Anfang 1933 verbreitete sich unter Nationalsozialisten die Sorge, der Umsturz könnte auf halber Strecke scheitern. Dann wurde ein mörderischer Plan umgesetzt – und zum «Zentralereignis» der Frühgeschichte Nazi-Deutschlands.
Rechte Kritik an Hitler gab es vor und nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Vor 1933 waren es Protagonisten wie die Schriftsteller Ernst Jünger und Ernst Niekisch, denen die Nazis nicht radikal genug waren. Anders als die NSDAP-Parteilinie, die nach dem gescheiterten Hitler-Putsch 1923 darauf abzielte, die Macht legal zu erlangen, forderten sie das handstreichartige Hinwegfegen des verhassten Weimarer Staates.
Nach Januar 1933 verbreitete sich die Sorge, der Umsturz könne auf halber Strecke steckenblieben. Vor allem die SA unter Führung des langjährigen Hitler-Kompagnons Ernst Röhm sah sich in der Pflicht, das revolutionäre Element der nationalsozialistischen Herrschaft aufrechtzuerhalten. Doch widersprach das dem Ansinnen der neuen Machthaber: Hitler und seine Spiessgesellen wünschten nunmehr Ruhe und Stabilität; den bewaffneten Strassenkampf erachteten sie als beendet, marodierende SA-Rabauken als Störfaktor.
Säuberungen im konservativen Milieu
Mit der Ermordung der wichtigsten SA-Führer sowie den Säuberungen im vor allem konservativen Milieu im zeitlichen Umfeld des 30. Juni 1934 befassen sich zwei neue Überblicksdarstellungen der Historiker und Publizisten Sven Felix Kellerhoff und Peter Longerich. Die beiden Bücher kommen zu ähnlichen Resultaten, die Unterschiede liegen in den Nuancen.
Kellerhoff und Longerich stimmen überein, dass es sich beim «Röhm-Putsch» terminologisch um eine bis heute verbreitete Irreführung der NS-Propaganda handelt. Strukturelle Planungen für einen Aufstand der SA habe es nicht gegeben. Dass Kellerhoffs Buch dennoch den «Röhm-Putsch» im Titel trägt, dürfte jedoch eher zur weiteren Manifestation als zur Aufklärung dieser historischen Fehldeutung beitragen.
Störfaktor SA
Beide Autoren wählen ein chronologisches Vorgehen. Der Euphorie der NS-Machterlangung sowie der strukturellen Etablierung des Regimes anhand von Notverordnungen und Ermächtigungsgesetz folgte im Frühjahr 1934 eine erste Krisenphase. Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen stagnierte, Sanktionen des Auslands machten der Wirtschaft zu schaffen, und neuerliche Inflationsängste verunsicherten die Bevölkerung.
In dieser Gemengelage erwies sich die SA als ein zusätzlicher Unruhefaktor. Mit über vier Millionen Kämpfern übertraf die paramilitärische Truppe den Personalbestand der Reichswehr um den Faktor 40 (Kellerhoff), wobei lediglich 30 Prozent der SA-Mitglieder zugleich auch der NSDAP angehörten (Longerich).
Dazu kam, dass Hitler Röhm 1933 in den Rang eines Ministers ohne Geschäftsbereich befördert hatte. Das Ziel, Röhm und die SA so in den neuen Staat einzubinden, war allerdings nicht aufgegangen; stattdessen hatte Röhm daraus den Schluss gezogen, eine aktivere Mitgestaltung der inneren und äusseren Sicherheit Deutschlands einzufordern.
Laut Longerich sah sich Röhm 1934 im Zenit seiner Macht, auf Augenhöhe mit Göring und Goebbels. Zeitgleich jedoch arbeitete man in der NS-Führung bereits daran, das Betätigungsfeld der SA auf die vormilitärische Ausbildung und sonstige Hilfstätigkeiten zu beschränken. Konflikte waren somit vorprogrammiert, der Versuch der Zusammenführung von Staat und Partei drohte zu scheitern.
