Vor über fünfzig Jahren schrieb die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag, dass Frauen unter dem Altern stärker litten als Männer. Hat sich seither etwas bewegt?
Susan Sontag war 39, als sie den Essay «The Double Standard of Aging» schrieb. Eine Lebensphase, in der Frauen ihr Alter gern für sich behalten. Wenn es doch zur Sprache kommt, dann nicht ohne Witzeleien oder den Zusatz, wie alt man sich in seinem Innersten fühle (meist 25). Ab einem gewissen Alter werde die Frage nach dem Alter zum Affront, schrieb Sontag 1972. Und: «Das Alter ist eine Art schmutziges Geheimnis.»
Für viele markiert das 30. Lebensjahr eine Schwelle. Man wird sich bewusst, dass Leben auch bedeutet, sich dem Sterben zu nähern. Um die 35, schreibt Sontag, erinnere das eigene Alter daran, dass man dem Lebensende bereits näher sein könnte als dem Lebensbeginn. Ein durchaus beunruhigender Gedanke. Altern, so schreibt Susan Sontag, sei eine Zumutung. Für Frauen und Männer. Für Frauen aber sei es besonders tragisch.
Fünfzig Jahre nach Erscheinen von Sontags Essay ist das Thema noch immer hochaktuell. Kürzlich fragte Iris Radisch auf der Titelseite der Wochenzeitung «Die Zeit»: Gibt es weibliche Vorbilder für ein würdevolles Altern? Und seit Jahren wird immer wieder angeprangert, dass Frauen über 50 in Film, Mode, Musik und Medien unsichtbar seien. «Wollt ihr wirklich wissen, was es heisst, gecancelt zu werden? Dann sprecht mit einer Schauspielerin in meinem Alter», sagt Rebecca in Virginie Despentes’ Roman «Liebes Arschloch» aus dem Jahr 2022. Für die meisten beginne die «Vorhölle» schon ab 30. Hat sich seit Sontags Essay also nichts verändert?
Die Strafe des Alters
Susan Sontag beschreibt die Doppelmoral so: «Männer dürfen in mehrfacher Hinsicht straffrei altern, was für Frauen unzulässig ist.» Vorteile des Alterns wie wachsende Lebenserfahrung und Charakterstärke würden Männern höher angerechnet als Frauen, die vehementer nach ihrem Aussehen gemessen würden. Auch das sexuelle Kapital von Männern erhöhe sich durch das Alter, viele hätten um die 40 deutlich mehr romantischen Erfolg als mit 20 oder 25. Denn Ruhm, Macht und Geld seien sexuell stimulierend, so Sontag.
Für Frauen hingegen zähle der Wert der Reife nicht. Am besten sollten sie für immer ein Mädchen bleiben, innerlich und äusserlich. In einer Gesellschaft, in der das machtvollste Kapital von Frauen ihre Attraktivität sei, müssten sie alles dafür tun, um ihre Jugend zu konservieren, schreibt Sontag. Denn Jugend werde bei Frauen mit Schönheit gleichgesetzt. Und Alter mit Obszönität und Scham. Für eine schöne Frau, die auch wie eine alte Frau aussehe, gebe es keinen Platz.
Laut der Schweizer Fotografin Clélia Rochat gilt das noch immer. Mit ihren Aktfotos von Frauen über 50, die auf diesen Seiten abgebildet sind, will sie sich ihrer eigenen Angst vor dem Älterwerden widersetzen. Sie ist 25. In einem Interview mit der «Zeit» sagte sie: «Je älter eine Frau ist, desto unsichtbarer wird sie in der Gesellschaft.»
Körper, die das Alter nicht zulassen
Die Daten geben ihr recht. Laut einer Studie von 2020 sind Frauen in Schweizer Medienberichten deutlich jünger als Männer. Am häufigsten sind sie zwischen 35 und 49 Jahre alt, während die meisten Männer zwischen 50 und 64 Jahre alt sind. Es wird dreimal so oft über 65- bis 79-jährige Männer als über gleichaltrige Frauen berichtet. Insgesamt betrug der Anteil von Frauen in der Berichterstattung von Schweizer Medien 2020 23,6 Prozent. Fast alle Journalistinnen sind zwischen 35 und 49 Jahre alt. Jüngere und Ältere sind kaum vertreten, während die Altersspanne bei Männern deutlich breiter ist.
