Die Schweiz als Insel der Glückseligkeit? Das Bild stimmt zumindest mit Blick auf die geringe Teuerung. Dafür gibt es acht Gründe. Sie sind ein Spiegel der Stärken – aber auch Schwächen – des Landes.
Zu den grössten Comebacks der noch jungen 2020er Jahre gehört die Inflation. Nachdem die Sorge über steigende Preise jahrzehntelang in den Hintergrund gerückt war, schoss die Teuerung unversehens wieder in die Höhe. Die Rückkehr des ungebetenen Gastes fiel dabei je nach Währungsraum sehr unterschiedlich aus. Während die Inflation in den USA bis auf 9,1 Prozent kletterte, stieg sie im Euro-Raum sogar auf 10,6 Prozent. In der Schweiz war das Maximum jedoch schon bei niedrigen 3,5 Prozent erreicht.
Die Schweiz ist ihrem Ruf als Insel der Geldwertstabilität damit einmal mehr gerecht geworden. Zwar hat sich die Teuerung in den vergangenen Monaten in fast allen Industrieländern rascher als erwartet wieder zurückgebildet. In der Schweiz, wo die Inflation momentan noch 1,3 Prozent beträgt, liegt die Teuerung aber schon seit Juni 2023 unter 2 Prozent und somit im Zielbereich der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Im Euro-Raum (2,8 Prozent) und in den USA (3,1 Prozent) verharrt sie demgegenüber noch deutlich über dem 2-Prozent-Ziel.
Was sind die Gründe für die hierzulande seit Jahrzehnten niedrigere Inflation? Und warum hat man sich schon derart an dieses Phänomen gewöhnt, dass es fast als Naturgesetz betrachtet wird? Eine einzige Ursache gibt es nicht. Vielmehr verdankt sich das positive Herausstechen einem Bündel von Eigenheiten. Im Folgenden die acht wichtigsten davon:
1. Starker Franken
Der Franken ist eine starke Währung. Er hat in den letzten Jahrzehnten gegenüber allen grossen Devisen an Wert gewonnen. Das verdankt sich nicht zuletzt der Reputation der Schweiz als «sicherer Hafen». Das Land wird vor allem in unruhigen Zeiten als Zufluchtsort mit hoher politischer und wirtschaftlicher Stabilität sowie mit verlässlichen Institutionen geschätzt. Entsprechend zieht der Franken in solchen Phasen – Beispiele sind die Euro-Schuldenkrise und die Covid-Pandemie – viel Kapital an. Das lässt den Franken erstarken.
Die Stärke des Frankens wirkt wie ein Schutzwall gegen die Teuerung. Sie dämpft die Inflation der aus dem Ausland importierten Güter und sorgt dafür, dass ausländische Produkte günstiger eingekauft werden können. Als ab 2021 der Inflationsdruck grösser wurde, liess die SNB daher den Franken bewusst aufwerten. Sie wehrte sich also nicht länger, wie noch in den Jahren zuvor, mit Devisenkäufen gegen eine Erstarkung. Damit nicht genug: Zwischen Frühjahr 2022 und Herbst 2023 verkaufte die SNB gar Devisen im Wert von 140 Milliarden Franken.
Die Interventionen zeigten Wirkung. So hat der nominal erstarkte Franken in den vergangenen Monaten einen gewichtigen Teil des ausländischen Preisdrucks absorbiert. War die Teuerung noch zu Beginn dieser Inflationswelle primär ein Problem von teurer gewordenen Importen, so ist seit April 2023 das Gegenteil der Fall: Die Inflation ist nun vor allem auf teurere Inlandgüter zurückzuführen. Die Preise der Importgüter sind demgegenüber in sechs der vergangenen acht Monate gesunken, was zum Rückgang der Inflation beigetragen hat.
2. Solide Notenbank
Ein grosser Teil des Erfolgs bei der Inflationskontrolle ist der SNB zuzuschreiben. Die Währungsbehörde geniesst hohe Glaubwürdigkeit. Sie definiert Preisstabilität strenger als die Notenbanken der USA oder der Euro-Zone. Während Letztere schon mit einer Teuerung von 2 Prozent zufrieden sind, peilt die SNB einen Wert zwischen 0 und 2 Prozent an. Und anders als beim amerikanischen Fed, zu dessen Doppelmandat sowohl stabile Preise als auch eine maximale Beschäftigung gehören, steht bei der SNB unzweideutig das Ziel der Preisstabilität im Fokus.
