Die Bildungslobbyistin ist das Megafon für viele Schweizer Pädagogen. Gibt es Probleme, gibt die Präsidentin des Lehrerverbands ein Interview. Der aktuelle Hilferuf: Regeln fürs Gendern.
Dagmar Rösler führt ein berufliches Leben im Imperativ. In der Öffentlichkeit besteht ihr Job aus: fordern, fordern, fordern. Am Wochenende hat sie im «Sonntags-Blick» verlangt: «Die Politik muss endlich entscheiden, wie wir gendern sollen.»
Wundern muss man sich nicht: Bereits die Beschreibung ihres Amts wirkt überhöht. Rösler, die «oberste Lehrerin der Schweiz». Als Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer vertritt sie, nimmt man die Mitgliederzahlen, zwar nur etwa die Hälfte aller Pädagogen – aber an ihr liegt es, die Klagen und Wünsche ihrer Klientel möglichst wirksam an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie nennt das: «Hilferufe».
Die Gendersprech-Forderung war die bisher letzte in einer Kaskade allein in diesem Jahr. Im «Tages-Anzeiger» sagte sie im Februar über die Herausforderungen mit der integrativen Schule: «Es darf nicht so weitergehen.» Im Frühling ging es um Hilfestellung für Kinder, die sich radikalisieren. Der «Blick» titelte: «Oberste Lehrerin fordert Ombudsstellen für Schulen». Und im Sommer hiess es im Schweizer Fernsehen: «Oberste Lehrerin der Schweiz fordert mehr politische Bildung».
Am Ende gehts ums Geld
Der Adressat dieser dramatisch klingenden Appelle: Politiker, die nun «handeln» müssen. Aber: Gehandelt wird selten. Rösler hat es früher schon gesagt: «Ich erlebe die Politik nach wie vor als sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Lehrerinnen und Lehrern etwas zuzusprechen.»
Rösler fungiert eher wie ein Megafon für die vielen Leiden der Lehrer mit ihren Schülern, die immer verhaltensauffälliger werden, mit der ausufernden Bürokratie, mit aufmüpfigen oder überforderten Eltern. Im Gespräch wägt sie jedoch ab, bevor sie Kritik übt, und wenn sie Probleme benennt, erwähnt sie im Nebensatz immer auch, dass es nicht alle so sähen wie sie. Die Forderungen mögen radikal klingen, aber sie bedienen den kleinsten gemeinsamen Nenner unter den Lehrern.
Gendern aus Überzeugung – oder «Gender-Gaga»? Hauptsache, es gibt eine Regelung. – Mehr Unterstützung (also Entlastung) für die Pädagogen? Immer gerne. – Mehr politische Bildung? Dagegen kann niemand sein.
Was bei diesen «Hilferufen» vor allem herausschauen soll: mehr Geld.
Geschickte Einflussnahme
Die Erklärungen Röslers, die sie rund um die Schlagwörter drapiert, sind differenzierter. Ihr ist bewusst, dass in der föderalistischen Schweiz eine einheitliche Meinung zur Gendersprache schwierig zu erreichen ist, auch unter den Lehrern. Was soll die Politik da machen? Rösler sagt auf Anfrage: «Der Schule würde es helfen, wenn sich die Politik auf ein Vorgehen festlegen würde – so dass man sich als Schule an etwas festhalten könnte.»
Das klingt unverdächtig. Aber auch eher nichtssagend. Um Einigkeit bemüht, das schon, um eine Lösung, die niemandem weh tut.
Doch sie weiss ihre Rolle zu nutzen. Mit dem Label der Prima inter Pares bringt sie die Nöte ihrer Berufskollegen in die Öffentlichkeit, ehe sie ihre eigenen Überzeugungen einfliessen lässt. Die sind im Bildungswesen: Mainstream. Kritiker sagen: zu links. Klar ist: Ihre Meinung hat Gewicht, sie ist die meistzitierte Lehrerin des Landes.
Und eine Verfechterin der integrativen Schule, die, wenn nicht gescheitert, dann mindestens unter Druck ist. Sie spricht sich gegen Noten an Primarschulen aus, sie hält den Schulen zugute, dass sie das Handy «im Griff» hätten. Sie ist überzeugt, dass die Schulen wegkommen müssten von der Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gebe. Und warum nicht den Genderstern verwenden, wenn man sich darauf einigte?
Die Schule im politischen Gerangel
Die Schule habe zwar teilweise grosse Schwierigkeiten, sei aber nicht generell in «Schieflage» und finde sich vielleicht deshalb in einem politischen «Gerangel» wieder. Weil auch die Bürgerlichen, vor allem die FDP, die Bildung wieder als wirkmächtiges Thema für sich entdeckt haben, «was grundsätzlich zu begrüssen ist».
Aber diese Kreise wollen mehr Separation. Kein Gendern, keine Geschlechterdebatten für Primarschüler, keine Sondersetting-Auswüchse und auch keine politische Bildung, die mehr Klimaschutz und Diversität predigt.
Rösler wehrt sich gegen diesen Vorwurf der Indoktrination, In Interviews streitet sie ab, dass die Schule zu «woke» sei. Sie sagt zur NZZ: «Die Schule hat den Auftrag, alle Kinder und Jugendlichen, egal welcher Herkunft, Kultur, geschlechtlichen Orientierung, zu integrieren.» In der Schule müsse eine «Nulltoleranz gegenüber Ausgrenzung und Diskriminierung» herrschen. Man könne doch keine Kinder im «freien Schussfeld» lassen, wenn sie sich nicht männlich oder weiblich fühlten. Das generische Maskulinum, beispielsweise, sei nicht mehr zeitgemäss. Das sei nicht «woke», sondern nur fair, mit einbeziehend – «und deswegen der richtige Weg».
«Pädagogin von Sinnen»?
Die Gesellschaft verändere sich, sagt sie, andere «Familienmodelle», «Bevölkerungszusammensetzung», «Werte». Diese Vielschichtigkeit müsse man akzeptieren und sich an ihr orientieren im Unterricht.
Rösler sagt: «Ich bin der Meinung, dass diese Haltung nichts mit links zu tun hat. Es gehört zum Berufsauftrag von Lehrpersonen.»
Kritik ist sie sich gewohnt. Die «Weltwoche» nannte sie nach ihrem Wunsch nach mehr politischer Bildung eine «Pädagogin von Sinnen». Ihr scheint es wenig anzuhaben. «Es ist schön, wenn sich nun auch Bürgerliche für Bildung interessieren. Ich spreche mit allen, die konstruktive Ideen vorbringen, wie die Schulen unterstützt werden können.» An ihren Überzeugungen hält sie fest.
Einigen könnten sich wohl alle auf ein Problem: den Lehrermangel. Der bereitet auch ihr Sorgen. Am Dienstag berichtet «20 Minuten» über zwei Klassen in Schlieren, die seit dem Sommer 14 Lehrer verschlissen haben. Der nächste Aufhänger für eine Forderung Röslers. Oder für einen «Hilferuf».