Im Schweizer Film und Fernsehen sieht es ähnlich aus: Während sich die Geschlechterkluft zwischen 2017 und 2019 in den Altersklassen unter 41 auflöste und Frauen sogar häufiger in Hauptrollen gezeigt wurden, dominierten ab dem 41. Lebensjahr wieder deutlich die Männer.
«Jüngere Frauen verkörpern Freiheit», sagt Clélia Rochat im Interview. Doch so frei seien sie eigentlich gar nicht. «Ich bin 25, und auf mir lastet ein enormer Druck, meine Jugend voll auszunutzen, bevor ich links liegengelassen werde.» Ab 30 müssten Frauen Antifaltencrèmes verwenden: «Anti Falten – als sei das eine Krankheit.»
Clélia Rochat fotografiert die Frauen in deren Zuhause. Wie nackt sie sich zeigen, überlässt sie ihnen. Die Arbeit habe ihr gezeigt, dass ältere Frauen wunderschön seien. Vorher habe sie schlicht nicht gewusst, wie ihre Körper aussähen. Sie sagt: «Die sozialen Medien und Werbung sind voller Körper, die entweder jung sind oder das Alter nicht zulassen.»
Die Angst vor dem Alter kostet Zeit und Geld
Aber hat sich nicht doch etwas bewegt? Kürzlich feierte die «Vogue» eine «Invasion der Models um die 40». Gucci, Bottega Veneta, Balenciaga, Dolce & Gabbana: Für alle Labels liefen in den letzten Jahren Models über 40, zum Teil waren sie über 50. 2023 hatte die «Vogue» Linda Evangelista, Christy Turlington, Cindy Crawford und Naomi Campbell auf dem Cover. Alle sind in ihren Fünfzigern und hatten gerade die Doku-Serie «The Super Models» gedreht. Und auf der Titelseite der März-Ausgabe 2024 zeigt das Modemagazin Miuccia Prada. Sie ist 74.
Zwar mag sich die öffentliche Wahrnehmung verändert haben, aber laut einer Studie bleiben das Einzelfälle: Zwischen 2014 und 2020 ist der Altersdurchschnitt von Models auf Laufstegen lediglich um zwei Jahre gestiegen: von 21 auf 23 Jahre.
Und nicht alle freuen sich über die – wenn auch langsame – Ausweitung der Schönheitsideale. Als die 39-jährige Apameh Schönauer Ende Februar zur Miss Germany gekürt wurde, hagelte es in den sozialen Netzwerken Kritik. Vor allem Männer zeigten sich empört über das Alter der Gewinnerin und produzierten einen Shitstorm. Sie verglichen Apameh mit einer Kuh und bezeichneten die Wahl als woke Idiotie.
Akzeptanz für die Spuren des Älterwerdens scheint es erst im wirklich hohen Alter zu geben. Im letzten Herbst fotografierte Juergen Teller die 88-jährige Maggie Smith, bekannt als Professor McGonagall in den «Harry Potter»-Filmen, für die Frühlingskampagne des spanischen Luxuslabels Loewe.
Nichts wirkt retuschiert. Ein Lächeln liegt auf ihrem vom Alter gezeichneten Gesicht. Mit offenem Blick schaut die schmale, in einen braunen Pelzmantel gehüllte Frau in die Kamera, in ihren sehnigen Händen hält sie eine Handtasche. Die Modewelt jubelte. Auch als 2015 die Journalistin und Autorin Joan Didion mit 81 Jahren das Gesicht der Modemarke Céline wurde, wurde applaudiert.
Susan Sontag würde vermutlich erwidern, dass Frauen mit einem gewissen Status sowieso machen könnten, was sie wollten. «George Eliot, Colette, Édith Piaf, sie alle gehören zu der Kategorie Künstler und Unterhalter, die einen speziellen Freibrief von der Gesellschaft haben, sich skandalös zu verhalten», schrieb sie über die Frauen, die im fortgeschrittenen Alter Liebesbeziehungen und Ehen zu deutlich jüngeren Männern eingingen. Alles Ausnahmen?
In ihrem Essay thematisiert Sontag einen grundlegenden Aspekt des Alterns: die soziale Klasse. Die Angst vor dem Alter sei in der Mittelklasse und unter Reichen viel akuter als in der Arbeiterschicht. Ökonomisch benachteiligte Frauen blickten ihrem Alter fatalistischer entgegen, den kosmetischen Kampf gegen die Alterserscheinungen könnten sie sich sowieso nicht leisten. Eine Erkenntnis, die gerade im Zeitalter der Schönheitsoperationen gilt: Der Kampf gegen die Begleiterscheinungen des Alters braucht Zeit und Geld.
