Peking und Moskau inszenieren die Geschichte als geopolitisches Werkzeug. Trotz enormem Pathos zeigt ihre Erzählung Risse.
Mitte Juni flatterte eine Einladung aus Peking zu einer wissenschaftlichen Konferenz ins Postfach, die dem 80. Jahrestag des Kriegsendes gewidmet sein sollte. Auffällig war die Begriffsverwendung: Statt vom «Zweiten Weltkrieg» war die Rede vom «Sieg im Chinesischen Volkskrieg des Widerstands gegen die japanische Aggression und im Welt-Antifaschistischen-Krieg». Diese semantische Neuzuordnung trägt die Handschrift Xi Jinpings. Sie soll eurozentrische Sichtweisen korrigieren, Chinas Rolle im Antifaschismus betonen und die globale Kriegserzählung an Pekings gewachsene politische Ambitionen anpassen. China, so las man, sei «das wichtigste östliche Schlachtfeld» gewesen, habe «unvergleichliche Opfer» gebracht und «unvergängliche Beiträge» geleistet – Pathos, gewiss, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Mehr als hundert Experten aus aller Welt waren angesprochen – eingeladen vom Institut für Parteigeschichte beim Zentralkomitee, der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und der Militärakademie der Volksbefreiungsarmee. Den Vortragenden lag ein Katalog mit zwanzig Themenvorschlägen vor, allesamt eng an das offizielle Narrativ geschmiegt: vom heroischen chinesischen Widerstand gegen Japan bis hin zur Bewusstseinsbildung einer globalen Schicksalsgemeinschaft.
Wenn Worte zu Waffen werden
Diese Konferenz war das akademische Begleitfeuer zur Siegesparade auf dem Tiananmen-Platz. Zum dritten Mal in seiner Amtszeit liess Xi Jinping Truppen aufmarschieren – so oft wie seine drei Vorgänger zusammen, übertroffen nur von Mao. Flankiert von Wladimir Putin zur Rechten und Kim Jong Un zur Linken schritt Xi am 3. September im grauen Mao-Anzug die Empore hinauf, auf die Balustrade des Tors des Himmlischen Friedens, um über dem Porträt von Mao Zedong zum Volk zu sprechen wie damals der Staatsgründer: «Heute steht die Menschheit wieder vor der Wahl: Frieden oder Krieg, Dialog oder Konfrontation, Win-win-Situation oder Nullsummenspiel», rief Xi den Massen auf den Strassen zu und liess Chinas ganze militärische Pracht von Hyperschallraketen, Laser- und Interkontinentalraketen dem chinesischen Millionenpublikum im Fernsehen vorführen.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg besass in China keineswegs immer den Stellenwert von heute. Sie folgte wechselnden innenpolitischen Prioritäten und geopolitischen Notwendigkeiten. Unter Mao dominierte der revolutionäre Triumphalismus: die Kommunistische Partei als Retterin der Nation – obwohl nach historischem Konsens die 1949 nach Taiwan geflüchteten Nationalisten den Hauptkampf gegen Japan bestritten hatten. Unter Deng Xiaoping verschob sich der Fokus auf Opferrolle und nationale Demütigung, ein wirksames Mittel zur Festigung der Parteiautorität in Zeiten des ideologischen Wandels.
Und in der Tat, Chinas Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg sind monströs und nur von der Sowjetunion übertroffen. China, teilweise schon seit 1931 unter japanischer Besetzung, zählte etwa 20 Millionen Tote, unter ihnen 4 Millionen Soldaten. Unter Xi Jinping verschmelzen Opfer und Triumph: Der Krieg wird als «Sieg des Volkes» unter Parteiführung inszeniert – als Baustein nationaler Erneuerung.
Die Zielgruppe dieser riesigen Parade war neben dem eigenen Volk auch die nichtwestliche Welt. Kaum zufällig hatte kurz zuvor das Treffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Tianjin stattgefunden, bei dem sich Xi in der Rolle des Führers des globalen Südens inszenierte und markieren wollte, wie die internationale Ordnung nach Chinas Vorstellungen aussieht. Und Geschichtspolitik spielt dabei eine Schlüsselrolle.
In ihrer gemeinsamen Erklärung forderten die Staatschefs der Mitgliedstaaten die «Bewahrung und objektive Darstellung der historischen Wahrheit» und verurteilten jeglichen Versuch, die Bedeutung des Sieges im Zweiten Weltkrieg und die Rolle der Völker der Mitgliedstaaten der Schanghaier Organisation im Kampf gegen Faschismus und Militarismus zu verzerren. Zwischen den Zeilen blieb die Botschaft unüberhörbar: Geschichte soll nicht nur erinnert, sondern kontrolliert werden – als Instrument politischer Legitimation.
Die Konferenz, die parallel zur Militärparade in Peking (ohne Beteiligung des Verfassers) stattfand, ist in genau diesem Kontext zu lesen. Schon im Vorfeld des 80. Jahrestags des Kriegsendes hatten chinesische Akademiker ihren Ruf nach einer Korrektur eines vermeintlichen westlichen historischen Nihilismus verstärkt. Sie plädieren für ein Erinnern, das Chinas zentrale Rolle, aber auch die Leistung anderer nichteuropäischer Länder stärker in den Fokus rückt.
Brüder im Gedächtnistheater
Schon zum «Tag des Sieges» in Russland am 9. Mai 2025 war Xi Jinping nach Moskau gereist, um dort ebenfalls die Waffenschau seines «lieben Freundes» Wladimir abzunehmen. Auch diese Militärparade war akademisch mit einer russisch-chinesischen Konferenz zur «sowjetisch-chinesischen Kampfbrüderschaft» am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen eingerahmt worden.
