihr sofort zur Hilfe geeilt seien, als ihr Auto an einem kalten Wintertag nicht habe anspringen wollen. «Ich fühle mich hier sicher.» Von einer muslimischen Parallelgesellschaft will Felle nichts wissen. «Sehen Sie mich an: Ich bin dänisch, ethnisch dänisch. Ich bin keine Muslimin, und ich bin Single. Ich habe mich hier immer akzeptiert gefühlt.»
Ein Bekannter habe ihr einmal gesagt, dass es toll sei, dass so jemand wie sie in Mjölnerparken wohne. Dass sie einen positiven Einfluss auf das Quartier habe. Darauf zielt auch der «Ghetto-Plan»: Ethnische Däninnen und Dänen sollen in die Problemquartiere ziehen und diese aufwerten. Für Felle ergibt das keinen Sinn. «Es bekommt doch niemand einen Job, nur weil sein Nachbar eine Arbeit hat.»
Über die Zukunft entscheidet das Gericht
Die Berichte über Gangs und Terroristen, der Rechtsruck in der Migrationspolitik – stecken dahinter in Wahrheit Islamfeindlichkeit und Fremdenhass?
Darüber wird der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheiden. Majken Felle und andere Bewohner von Mjölnerparken haben die Regierung wegen Diskriminierung verklagt. Sie sind überzeugt, dass der «Ghetto-Plan» gegen EU-Recht und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst.
Jamal ist inzwischen aus Mjölnerparken weggezogen. Die Baugesellschaft ist verpflichtet, den bisherigen Mietern Alternativen anzubieten. Sie schlug Jamal eine Wohnung ausserhalb Kopenhagens vor. Jamal lehnte ab. Er wollte in Nörrebro bleiben und bekam von der Stadt eine behindertengerechte Wohnung vermittelt. Von der Baugesellschaft hat er 3200 Franken für Möbel und Umzug erhalten. Seine Miete ist von umgerechnet 880 Franken auf 1260 Franken gestiegen. Seine Rente und das Einkommen seiner Frau reichten knapp, um die Ausgaben zu decken, sagt er.
Majken Felle wurde eine neue Wohnung in Mjölnerparken zugesprochen. Diese wird frühstens im Mai fertig renoviert sein. Sie wird noch bis Februar in ihrer derzeitigen Übergangswohnung bleiben. Dann wird sie in ein weiteres temporäres Appartement ziehen. Die Baugesellschaft hat ihr Zwischenlösungen ausserhalb von Mjölnerparken angeboten, doch Felle wollte in der Siedlung bleiben. Dafür nimmt sie mehrere Umzüge in Kauf.
Der Europäische Gerichtshof wird die Klage noch dieses Jahr behandeln. Das Urteil wird 2025 erwartet. Was passieren wird, wenn das Gericht zugunsten der Kläger entscheidet, ist unklar. Denn bis dahin werden die Zwangsräumungen abgeschlossen sein.
Dänemark feiert die Politik bereits als Erfolg. Seit Dezember steht Mjölnerparken nicht mehr auf der «Ghetto-Liste». Den Preis zahlen Menschen wie Jamal und Majken Felle.