In New York und Tel Aviv haben Händler auf einen bevorstehenden Einbruch der israelischen Börse gewettet, wie amerikanische Forscher herausfanden. Ob die Hamas hinter den Transaktionen steckt, ist unklar.
An der Börse gibt es keine Moral: Im Vorfeld des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober haben Spekulanten mutmasslich im Wissen über die bevorstehenden Anschläge auf einen Absturz der israelischen Börse gewettet und so Millionen verdient – das legt eine eben veröffentlichte Untersuchung der US-Forscher Robert J. Jackson Jr. und Joshua Mitts von der New York University und der Columbia-Universität nahe.
In ihrer Analyse schreiben die Rechtsprofessoren, ihre Ergebnisse belegten, dass gewisse Händler über die bevorstehenden Anschläge informiert gewesen seien und von den tragischen Ereignissen profitiert hätten. Die israelischen Sicherheitsbehörden nehmen diese Hinweise ernst und bestätigten gegenüber Reuters, dass die zuständigen Behörden die Vorgänge untersuchen.
Jackson und Mitts schreiben in ihrem 66-seitigen Bericht, dass Marktteilnehmer schon Tage vor dem Anschlag die kommenden Ereignisse vorauszusehen schienen. Sie untersuchten dabei die Aktivitäten von sogenannten Leerverkäufern oder Short-Sellern, die auf einen Kurseinbruch des ETF MSCI Israel spekulierten – das ist ein Indexfonds, der in New York gehandelt wird, aber Aktien abbildet, die an der israelischen Börse, der Tel Aviv Stock Exchange (TASE), kotiert sind. Short-Seller verdienen Geld, indem sie auf fallende Kurse wetten.
Leerverkäufe schiessen in die Höhe
Auf Grundlage von Daten der US-Aufsichtsbehörde Financial Industry Regulatory Authority stellten die Forscher fest, dass am 2. Oktober – also fünf Tage vor dem Angriff – die Leerverkaufsaktivität beim fraglichen ETF «plötzlich und deutlich in die Höhe schoss». Tatsächlich war das Volumen der Leerverkäufe an jenem Tag mit 227 000 Einheiten ausserordentlich hoch. An einem regulären Handelstag werden sonst lediglich einige tausend Stück gehandelt.
Das Volumen an Leerverkäufen am 2. Oktober übertraf auch jenes in anderen Krisenzeiten wie etwa während der Rezession nach der Finanzkrise im Jahr 2008, während des vorletzten Israel-Gaza-Kriegs 2014 oder auch während der Covid-Pandemie 2020. Auch die Leerverkäufe an der israelischen Börse in Tel Aviv waren in den Tagen vor den Angriffen stark angestiegen – auch hier könnten Akteure vom Hamas-Angriff gewusst haben.
An der Börse Tel Aviv sind israelische Unternehmen wie die Tech-Firmen Checkpoint und Nice, der Pharmakonzern Teva oder die Bank Leumi kotiert. Diese Aktien sind auch im entsprechenden Israel-ETF vertreten. Die TASE hat zwar starke Verbindungen zu den Börsen in den USA – viele israelische Firmen haben eine Doppelkotierung. Ob es einen Zusammenhang zwischen den Leerverkäufern in New York und Tel Aviv gibt, konnten Jackson und Mitts jedoch nicht ermitteln.
Der Hizbullah als Short-Seller?
Die Forscher behaupten nicht, dass die von den Spekulanten verwendete Insiderinformation direkt von der Hamas stammte. Doch für israelische Medien wie «Haaretz» liegt die Vermutung nahe: Die Hamas hatte den Anschlag monatelang geplant, und ihr Anführer in Gaza, Yahya Sinwar, habe nicht nur die taktische Ausgestaltung, sondern auch die logistischen und finanziellen Aspekte vorbereitet.
Wenn man glaube, dass der Hizbullah-Führer Hassan Nasrallah nichts von dem Hamas-Angriff gewusst habe, dann komme der Hizbullah als Leerverkäufer nicht infrage, schreibt «Haaretz». Auch Iran müsste man aus demselben Grund ausschliessen. Nur Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden in Israel und in den USA könnten aufdecken, wer von den Spekulationen profitiert habe und ob Verbindungen zur Hamas bestünden.
Dass die Hamas selbst finanztechnisch beschlagen ist und über ein Netzwerk von Finanzintermediären verfügt, ist bekannt. So soll die Terrororganisation zur Eigenfinanzierung mitunter auf Krypto-Transaktionen zurückgegriffen haben. Deshalb sind die israelischen Behörden gegen Krypto-Handelsplätze wie Binance vorgegangen. Sollte nachgewiesen werden, dass die Hamas zur Finanzierung auch auf Short-Selling-Techniken zurückgreift, dürfte das die Strafbehörden und Regulatoren weltweit auf den Plan rufen.
Millionenwetten in New York und Tel Aviv
Doch wie gingen die Spekulanten genau vor? Leerverkäufer machen sich Informationen zunutze, die anderen Marktteilnehmern nicht zugänglich sind. Sie versuchen sich so einen Vorteil zu verschaffen. Dabei spekulieren sie mit Wertschriften, die sie gar nicht besitzen, und setzen auf sinkende Preise. Dafür leihen sie sich eine grössere Menge Aktien aus, verkaufen sie dann am Markt und kaufen sie Tage oder Wochen später zu einem niedrigeren Preis wieder zurück. Danach retournieren sie die Aktien dem Verleiher – der Preisunterschied ist ihr Gewinn.
Wer sich vor dem 7. Oktober mit israelischen Aktien eindeckte, hatte gute Chancen, dass die Short-Wette aufgeht. Der Wert des in New York kotierten Israel-ETF fiel am 9. Oktober, dem ersten Handelstag, an dem die US-Börse nach dem Angriff auf Israel wieder geöffnet war, um rund 7 Prozent. Zwanzig Tage nach dem Angriff hatte der ETF mehr als 17 Prozent verloren – ein attraktiver Preisunterschied für Short-Spekulationen.
Auch die starke Kursbewegung an der israelischen Börse TASE stellte für Leerverkäufer eine Profitchance dar. Die Autoren nehmen die Aktien der Bank Leumi als Beispiel: Zwischen dem 14. September und dem 5. Oktober wurden 4,4 Millionen Aktien der zweitgrössten israelischen Bank leer verkauft, was in einem Gewinn von 3,2 Milliarden Schekel oder umgerechnet fast 750 Millionen Franken resultierte.
Schon früher verdächtige Handelsaktivitäten
Es ist nicht das erste Mal, dass eine verdächtige Handelsaktivität festgestellt wurde. Bereits im April, als gemäss den Autoren erstmals Gerüchte eines möglichen Hamas-Angriffs aufkamen, sei es zu ähnlichen Transaktionen gekommen.
In der untersuchten Periode wurde aber nicht nur auf die Bank-Leumi-Aktien spekuliert, sondern auf auch Dutzende andere israelische Aktien des Hauptindexes TA-35 und des Nebenwerte-Indexes TA-90. Wie viele Parteien bei den Leerverkäufen mitgemacht haben, ist nicht bekannt.