Schon die Grussworte lasen sich wie ein geopolitisches Tableau vivant: der stellvertretende Aussenminister Russlands, der chinesische Botschafter – und selbstverständlich auch ein Vertreter der «Republik Krim». Neben Diskussionsforen über «Kriegsdiplomatie» und die «sino-sowjetische Allianz im Zweiten Weltkrieg» setzte der dritte Konferenztag jedoch die entscheidenden Akzente mit Vorträgen zum «historischen Gedächtnis» als politischem Instrument.
Iwan Zuenko, einst kritischer Sinologe aus Wladiwostok, nun ganz auf Kreml-Linie eingeschwenkt, pries staatliche Online-Datenbanken wie «Podwig naroda», die offiziell das Erbe des Zweiten Weltkriegs bewahren, tatsächlich aber ein heroisches Narrativ festschreiben und abweichende Deutungen marginalisieren. Sein chinesischer Kollege Ma Qian lobte das Ritual der «Unsterblichen Regimenter» als zeitgemässe russische Innovation – ein Beispiel dafür, wie Erinnerung zur politischen Bühne werde.
Das «Unsterbliche Regiment» begann 2012 in Tomsk als zivilgesellschaftliche Initiative in einer stillen Geste familiärer Erinnerung: Enkel trugen am Rande der Siegesparaden die Porträts ihrer gefallenen Vorfahren. Rasch breitete sich die Bewegung in Russland und in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken aus – und wurde bald vom Staat vereinnahmt. Was einst intime Erinnerung war, dient heute der Rhetorik des Regimes: eine Inszenierung, in der das Persönliche zur Bühne nationalistischer Erzählung gerät.
Ein chinesischer Teilnehmer der Moskauer Tagung meinte, man habe von den russischen Kollegen viel gelernt, vor allem wie man die heroische Erinnerung im digitalen Zeitalter unauflöslich in den Köpfen verankere. Geschichtspolitik, so zeigen beide Konferenzen, funktioniert wie ein Kaleidoskop: Man schüttelt kräftig – und plötzlich ordnen sich die bunten Splitter zur gewünschten Musterung.
Im Zentrum dieser gemeinsamen Erzählstrategie steht die gezielte Neuinterpretation historischer Ereignisse, die den Zweiten Weltkrieg als von China und der Sowjetunion geführten Zweifrontenkrieg definiert. Warum ist das wichtig? Weil diese Umdeutung einem strategischen Zweck dient: die Legitimität der bestehenden internationalen Ordnung infrage zu stellen und eine Alternative zu entwerfen, die auf Souveränität, scheinbarem Antiimperialismus und Multipolarität gründet. Indem Peking und Moskau ihre Kriegsopfer betonen und den gemeinsamen Sieg hervorheben, schaffen sie zugleich eine moralische Grundlage für eine neue Weltvision – eine Vision, die in Teilen des globalen Südens durchaus Resonanz findet.
Doch des Krieges erinnert man sich in China und Russland selektiv. Moskau verschweigt gern, dass die Sowjetunion zunächst selbst als Aggressor in der Koalition mit Hitler agierte und dass Weissrussland und die Ukraine nach dem deutschen Angriff proportional die schwersten Verluste trugen. Peking wiederum vernebelt mit der Zahl der Kriegsopfer oft die Tatsache, dass Millionen Menschen in hausgemachten Katastrophen wie dem «Grossen Sprung nach vorn» ums Leben kamen. Beide Seiten verschweigen, dass die Sowjetunion das Kriegsende nutzte, um den imperialen Einfluss in Teilen Chinas aus Zarenzeiten wiederzubeleben. Und ganz unterschlagen wird der entscheidende Beitrag, den die Amerikaner selber in vier Jahren Kampf – mit militärischer Unterstützung der Chinesen – zum Sieg über das japanische Kaiserreich leisteten.
Geschichte als Schmieröl
Das neue gemeinsame chinesisch-russische Erinnern ist also trügerisch. China inszeniert sich global als antifaschistischer Protagonist und Mitbegründer der Nachkriegsordnung. Der Beitrag der Sowjetunion zum chinesischen Widerstand gegen Japan ist unbestreitbar – ein Triumph, den unzählige sorgsam gepflegte Denkmäler in Nordostchina bis heute bezeugen. Und dennoch betont China in seinen Schulbüchern, Museen und Historienfilmen: Schon vor dem sowjetischen Schlag habe es Japan entscheidend zermürbt. Der Sieg sei vor allem chinesisch – ein Anspruch, der sich in Pekings Selbstverständnis als gleichrangiger Sieger des Zweiten Weltkriegs spiegelt.
In dieser Lesart erscheint Moskau nicht als Rivale, sondern als natürlicher Mitstreiter gegen eine westlich geprägte Geschichtsschreibung, die den chinesischen Beitrag allzu oft kleinredet. Russland wiederum konzentriert sich auf den Sieg der Roten Armee in Europa. Chinas Beitrag auf dem asiatisch-pazifischen Kriegsschauplatz bleibt in der russischen Öffentlichkeit nahezu unsichtbar. Heraus kommt eine Erzählung, die weniger durch tiefe Auseinandersetzung als vielmehr durch beharrliche Auslassungen zusammengehalten wird.
Sören Urbansky ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Gemeinsam mit Martin Wagner hat er das Buch «China und Russland. Kurze Geschichte einer langen Beziehung» geschrieben, das 2025 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.