Der Widerstand erwacht
Derweil versuchten die konservativen Eliten den Unmut der Bevölkerung gegen die Nazis weiter zu forcieren. Kellerhoff und Longerich nennen exemplarisch die Marburger Rede Franz von Papens am 17. Juni 1934, die in NS-Kreisen nicht zu Unrecht als Indiz für zunehmenden Widerstand verstanden wurde; der Vizekanzler attestierte NS-Deutschland darin nicht nur einen verfehlten politischen Kurs, sondern beschuldigte auch die Nazis in der Regierung der Korruption.
Kellerhoff und Longerich sind sich einig, dass die finale Entscheidung zum gewaltsamen Vorgehen von Hitler persönlich erst wenige Stunden vor dem 30. Juni getroffen wurde. Den Ablauf der Geschehnisse schildern beide detailliert, wobei sich Kellerhoff besonders auf die Massnahmen gegen die SA-Führung konzentriert, während Longerich etwas stärker die konservativen Zirkel um Papen, den früheren Reichskanzler Kurt von Schleicher und Gustav von Kahr ins Auge fasst.
Von Kahr hatte 1923 als Generalstaatskommissar in Bayern massgeblich zum Scheitern des Hitler-Putsches beigetragen, weswegen seine Ermordung am 30. Juni 1934 im Konzentrationslager Dachau als ein Akt später Rache verstanden werden kann. Dass Röhm offen homosexuell war, auch darin stimmen Kellerhoff und Longerich überein, spielte dagegen eine nachgeordnete Rolle und wurde erst in der Rückschau besonders betont – auch, weil es dem Reichspräsidenten Hindenburg ein Dorn im Auge war.
Offene Rechnungen
Insgesamt wurden bei den Terroraktionen 90 Personen getötet, regional lagen die Schwerpunkte neben München und Umgebung vor allem auf Berlin und Schlesien. Ausser der gezielten Tötung von SA-Führern und Systemkritikern kam es in Erwartung absehbarer Straffreiheit auch mehrfach zur Begleichung offener Rechnungen, sei es aus politischen oder persönlichen Motiven. Tragisch endete der 30. Juni für den Musikkritiker der «Münchner Neuesten Nachrichten», Willi Schmid, dessen Hinrichtung im Gefängnis Stadelheim das Resultat einer Verwechslung war.
Kellerhoff und Longerich erkennen im Blutbad der Tage um den 30. Juni 1934 ein «Zentralereignis» der Frühgeschichte des «Dritten Reichs»; einen vernichtenden Rundumschlag, der die Gewaltexzesse der kommenden Jahre eindrücklich vorwegnahm. Im Inland brachten die Massnahmen die Stabilisierung des Systems, wenngleich die (fehlende) rechtliche Grundlage zu diesem Zeitpunkt durchaus noch kritisch hinterfragt wurde.
Eine historische Zäsur
Politisch rechtfertigte sich Hitler am 13. Juli 1934 im Reichstag mit «Staatsnotwehr». Die nachträgliche rechtsphilosophische Legitimation lieferte am 1. August 1934 kein Geringerer als Carl Schmitt in der «Deutschen Juristen-Zeitung» mit dem berüchtigt gewordenen Hinweis, dass «der wahre Führer immer auch Richter» sei.
Ein konstituierendes Wesensmerkmal des Nationalsozialismus war der Terror. Für seine Verbreitung zuständig waren zunächst die paramilitärischen Organisationen, mit dem 30. Juni 1934 wurde er schliesslich zur Staatsräson. Diese historische Zäsur herauszuarbeiten, ist das Verdienst der Bücher von Sven Felix Kellerhoff und Peter Longerich.
Sven Felix Kellerhoff: «Röhm-Putsch!» 1934. Hitlers erste Mordaktion. Herder-Verlag, Freiburg i. Br. 2024. 272 S., Fr. 36.90.
Peter Longerich: Abrechnung. Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934. Molden-Verlag, Graz 2024. 208 S., Fr. 41.90.