Der frühere Chef des Bundesamts für Verkehr rechnet mit dem Verwaltungsrat der SBB ab. Diese prüfen, ob sie die «Schüttelzüge» umbauen wollen.
Der FV-Dosto ist die grösste Beschaffung in der Geschichte der SBB. Deren Führung geizte nicht mit Superlativen: Der Fernverkehrs-Doppelstockzug sollte gleichzeitig bis zu 1300 Sitzplätze bieten, schneller durch die Kurven fahren – und damit teure Ausbauten der Infrastruktur erübrigen – sowie bis nach Deutschland verkehren. Doch die SBB sind von der Realität eingeholt worden. Der FV-Dosto ist zur wohl grössten Fehlbeschaffung in ihrer Geschichte geworden.
Auf die schnelleren Kurvenfahrten verzichten die SBB, weil die Wankkompensation nicht richtig funktioniert. Das erfordert auf der West-Ost-Achse hohe Investitionen, um dennoch kürzere Fahrzeiten zu erreichen. Die Triebzüge gelten zwar als zuverlässig, wie man es von neuem Rollmaterial erwarten darf. Doch bei den Passagieren und beim Personal sind die «Schüttelzüge» wenig beliebt. Je nach Triebzug und dem Zustand der Infrastruktur sind die Laufeigenschaften ungenügend. Fahrten nach Deutschland sind keine geplant, obwohl die Züge eigens dafür angepasst wurden.
Das Positive des FV-Dosto wie die hohe Kapazität, die Niederflureinstiege und das grosse Beschleunigungsvermögen geht in den negativen Schlagzeilen unter.
Verwaltungsrat hat versagt
Das Drama um die Züge scheint kein Ende zu nehmen. Peter Füglistaler, bis vor wenigen Monaten der Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), verwies unlängst in seinem Blog auf die Rolle des SBB-Verwaltungsrats. Er trage bei der Beschaffung von Rollmaterial für den Fernverkehr abschliessend die Verantwortung. Er treffe die Entscheide, spreche die Kredite und müsse sicherstellen, dass die Züge auf die Infrastruktur abgestimmt seien. Er müsse die Beschaffung überwachen und ein Risikomanagement führen.
«Gerade in diesem Bereich passierte der grosse Flop», schreibt Füglistaler. Es sei Rollmaterial beschafft worden, das weder technisch reif sei, noch auf die bestehende Bahninfrastruktur passe. Die Bahnhöfe auf der West-Ost-Achse hätten für Milliarden angepasst werden müssen, damit die 400 Meter langen Züge verkehren könnten. Bereits bei der Beschaffung von neuen Triebzügen für die Nord-Süd-Achse habe der SBB-Verwaltungsrat keine gute Figur gemacht.
Der frühere Chefbeamte bezog sich auf einen Artikel der «Sonntags-Zeitung». Diese hatte berichtet, ein von den SBB eingesetzter Experte habe schon im Jahr 2014 auf Schwierigkeiten hingewiesen und zum Ausstieg geraten. Die SBB-Spitze habe den internen Bericht aber dem Verwaltungsrat vorenthalten.
Füglistaler hat dafür kein Verständnis. Dass ein Dokument auftauche, das belegen solle, dass der Verwaltungsrat am Debakel keine Verantwortung trage, habe einen schalen Nachgeschmack. Ein kompetentes Gremium müsse sich zu einem derart wichtigen Geschäft selber eine Meinung bilden und der Geschäftsleitung kritische Fragen stellen können. Füglistaler empfiehlt, den SBB-Verwaltungsrat zu verkleinern und die Entschädigung aufgrund der bescheidenen Verantwortung zu reduzieren.
SBB und Kunden spüren Folgen bis heute
Die SBB betonen in einer Stellungnahme, sie hätten bei der Beschaffung von Anfang an die Chancen und Risiken abgewogen. In Abwägung der Vor- und Nachteile hätten sie jeweils beschlossen, das Geschäft weiterzuverfolgen. Doch auch die Bundesbahnen räumen ein, dass es bei den Zügen nach wie vor zu Schwankungen komme. Deshalb arbeiten sie mit dem Hersteller Alstom an einem optimierten Drehgestell – ohne die nicht benötigte Wankkompensation, wie Radio SRF zuerst berichtete.
Falls sich der Prototyp bewährt, wollen die Bundesbahnen die Drehgestelle der 62 Triebzüge umbauen, damit diese weniger schwanken. Die Kosten würden zulasten der SBB gehen. Diese dementieren zwar Medienberichte, die von bis zu 250 Millionen Franken sprachen. Doch die Kosten werden hoch sein, wenn die SBB bei 62 Triebzügen bei jedem Wagen die Drehgestelle umbauen müssen. Neben Verbesserungen für die Kunden brächte der Umbau längerfristig aber auch Einsparungen beim Unterhalt. Die 62 FV-Dosto sind noch für längere Zeit das Rückgrat des Fernverkehrs der SBB.
Die Folgen der missglückten Beschaffung von 2010 beschäftigen die Bundesbahnen bis heute. Personelle Konsequenzen hatte diese nie, weder für den Verwaltungsrat noch für die Konzernleitung. Der frühere Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi, der Konzernchef Andreas Meyer und die Personenverkehrschefin Jeannine Pilloud haben die SBB schon vor längerer Zeit verlassen. Der SBB-Direktor Vincent Ducrot ist erst seit dem Jahr 2020 auf seinem Posten, war als früherer Chef des Fernverkehrs aber für die Beschaffung mitverantwortlich.