Ein kämpferisches Interview zum Jubiläum des Theaters Rigiblick.
Daniel Rohr ist in seinem Element, in seinem natürlichen Habitat, auf der Bühne des Theaters Rigiblick. Die Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet. Mit aufgerissenen Augen blickt er ins Publikum, ruft: «Ich fliege zum Mars!» Die Musiktruppe im Hintergrund stimmt Iggy Pops «Passenger» an. Zuerst laut, dann leise wie ein Kinderlied. Alles singt.
Rohr ist Zürichs wohl umtriebigster Theatermann. Seit zwanzig Jahren leitet er das kleine, aber feine Haus hoch oben am Zürichberg, direkt am Waldrand gelegen. Er hat es in dieser Zeit zu einer beliebten Adresse gemacht für Kulturinteressierte, denen das Gebotene in den stark subventionierten Häusern der Stadt nicht mehr schmeckt.
Gewisse Stücke spielt er seit Jahren, andere wie das Jubiläumsprogramm «Dreamer» über eine fabulierte Fahrt in den Weltraum sind neu. Wir treffen Daniel Rohr in seinem Direktorenbüro, direkt hinter der Bühne.
Herr Rohr, Sie sind nicht nur Theaterleiter, Sie führen auch Regie, produzieren Stücke, sind der Hauptdarsteller. Wollen Sie immer alles selber machen?
Es ist schön, dass ich einen vielfältigen Beruf habe. Aber ich habe auch gelernt, Verantwortung zu delegieren. Unser Jubiläumsstück «Dreamer» ist ein gutes Beispiel: Ich bin der Hauptdarsteller, meine Frau Hanna Scheuring führt Regie. Bei der Theaterfassung von «Melody» von Martin Suter war es anders: Ein Dramaturg schrieb die erste Fassung, ich führte Regie. Theater ist ein Gesamtkunstwerk, ich arbeite gerne mit vielen Menschen zusammen. Seit ich das Theater vor zwanzig Jahren übernommen habe, haben wir alle den Betrieb gemeinsam enorm weiterentwickelt.
Im Jahr 2004 war das Rigiblick eine Quartierbühne. Bevor Sie die Leitung übernahmen, standen Sie auf grossen Bühnen, spielten in Filmen mit, leiteten ein Theaterfestival. War der Wechsel nicht ein Rückschritt in Ihrer Karriere?
Damals ja. Aber es war mir nicht wichtig. Meine Haltung war: Es ist nicht entscheidend, ob ich beim FC Wallisellen oder bei Bayern München spiele, wichtig ist mir, eine gute Lebenszeit mit guten Menschen zu haben. Ich kam vom Theater Neumarkt, meine Kinder waren klein, meine damalige Frau war als Ärztin beruflich an Zürich gebunden. Ich hätte ins Ausland gehen können, wollte aber meine Familie nicht schon wieder an einen anderen Ort verpflanzen. Aber natürlich hat mir die neue Situation auch Angst gemacht.
Warum?
Ich hatte einen radikalen Schritt gemacht – als Vater in einem Beruf, in dem Geld verdienen nicht einfach ist. Aber ich konnte mir hier oben einen Traum verwirklichen. Weil ich gute Kontakte aus der Szene hatte, konnte ich mit der Zeit ein gutes Team zusammenstellen und bekannte Namen ins Theater holen wie Bruno Ganz oder Corinna Harfouch . . . diese wiederum haben weitere Künstlerinnen und Künstler angelockt.
Wie lief es finanziell?
Am Anfang war es bescheiden. Im ersten Jahr machten wir 110 000 Franken Umsatz. Jetzt sind wir bei 3,5 Millionen. Ich sehe mich als Chef eines KMU. Ich bin dafür verantwortlich, dass 40 Personen einen Verdienst erhalten.
Ein Theaterchef, der sich als KMUler versteht, das sieht man im Zürcher Kulturbetrieb selten. Das Theater Rigiblick hat eine Auslastung von fast 90 Prozent. Wie schaffen Sie das? Das mit fast 40 Millionen Franken subventionierte Schauspielhaus erreichte nur 50 Prozent.
Wir haben einen Repertoirebetrieb, das bedeutet: Unsere Aufführungen bleiben lange im Programm. Weil wir in unserem Theater praktisch keinen Stauraum haben, haben wir beschlossen, mit kleinen und unaufwendigen Bühnenbildern zu arbeiten. So können wir jeden Abend eine andere Show zeigen. Das führt zu guter Mundpropaganda. Darauf sind wir angewiesen, wir haben nur wenig Geld für Werbemittel. Wir generieren mit Tickets eine Million Franken jährlich. Ohne diese hohe Auslastung würde unser Theater nicht funktionieren.
Bild links: Wasser und Technik müssen beim Proben immer griffbereit sein. Rechts: die Schauspielerin und Sängerin Anna Känzig während einer Pause.
Auch Ihr Theater erhält jedoch Subventionen, jährlich über 600 000 Franken.