Zart, bartlos, Perlenkette
Dass auch Männer das Altern quält, gibt Sontag zu. Aber Männer litten aus anderen Gründen. Bei Männern mache sich die Alterskrise bemerkbar, wenn sie in Sachen Job und Geld nicht erfolgreich seien. «Ihre Alterskrise hängt mit dem schrecklichen Druck, ‹erfolgreich› zu sein, zusammen», schreibt Sontag.
Die erste Ausgabe der «Men’s Vogue» zeigte George Clooney im Business-Look. Sein Haar ist grau meliert, in der rechten Hand hält er ein Telefon, sein linker Arm ruht lässig auf der Stuhllehne. Unter dem Hemdsärmel deutlich sichtbar: die Uhr. Das war 2005, Clooney war damals 44. In den Folgejahren zeigte das Magazin Barack Obama (2006, damals 45), Tony Blair (2007, damals 54) und Will Smith (2008, damals 40) auf dem Cover. Alle in Anzug und Krawatte. Alle erfolgreich jenseits der Modeindustrie. Roger Federer war 2007 mit seinen 26 Jahren eher eine Ausnahme.
Aber auch das Schönheitsideal des Mannes hat sich geändert. Im Oktober 2022 zeigte die «British Vogue» den amerikanisch-französischen Schauspieler Timothée Chalamet: 26, zart, bartlos und mit Perlenkette. 2019 schaute Nikolai zu Dänemark von der «Vogue Ukraine». Auch er: 20, feine Gesichtszüge, makelloser Teint. Während Frauen versuchen, das Schönheitsideal der jugendlichen Makellosigkeit zu überwinden, scheint das Männerbild androgyner, weicher, aber eben auch jugendlicher zu werden.
Das letzte Tabu
Der alternde Frauenkörper wird spätestens zum Thema, wenn Frauen sich in viel jüngere Männer verlieben. Über den alternden Körper von Männern, deren Freundinnen ihre Töchter sein könnten, sorgt sich hingegen niemand. Es handle sich bei Liebesbeziehungen zwischen älteren Frauen und jungen Männern um eines der letzten Tabus, sagte die französische Schauspielerin Fanny Ardant vor kurzem in einem Interview. In dem Film «Les jeunes Amants» spielt sie die 70-jährige Shauna, die eine Liebesbeziehung mit dem 45-jährigen Pierre eingeht. In einem Land, in dem der Präsident mit einer 24 Jahre älteren Frau zusammenlebt, müsste das eigentlich kein Aufsehen mehr erregen. Laut Ardant verhindert der sexualisierte Blick auf Körper, Schönheit und Liebe aber die Enttabuisierung. Sie sagt: «Man denkt bei Liebe nur an Sex und bei Sex nur an den Körper. Keiner spricht mehr von der Seele wie in Goethes ‹Wahlverwandtschaften›.»
Die Fotografin Clélia Rochat ist 1997 in Genf geboren und wuchs in Frankreich und Deutschland auf. Sie studierte Psychologie in Lyon und Dokumentarfotografie in Brüssel. Für ihre Serie «Belles Mômes» porträtierte Clélia Rochat Frauen über 50.
Die nackten Frauen auf den Bildern von Clélia Rochat strahlen eine Bereitschaft aus, sich zu zeigen, wie sie sind. Sich verletzlich zu machen und sich den Blicken anderer auszusetzen. Sie halten aus, dass sich die Unangreifbarkeit der Jugend verflüchtigt. Beim Betrachten der Fotografien mag man sich fragen, ob sich auch ältere Männer so zeigen würden. Noch immer wird Nacktheit eher mit Weiblichkeit assoziiert. Und noch immer fällt es schwer, Nacktheit jenseits von Jugend zu erlauben.
Susan Sontag schrieb für ein natürliches Altern ohne Scham. Und gegen die Demütigung alternder Frauen. Am Ende ihres Essays entwirft sie ein anderes, freieres Altern: «Frauen können danach streben, weise zu sein statt nur nett; kompetent statt nur hilfsbereit; stark statt nur anmutig; ehrgeizig für sich selbst, statt in Bezug auf Männer oder Kinder.» Und: «Frauen sollten ihren Gesichtern erlauben, das Leben zu zeigen, das sie gelebt haben.» Die Fotos von Clélia Rochat scheinen hinzufügen zu wollen: Nicht nur dem Gesicht, auch dem weiblichen Körper sollte erlaubt sein, das Leben zu zeigen, das er gelebt hat.