Mit dem Teamchef Günther Steiner verlieren Netflix und der Automobilrennsport eine wichtige Figur. Ein letzter grosser Auftritt bleibt.
Wortlos die Bühne verlassen zu müssen, das war vielleicht die grösste Demütigung, die der Rennstallbesitzer Gene Haas seinem Formel-1-Teamchef Günther Steiner antun konnte. Der amerikanische Industrielle hatte Steiners Vertrag einfach auslaufen lassen. Ein knapper Satz des Dankes, als in der vergangenen Woche der Nachfolger präsentiert wurde, mehr war da nicht nach zehn Jahren Aufbauarbeit.
An sich ist das im Sport kein ungewöhnliches Schicksal, auch Tabellenletzte im Fussball sind schnell damit, einen erfolglosen Trainer zu wechseln. Sie hoffen auf neue Impulse und können sich bei Entlassungen meist der Mehrheit der Publikumsmeinung sicher sein. Beim Schlusslicht der Königsklasse verhält es sich anders. Steiner war nicht bloss leitender Angestellter im Team, Steiner war Haas. Für viele war er sogar das markanteste Gesicht der Formel 1 überhaupt.
No one focking told me!!! https://t.co/ChzfHJD3nm
— Guenther Steiner ➐ (@HaasF1TeamBoss) January 10, 2024
Ein grosser Auftritt ist dem 58-Jährigen noch sicher, eine Woche vor dem Start in die neue Saison in Bahrain. Am 23. Februar feiert die sechste Staffel der Netflix-Serie «Drive to Survive» Premiere. Die Dokuserie mit ihrem perfektionierten Storytelling hat entscheidenden Anteil am Aufschwung der Formel 1, gerade in den USA.
Zu Beginn der Dreharbeiten fremdelten die grossen Rennställe mit dem Filmteam hinter den Kulissen. Aus der Not machten die Hollywood-Regisseure eine Tugend, sie suchten Alternativdarsteller bei den kleinen Teams – und fanden Steiner.
Er war der erste Streaming-Superstar der Formel 1
Jemanden, der aus freien Stücken neunmal in einer halben Minute das amerikanische Schimpfwort für «verdammt» in die Mikrofone sagen konnte, der seine Rennfahrer als «Idioten» bezeichnete, wenn ihm der Kamm schwoll, und das alles in einem ihm eigenen Idiom, dem Dialekt-Mix aus seiner alten Heimat Südtirol und seiner neuen in North Carolina.
Das berüchtigte F-Wort, das bei Live-Übertragungen von den Tugendwächtern sofort weggepiept wird, sprudelte nur so aus ihm heraus. In seiner Biografie kommt es unzählige Male in der abgemilderten Version «foking» vor. Tatsächlich spricht Steiner das Wort so aus.
Genau diese emotionale Art hat ihn zum Streaming-Superstar gemacht, T-Shirt-Kollektionen mit aufgedruckten Sprüchen inklusive. In der ach so korrekten Formel-1-Welt, mehr und mehr von Konzernen regiert, muss er den ursprünglichen Fans wie ein Erlöser erschienen sein. Tatsächlich verkörperte Steiner die so inflationär gebrauchte Vokabel «authentisch» auf eine ganz eigene, mitunter rüde Weise. Plötzlich schien in die perfekt vermarktete Rennserie so etwas wie der alte Zauber des Grand-Prix-Sports zurückgekehrt.
Immer schon hatten die Fans Rebellen geliebt, waren Outlaws die wahren Helden. Der Ingenieur Steiner, Sohn eines Metzgers und in der rauen Rally-Szene gross geworden, musste sich nicht verstellen. Er gab den Macho aus Überzeugung. Etwa, wenn er das Angebot ablehnte, sich von einem Regenschirm beschützen zu lassen: «Das ist schlecht für mein Ego.»
Gelegentlich wussten Gesprächspartner allerdings nicht mehr, wen sie da vor sich hatten: einen Teamchef, der Schauspieler war, oder einen Schauspieler, der einen Teamchef mimte. Solche Scharaden sind im intrigenreichen Top-Motorsport nicht selten, aber selten ist es, dass sie so öffentlich ausgetragen werden.
So wurde die unwürdig betriebene Entlassung des Talents Mick Schumacher zum Medienspektakel. Steiner, der stets jegliche schauspielerischen Ambitionen bestritten hat, konnte einen bei diesen Vorwürfen mit Unschuldsmiene ansehen. Er behauptet gar bis heute, nie eine Folge der Netflix-Serie gesehen zu haben.
Ein Opfer seiner Sprüche ist er nicht geworden. Es fehlte schlicht der Erfolg. Steiner erfand das Leasing-Prinzip, dieses funktionierte aber nur zu Beginn. Fast alle Teile wurden von Ferrari gekauft, mit Mindestaufwand und Minimaltruppe wirtschaftete Haas kostengünstig. Schliesslich aber fehlten reichlich Geld und Know-how zur Weiterentwicklung. Erst wurde das Auto zum Auslaufmodell, dann der Teamchef.
Für viele Puristen, die in der Formel 1 nur echte Konstrukteure sehen wollen, ist das eine Genugtuung. Für die Fans, die von Steiner akquirierten Sponsoren und Netflix aber ein Schock.
Die Formel 1 war ein ständiger Überlebenskampf
Sich selber hat der Poltergeist der Boxengasse über die Härte des Geschäfts nie etwas vorgemacht. «Ich weiss, dass ich bekannt für meine Sprüche und meine gute Laune bin. Aber das ist nicht der Grund, warum ich in der Formel 1 bin. Ich bin hier für den Wettbewerb, und zwar den auf höchstem Niveau», sagt er in seinen Memoiren. Diese heissen in Anspielung auf den Netflix-Titel «Surviving to Drive». Und ein Überlebenskampf, um überhaupt mitfahren zu können, das war es für ihn und Haas tatsächlich immer.
Sein Nachfolger, der 47-jährige Japaner Ayao Komatsu, ist ein bescheidener Mann, aber eins hat er gleich klargestellt: «Ich bin nicht Günther Steiner, ich versuche auch gar nicht erst, ein zweiter Steiner zu werden.» Haas wird nach aussen in jedem Fall blasser werden. Mit Günther Steiner verliert das Schlusslicht aber nicht nur seine Stimme, sondern auch ein Stück seines Herzens.
Ayao Komatsu comments on his appointment as Team Principal of MoneyGram Haas F1 Team.#HaasF1 pic.twitter.com/n7mRVI86GF
— MoneyGram Haas F1 Team (@HaasF1Team) January 10, 2024