In der Schweiz hat daher die Inflationskontrolle allein schon aufgrund des engeren Mandats der SNB einen höheren Stellenwert als andernorts. Diese Stabilitätskultur, die vor Lancierung des Euro einst auch die Deutsche Bundesbank verkörpert hatte, kann erklären, warum die SNB den Leitzins im Juni 2022 noch vor der EZB erhöhte. Und dies, obwohl damals die Inflation in der Schweiz mit 3,4 Prozent viel niedriger lag als im Euro-Raum, wo eine Geldentwertung von 8,6 Prozent grassierte, ohne dass die EZB aktiv wurde.
3. Massvolle Finanzpolitik
Essenziell für eine niedrige Inflation ist nicht nur die Geldpolitik. Oft geht vergessen, dass auch das Finanzgebaren der Politik grossen Einfluss hat. Denn je höher die Staatsverschuldung, desto höher sind die von den Staaten zu zahlenden Schuldzinsen und desto grösser der politische Druck auf die Zentralbanken, bei der Geldpolitik nicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auch auf die Staatsfinanzen, etwa indem die Leitzinsen niedrig gehalten werden oder die Notenbank in grossem Umfang staatliche Schuldpapiere aufkauft.
Ökonomen sprechen von «fiskalischer Dominanz». Gemeint ist, dass sich die Zentralbank von der Politik einspannen lässt. In der Schweiz, wo auch in der Finanzpolitik eine gewisse Stabilitätskultur herrscht, ist die Gefahr einer solchen Dominanz kleiner als anderswo. Erstens gibt es einen breiten Konsens zur Notwendigkeit einer politisch unabhängigen SNB. Zweitens sorgt die Schuldenbremse dafür, dass die öffentliche Verschuldung mit 39 Prozent der Wirtschaftskraft deutlich niedriger ist als etwa in Italien (144 Prozent), Frankreich (112 Prozent) oder Deutschland (67 Prozent). Das stärkt das Vertrauen in den Franken.
4. Hoher Wettbewerbsdruck
Es heisst oft, das beste Heilmittel gegen hohe Preise seien hohe Preise. Dies deshalb, weil Konsumenten bei hohen Preisen auf günstigere Alternativen wechseln. Zudem locken hohe Preise neue Anbieter an, womit das Angebot steigt, was ebenfalls auf die Preise drückt. All dies funktioniert aber nur, wenn Wettbewerb herrscht. Harte Konkurrenz ist daher eine der wirksamsten Massnahmen gegen Inflation. Sie zwingt Firmen zur Senkung der Kosten und zur Steigerung der Effizienz.
Diese Voraussetzung ist in der Schweiz mehrheitlich gegeben. Die Schweiz ist umgeben von Ländern mit einem deutlich niedrigeren Preisniveau, und in Grenznähe sorgt der Einkaufstourismus für hohen Kostendruck bei Schweizer Anbietern. Der über die Jahrzehnte hinweg stetig erstarkte Franken zwingt zudem die Exportwirtschaft dazu, innovativ und produktiv zu bleiben und in neue Technologien zu investieren. Diese hohe Wettbewerbsintensität trägt massgeblich dazu bei, die Inflation niedrig zu halten.
5. Ausgewogener Energiemix
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine zogen 2022 die Energiepreise steil an. Doch weil die Schweiz weniger stark abhängig ist von globalen Energiemärkten, war sie weniger betroffen von diesem Preisschock. So ist Gas, das sich im Zuge des Kriegs besonders verteuert hat, in der Schweiz nur für 13 Prozent des Energieverbrauchs (halb so viel wie in Deutschland) verantwortlich. Die Schweiz betreibt keine Gaskraftwerke und deckt den Grossteil ihres Strombedarfs auf nichtfossile Weise ab, und zwar mit Wasserkraft (62 Prozent) und Atomkraft (29 Prozent).