Dafür sind wir auch dankbar. Von den 650 000 Franken sind allerdings 200 000 Franken Mieterlass. Wir haben jedoch fixe Lohnkosten in der Höhe von 1,3 Millionen Franken, die Gagen kommen noch dazu. Die Subventionen decken die Kosten also bei weitem nicht.
Was ist bei Ihrem Theater anders?
Das Theater Rigiblick würde ohne selbst erwirtschaftete Gelder nicht funktionieren. Gelder zu akquirieren, ist für mich Knochenarbeit. Bei den grossen, unbefristet subventionierten Häusern sind sowohl die Lohn- als auch die Produktionskosten durch öffentliche Gelder gedeckt. Kommt hinzu, dass die Stadt uns die Subventionen gekürzt hat. Die Jury wollte 150 000 Franken weniger für uns, das entspricht einem Drittel der Mittel für den laufenden Betrieb. Beim Schauspielhaus wären das im direkten Vergleich 13 Millionen, das Wehklagen wäre gross. Es zeigt, dass die Jury wenig Ahnung von Geschäftsführung hat. Der Stadtrat hat dann die Kürzung auf 50 000 Franken korrigiert.
Sie sprechen das neue Förderungssystem der Stadt an: Bei kleineren Häusern subventioniert sie nun Konzepte statt Institutionen. Ihr Theater erhält weniger Geld, zwei Institutionen gar nichts mehr.
Ja, das Theater Stok und der Keller 62. Die Stadt spart so lächerliche 145 000 Franken im Jahr. Mich macht das fassungslos, da stehen Existenzen auf dem Spiel, von Personen, die ihre Theater über zwanzig Jahre lang geleitet haben. Durch die Konzeptförderung haben die meisten Theater aus dem freien Pool weniger oder nur geringfügig mehr Subventionen erhalten, weil mit dem Zirkusquartier ein neuer Player dazugekommen ist. Jetzt sind alle unzufrieden. Ich erlebe es so: Je mehr Publikum man anzieht, desto weniger Fördergelder gibt es – das sind falsche Anreize.
Trifft es Sie?
Natürlich trifft mich das. Und natürlich stört es mich, dass von der neunköpfigen Jury, die das beurteilt hat, nur drei Personen uns überhaupt besucht haben. Die anderen haben nur unser Konzept geprüft. Dabei muss man Theater doch sehen, riechen, schmecken.
Was kritisieren Sie an der städtischen Subventionspraxis konkret?
Das neue Fördersystem ist nicht ausgereift. Alleine dass man die Theater der Stadt Zürich in feste und flexible Kategorien unterteilt, ist schon absurd. Die grossen Häuser, die jedes Jahr unbefristet Millionen erhalten, müssen sich keinem Wettbewerb stellen, ihre Subventionen werden nicht angetastet. Die kleinen freien Theater, die ohnehin schon wenig Geld erhalten, müssen sich abstrampeln und stehen in Konkurrenz zueinander. Dies hat dazu geführt, dass die kleinen Theater des flexiblen Teils heute kaum noch miteinander kommunizieren, alle sind schon mit der Vorbereitung für die nächste Konzepteingabe in vier Jahren beschäftigt.
Sie auch?
Ja, sicher. Es geht gar nicht anders. Hinter vorgehaltener Hand wird in der Szene immer wieder gesagt, dass die Jury nur eine B-Besetzung sei, weil die schweren Kaliber gar keine Zeit hätten, seitenweise Konzepte zu lesen. Das ist für mich aber gar nicht der Punkt.
Sondern?
Störend ist, dass in der Theaterszene schweizweit alle miteinander verbandelt sind. Das, was früher in der vorberatenden Kommission des Parlaments entschieden wurde, wird jetzt von einer Theaterjury vorentschieden, die eigene Interessen und Abhängigkeiten hat. Was mich stört: Das Theater Rigiblick wird von der Jury der städtischen Kulturabteilung als Unterhaltungstheater abgekanzelt, das nicht innovativ genug sei. Ich habe dann die Gegenfrage gestellt: Was ist Innovation?
Ihre Antwort?
Im modernen Theaterbetrieb versteht man Innovation oft so, dass man dem Stück, dem Text misstraut und die Autorinnen und Autoren hinterfragt. Die Folge sind Textzertrümmerungen auf der Bühne. Der moderne Kanon ist schrill und laut. Ich erlebe oft ein Dozieren von der Bühne herunter statt einer Begegnung auf Augenhöhe oder des Erzählens einer Geschichte. Das wollen viele Zuschauer nicht. Wir müssen die Leute nicht erschrecken, verstören, aufrütteln, belehren. Die Leute sind bei der heutigen Weltlage doch wach genug. Ich muss nicht blutüberströmt auf der Bühne stehen, der Schrecken des realen Krieges im Nahen Osten und in der Ukraine ist medial präsent und viel schrecklicher.
Daniel Rohr arbeitet oft mit seiner Ehefrau Hanna Scheuring zusammen. Im aktuellen Stück «Dreamer» führt sie Regie.
Was wollen die Zuschauer stattdessen?
