Es gibt eine neue Liste derer, welche die Gipfel aller vierzehn Achttausender zweifelsfrei erreicht haben. Statt wie bisher vierundvierzig nennt sie nur noch drei Bergsteiger.
Wer das Höhenbergsteigen aus der Ferne betrachtet, für den ist die Sache ganz einfach: Frauen oder Männer, die es auf den höchsten Berg der Welt, den 8849 Meter hohen Mount Everest, geschafft haben, müssen wahre Bergsteiger sein. Wer sich etwas tiefer mit der Materie befasst, der mag das Erreichen aller vierzehn Achttausender-Gipfel als das Mass aller bergsteigerischen Leistungen erkennen. Aber so einfach ist es eben nicht. Es ist sogar sehr kompliziert.
Seit mehr als vier Jahrzehnten verfolgt der Bergchronist Eberhard Jurgalski aus Lörrach genau mit, was an den höchsten Bergen der Welt passiert. Eingeflossen sind Jurgalskis Erkenntnisse in das Buch «Herausforderung 8000er», das 2013 erschienene Standardwerk des Höhenbergsteigens. Jurgalski hat 1978 aus der Ferne miterlebt, wie Reinhold Messner gemeinsam mit Peter Habeler bewies, dass man auch ohne Flaschensauerstoff auf den höchsten Berg der Welt steigen kann. Er hat die weitere Entwicklung verfolgt. Und er hat in diesem Sommer gesehen, wie an nur einem Tag 145 Frauen und Männer auf dem Gipfel des K 2 gezählt wurden, dem mit 8611 Metern zweithöchsten Berg der Welt – so viele wie zwischen seiner Erstbesteigung 1954 und 1996.
«Keiner hat bewusst geschummelt»
Jurgalski weiss heute: Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Schon vor zwanzig Jahren war ihm aufgefallen, dass sich am Manaslu (8163 Meter) die Gipfelbilder der Bergsteiger unterschieden. Mit dem Hinweis, das sei der veränderten Schneelage geschuldet, wollte er sich nicht zufriedengeben. Jurgalski liess nicht locker. Er fand in Tobias Pantel und Rodolphe Popier, beide Mitarbeiter der Bergsteigerchronik «Himalayan Database», Unterstützer und schliesslich auch die Bestätigung seiner Vermutung: Am Manaslu waren über die Jahre 2300 Bergsteiger, die angegeben hatten, auf dem Gipfel gewesen zu sein, gar nicht ganz oben gewesen. Und auch am Dhaulagiri und am Annapurna ist vieles nicht so, wie es scheint. Jurgalski sagt: «Keiner von denen hat bewusst geschummelt. Es ist passiert.»
Wie damit umgehen? Über Jahrzehnte sorgte Elizabeth Hawley, die legendäre Himalaja-Chronistin, für Transparenz und für Klarheit, wenn sie von Unstimmigkeiten erfuhr. Sie galt als letzte Instanz. Es ist müssig, darüber zu spekulieren, wie Miss Hawley mit den neuesten Erkenntnissen umgegangen wäre. Sie starb im Januar 2018. Gnade kannte sie aber nicht. 1997 erkannte sie beispielsweise die Everest-Besteigung des indonesischen Sergeant Misirin nicht an, weil dieser laut Eintrag in der von Hawley begründeten «Himalayan Database» acht Höhenmeter und dreissig Meter Distanz vor dem Gipfel den Aufstieg beendete, um zwei höhenkranke Bergsteiger beim Abstieg zu unterstützen.
Die drei Chronisten Jurgalski, Pantel und Popier nahmen sich Miss Hawley zum Vorbild, als sie auf der Website 8000ers.com kürzlich für einen Paukenschlag sorgten. Ihre neue Liste derer, welche die Gipfel aller vierzehn Achttausender tatsächlich erreicht haben sollen, ist denkbar kurz: Statt wie bisher vierundvierzig nennt sie nur noch drei: den Amerikaner Ed Viesturs, den Finnen Veikka Gustafsson und den Nepalesen Nirmal Purja – wobei auch Purjas angeblicher Rekord von sechs Monaten und sechs Tagen für die Besteigung aller Achttausender der genauen Überprüfung nicht standhielt. Zwei Jahre, fünf Monate und fünfzehn Tage brauchte der Nepalese laut den neuesten Recherchen. Und Reinhold Messner, Jerzy Kukuczka und Erhard Loretan, die ersten drei, welche die Besteigung der vierzehn Achttausender für sich reklamierten? Messner hat sich offenbar am Annapurna vertan, Kukuczka am Manaslu und Loretan am Dhaulagiri.
Nachfrage bei dem, der von den dreien noch lebt. Reinhold Messner schäumt wegen der neuen Erkenntnisse, die ihm seinen Gipfelerfolg am Annapurna im Jahr 1985 absprechen. Er sei auf einer schwierigen Route auf den 8091 Meter hohen Annapurna gestiegen, sagt er. Wie man jetzt feststellen wolle, ob er damals auf dem unübersichtlichen Annapurna-Grat auf dem höchsten Punkt gewesen sei oder nicht? Messner hat sich an den höchsten Bergen nichts geschenkt. Oft war er auf Varianten oder ganz neuen Routen unterwegs; teilweise allein und im Auf- und im Abstieg auf unterschiedlichen Routen.