Inflationsdämpfend wirken aber nicht nur der günstige Strommix und die kleinere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Europaweit weist die Schweiz auch die niedrigste Energieintensität auf; pro Einheit Wertschöpfung verbraucht kein anderes Land weniger Energie. Im verarbeitenden Gewerbe beträgt die Intensität weniger als ein Drittel des französischen und weniger als die Hälfte des deutschen Niveaus. Das hat zum einen strukturelle Gründe; so gibt es in der Schweiz immer weniger energieintensive Industrien. Zum andern wird aber auch innerhalb der Branchen energieeffizienter produziert.
6. Träge staatliche Preise
In breiten Teilen der Schweizer Wirtschaft herrscht Wettbewerb. Jedoch ist ein Viertel aller Konsumentenpreise – ein im europäischen Vergleich sehr hoher Wert – vom Staat administriert, also dem Markt entzogen. Beispiele sind die Strompreise für Privathaushalte oder diverse Preise im Gesundheitswesen. Wohlgemerkt, der hohe Anteil administrierter Preise taugt nicht als Grund für niedrige Inflation, da der Staat die Inflation ja nicht per Dekret verbieten kann. Das hohe Gewicht vermag aber zu erklären, warum einige Preise in der Schweiz weniger stark ausschlagen.
Hierzu das Beispiel der Strompreise: Diese werden für Privathaushalte nur einmal pro Jahr angepasst. Kurzfristige Ausschläge der Kosten, etwa aufgrund eines Krieges, schlagen daher nicht unmittelbar auf die Stromrechnung der Haushalte durch, sondern erst mit Verzögerung. Weil administrierte Preise in aller Regel ziemlich starr sind, glätten sie die Preisentwicklung und verlängern den gegenwärtigen Trend. Das gilt aber in beide Richtungen: Wenn also der Preisdruck nachlässt, dauert es länger, bis die niedrigeren Preise beim Konsumenten ankommen.
7. Zollschutz der Landwirtschaft
Zu jenen Gütern, deren Preise in den vergangenen Jahren weltweit besonders stark gestiegen sind, gehören nicht nur Energieträger, sondern auch Lebensmittel, zum Beispiel aufgrund der schwieriger gewordenen Ausfuhr von ukrainischem Weizen. Auch in der Schweiz sind die Ausgaben fürs Essen teurer geworden, aber in einem vergleichsweise geringen Mass. Das hat damit zu tun, dass Lebensmittel hierzulande ohnehin schon sehr teuer sind, was wiederum auf die hohen Zollmauern rund um die einheimische Landwirtschaft zurückzuführen ist.
Aufgrund ihrer protektionistischen Agrarpolitik importiert die Schweiz nur wenig Essen. Die dennoch eingeführten Lebensmittel werden durch Zölle oft ans heimische Preisniveau angepasst. Die Preisfluktuationen an den globalen Lebensmittelmärkten spiegeln sich daher kaum in den Verkaufspreisen. Steigt der Weltmarktpreis, sinkt der variable Teil des Schweizer Zolls; sinkt der Weltmarktpreis, steigt der Zoll. Für den Konsumenten ändert sich wenig; er muss stets tief in die Tasche greifen – ungeachtet einer niedrigen Inflation bei Lebensmitteln.
8. Generelle Lohnzurückhaltung
Zu den grössten Herausforderungen bei der Inflationskontrolle gehören Zweitrundeneffekte. Das sind Preissteigerungen als direkte Reaktion auf vorangegangene Kostensteigerungen. Das bekannteste Beispiel ist die Lohn-Preis-Spirale, bei der Firmen aufgrund höherer Lohnkosten ihre Preise erhöhen, worauf die Angestellten aufgrund gestiegener Preise erneut höhere Löhne einfordern – und so weiter. Ist diese Dynamik erst einmal in Gang gesetzt, lässt sie sich kaum noch stoppen. Die Inflation verfestigt sich dann immer mehr im wirtschaftlichen Leben.
Anders als in den USA oder im Euro-Raum konnten in der Schweiz jüngst keine Anzeichen für eine solche Spirale beobachtet werden. Dafür gibt es viele Gründe, etwa eine generelle Lohnzurückhaltung, eine meist dezentral in einzelnen Betrieben stattfindende Lohnfestsetzung, eine Konsenskultur zwischen Sozialpartnern und ein steter Lohndruck aufgrund hoher Zuwanderung. Entsprechend sind die Löhne in den vergangenen drei Jahren real stets gesunken. Das ist zwar schlecht für die Arbeitnehmer, erleichtert aber die Rückkehr zu Preisstabilität.