Sie wollen Vielfalt. Ich finde es super, dass es ein hochsubventioniertes Theater wie das Schauspielhaus gibt, das sich Experimente leisten darf. Aber es muss doch auch einen Platz geben für Theater wie unseres. Menschen wollen berührt werden, Geschichten hören, und das machen wir. Mit Blick auf die Zahlen dürfen wir sagen: mit Erfolg.
Die Stadt verlangt Diversity.
Wir sehen das auch so, wir haben die Hemmschwelle dem Theater gegenüber erheblich gesenkt. Zu uns kommt der einfache Büezer genauso wie die Professorin für Jura. In «Dreamer» wird eine vermeintlich simple Geschichte erzählt, die aber eine ungeheure Kraft entwickelt. Oder nehmen Sie «Fahrenheit 451» von Ray Bradbury: In dem Roman werden Menschen verbrannt, das ist wahrlich keine leichte Kost. Aber in unserer Aufführung nehmen die Leute etwas von der Geschichte mit. Sie gehen erfüllt aus dem Theater, nicht verstört.
Was machen Sie anders als die üppig subventionierten Häuser? Was ist das Rigiblick-Rezept?
Wir vertrauen dem Text und der Kraft der Geschichten. Und wir verbinden immer Text und Musik; Musik transportiert Gefühle. Dazu kommt: Wir haben eine hohe Gastkultur, sowohl was das Publikum als auch was unsere Künstlerinnen und Künstler betrifft.
Musik hat in Ihren Stücken ja einen hohen Stellenwert.
Mit unseren Musik-Theater-Produktionen haben wir quasi ein eigenes Genre entwickelt. Diese «Tributes», die zu Beginn noch aus Vorträgen mit Musik bestanden, haben wir zu szenischen Lesungen weiterentwickelt. Mittlerweile schreiben wir eigene Stücke in diesem von uns geprägten Stil. Bei anderen Abenden kombinieren wir die Musik mit Texten von diversen Autorinnen und Autoren. Innovativ heisst aber für mich auch, kreative Lösungen abseits der Bühne zu suchen. Der Begriff «innovativ» wird ja in der Theaterszene vor allem auf performative Aspekte und politischen Inhalt hin definiert.
Haben Sie ein Beispiel?
Während der Corona-Zeit durften die Theater nicht spielen. Wir haben im Rigiblick auf eigene Initiative einen Fonds gegründet. Innert kurzer Zeit haben wir 600 000 Franken bei unseren Unterstützerinnen und Unterstützern gesammelt und auf unbürokratische Art an unsere Künstlerinnen und Künstler verteilt. Wir haben vier Inszenierungen auf die Beine gestellt, damit die Leute Arbeit hatten. Das hat den Zusammenhalt in unserem Laden enorm verstärkt. Und wir haben damals auch innert kürzester Zeit ein Open Air organisiert, an der frischen Luft zu spielen, war zeitweise erlaubt.
Was würde sich ändern, wenn Ihr Theater mehr Subventionen bekäme?
Es würde mehr Ruhe in den Betrieb einkehren. Das Theater würde nicht immer im roten Bereich drehen. Wir könnten uns auch einmal ein Experiment oder einen Misserfolg erlauben. Wir wären nicht immer in unserer Existenz bedroht, müssten nicht immer Angst davor haben, dass Sponsorengelder wegbrechen. Die Leitung hätte mehr Zeit für künstlerische Prozesse.
Als Daniel Rohr das Theater am Zürichberg übernahm, war es eine Quartierbühne.
Sie arbeiten immer wieder mit Ihrer Frau zusammen, die das Bernhard-Theater leitet. Im neuen Stück «Dreamer» ist sie die Regisseurin, Sie müssen als Schauspieler folgen. Klappt das?
Es klappt sehr gut. Hanna und ich denken gleich. Wir sind beide unkompetitive Menschen. Wir ziehen am gleichen Strick – privat und beruflich. Ich habe ja auch schon bei Hanna Regie geführt im Bernhard-Theater, als sie auf der Bühne stand, auch das funktionierte.
Sie haben noch einen Vertrag im Rigiblick für fünf Jahre. Was passiert danach?
Das Theater ist stark mit meiner Person verknüpft, ich habe eine grosse Raumverdrängung. Dessen bin ich mir bewusst, und ich will darum frühzeitig eine gute Nachfolgelösung aufgleisen. Ich bin zurzeit noch unschlüssig: Braucht es einen radikalen Schnitt, also von einem Tag auf den anderen neue Leute und gar keinen Rohr mehr? Oder einen fliessenden Übergang, bei dem ich weiter Stücke für unser Publikum entwickle – einfach nicht mehr so viele wie heute? Ich weiss es noch nicht.
In «Dreamer» kreiert ein Vater eine Weltraumreise für seine Kinder, eine «wunderbare Illusion», wie es im Stück heisst. Ist das Rigiblick für Sie auch das, eine wunderbare Illusion?
Ja, das versuchen wir hier Woche für Woche: Leute zu verzaubern, mitzunehmen in eine andere Welt. Der Vater gibt seinen Kindern etwas mit, was sie ihr ganzes Leben nicht vergessen werden. Wir können unsere Träume leben. Ist das nicht eine wunderbare, einfache und doch tiefgründige Botschaft?