Auch die neue Übersicht hat Mängel
Eberhard Jurgalski und seine Mitstreiter machten deshalb auch die Rechnung mit den Schwierigkeiten auf. Ed Viesturs und Veikka Gustafsson waren zwar wie Messner ohne Flaschensauerstoff an den vierzehn Achttausendern unterwegs, doch wie Nirmal Purja verliessen sie die Standardrouten nicht. Das zeigt, dass auch die neue Übersicht Mängel aufweist. Bergsteigen ist weit mehr als nur das Erreichen eines Gipfels. Statistiken können es deshalb nur ansatzweise erfassen. Und es greift viel zu kurz, ausschliesslich auf den Mount Everest oder alle vierzehn Achttausender-Gipfel zu starren. Weshalb es auch eine Unsitte ist, diese Berge zum Mass aller Dinge zu machen. «Ich bin froh, dass ich nie das Ziel hatte, alle vierzehn Achttausender zu besteigen. Es hätte gut möglich sein können, dass auch ich auf einem der Berge nicht exakt auf dem Gipfel gestanden hätte», sagt der Italiener Simone Moro. Er hat sich als Winterbergsteiger einen Namen gemacht.
Könnten eine Schwierigkeits- oder eine Bewertungsskala für mehr Klarheit sorgen und die Spreu vom Weizen trennen? Schon vor hundert Jahren wurden für das Klettern Schwierigkeitsgrade erdacht. Der SAC hat Bewertungen für Wanderungen, Berg- und Hochtouren. Oder sollen beim Höhenbergsteigen besser Punkte für die Schwierigkeiten vergeben werden? Am Fixseil: minus fünfhundert Punkte? Ohne Flaschensauerstoff: plus zweihundert Punkte? Im Winter: plus sechshundert Punkte? Darüber wird diskutiert.
Nachfrage beim deutschen Profibergsteiger David Göttler. Der 44-Jährige hat in diesem Frühjahr den Mount Everest ohne Flaschensauerstoff bestiegen. Braucht das Höhenbergsteigen Vorschriften und Bewertungskriterien? Es sei schade, dass man darüber überhaupt nachdenken müsse, sagt Göttler. Und antwortet: «Nein. Wir Bergsteiger haben den Luxus, dass wir kein Regelheft haben. Das ist gut so.» Göttler hat seine eigenen Standards. Seine Regel Nummer eins: grösstmögliche Transparenz. Als er 2017 mit Hervé Barmasse durch die Südwand der Shisha Pangma (8027 Meter) stieg, wäre es ein Leichtes gewesen, auch noch den Gipfel für sich zu reklamieren. «Wir waren aber nicht auf dem Gipfel. Das wäre bei diesen Verhältnissen zu gefährlich gewesen. Also haben wir das auch nie behauptet.» Genauso ehrlich verfuhr er in diesem Frühjahr bei seiner erfolgreichen Besteigung des Mount Everest. Er dokumentierte sogar, dass ein anderer Bergsteiger ihm ein Gummibärchen anbot, das er gerne angenommen habe. Für Göttler war das keine Petitesse.
Angesichts der vielen Menschen, die mittlerweile an den höchsten Bergen der Welt unterwegs sind, appelliert Göttler dafür, genau hinzuschauen und auch «zwischen Amateuren und Profis besser zu unterscheiden». Zwischen all jenen also, die eine Besteigung mit Fixseil und Flaschensauerstoff ohne Limit aus dem Katalog buchen, und Alpinisten, die ohne Sauerstoffmaske selbständig am Berg unterwegs sind und dabei auch die Standardrouten verlassen. Hier würde er sich mehr Differenzierung durch Journalisten und mehr Ehrlichkeit und Offenheit von Alpinisten erhoffen. Jeder Alpinist sei aufgefordert, genau zu sagen, an welchem Berg er welche Route absolviert habe und mit welchen Hilfsmitteln er unterwegs gewesen sei. Heisst konkret: «Wenn es um eine alpinistische Leistung geht, dann starte ich am Everest im Basislager und am Montblanc an der Kirche von Chamonix, an den Ausgangspunkt kehre ich dann auch aus eigener Kraft wieder zurück.»
Nochmals auf den Manaslu
Nach der Aufregung, für welche Jurgalski, Pantel und Popier gesorgt haben, haben die drei Chronisten jüngst noch einmal erklärt, sie wollten die Geschichte des Bergsteigens nicht umschreiben. Wenngleich sie mit der neuen Liste faktisch nichts anderes getan haben. Aufgrund ihrer Erkenntnisse könne aber zumindest jetzt bei Gipfelbesteigungen nur noch der höchste Punkt als Gipfelerfolg gewertet werden, sagen sie.
Es scheint jedenfalls etwas in Bewegung gekommen zu sein. In diesen Tagen wollen laut Informationen aus Nepal einige Bergsteiger, die durch die neuen Erkenntnisse darauf aufmerksam wurden, dass sie lediglich einen Vorgipfel erreicht hatten, noch einmal auf den Manaslu steigen. Unter ihnen ist Ralf Dujmovits, der erfolgreichste deutsche Höhenbergsteiger. Nur für sich, nicht für eine Liste, mache er das, sagte Dujmovits. Auch zahlreiche Nepalesen, die sich erst seit wenigen Jahren von ihrem Dasein als Begleiter zahlungskräftiger Kunden emanzipieren, steigen noch einmal auf. Auch sie wollen den echten Manaslu-Gipfel für sich verbuchen. Und Mingma David Sherpa geht in den nächsten Wochen zum Dhaulagiri. 2019 verfehlte er dessen Gipfel um 60 Meter. Das will er jetzt korrigieren.