Der Absturz eines aserbaidschanischen Flugzeugs könnte im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stehen. Die Spekulationen über die Ursache setzen Moskau einem schwerwiegenden Verdacht aus.
Ein Flugzeugabsturz in Kasachstan, in den drei postsowjetische Staaten verwickelt sind, birgt politischen Sprengstoff. Am Mittwoch ist ein Flugzeug vom Typus Embraer 190 der Azerbaijan Airlines beim Versuch, auf dem Flughafen der am Kaspischen Meer gelegenen kasachischen Stadt Aktau notzulanden, mehrere Kilometer vor der Landebahn zerschellt.
Das Unglück könnte im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine stehen. Militärexperten, Journalisten und Luftfahrtspezialisten halten es für plausibel, dass das in Aserbaidschans Hauptstadt Baku gestartete Flugzeug beim Landeanflug auf die ursprüngliche Destination Grosny von russischen Flugabwehrgeschossen getroffen wurde. Grosny ist die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Als das Flugzeug in Grosny nicht landen durfte, mussten die Piloten nach Aktau ausweichen; sie flogen das offenbar immer schwerer zu steuernde Flugzeug noch eine Stunde über das Kaspische Meer.
Fremdeinwirkung bei Grosny
Beim Landemanöver in der Steppe berührte einer der Flügel den Boden, worauf der Kerosintank explodierte, die Maschine sich überschlug und der Flugzeugrumpf auseinanderbrach. Der vordere Teil wurde durch die Flammen vollständig zerstört, das Heck blieb davon verschont. Von den 62 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern überlebten 29 Personen. Diese befanden sich zum Zeitpunkt des Aufpralls im hinteren Teil des Flugzeugs. Die Toten und Verletzten stammen aus Russland, Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgistan. Ein überlebendes Mädchen ist möglicherweise deutsche Staatsbürgerin.
Der Flug J2 8243 war am frühen Mittwochmorgen in Baku gestartet und sollte rund zwei Stunden später in Grosny eintreffen. Die Landung wurde den Piloten jedoch unter Verweis auf starken Nebel verweigert. Gleichzeitig wurde der Versuch des Landeanflugs offenbar gestört. Aus dem in russischen und kasachischen Medien veröffentlichten Funkverkehr mit dem Tower in Grosny geht hervor, dass die Piloten das GPS-Signal verloren und sich nicht mehr orientieren konnten. Zudem meldeten sie den starken Aufprall eines Gegenstands auf den hinteren Teil des Flugzeugs. Sie interpretierten ihn zunächst als Vogelschlag.
In der Folge fiel der Luftdruck in der Kabine ab, und die Steuerung des Flugzeugs wurde immer stärker beeinträchtigt. Versuche, in die nächstgelegenen Flughäfen von Mineralnije Wody oder Machatschkala auszuweichen, wurden offenbar nicht erlaubt. Daraufhin steuerten die Piloten den weiter entfernten Flughafen Aktau an. Daten von Flightradar 24 zeigen, dass der Flug zeitweise von den Radaren verschwand und erst kurz vor Aktau wieder auftauchte. In einem Video sind die letzten Minuten des Fluges dokumentiert. Immer wieder versuchten die Piloten, das Flugzeug in der Höhe zu halten.
Russische Ungereimtheiten und ein Verdacht
Die von offiziellen russischen Medien verbreitete Version, wonach der Flughafen Grosny wegen schlechten Wetters geschlossen war, ist wenig glaubhaft. Sie unterschlägt, dass in den Morgenstunden des Mittwochs der Nordkaukasus, besonders Grosny, von ukrainischen Flugzeugdrohnen angegriffen wurde und die Behörden ein zeitweises Start- und Landeverbot über die nordkaukasischen Flughäfen verhängt hatten. Über Tschetscheniens Nachbarrepublik Nordossetien wurde mindestens eine Drohne abgeschossen, die auf ein Einkaufszentrum in der regionalen Hauptstadt Wladikawkas fiel. Der Sekretär des tschetschenischen Sicherheitsrats brüstete sich damit, dass der Drohnenangriff erfolgreich abgewehrt worden sei.
Russische Militärblogger und Militärexperten halten es für wahrscheinlich, dass dabei versehentlich auch das aserbaidschanische Passagierflugzeug von Flugabwehrgeschossen getroffen wurde. Diese Vermutung wird nicht nur durch die zeitlichen Umstände und die Abwehr der Drohnen gestützt. Im Lauf des Mittwochs zirkulierten immer mehr Aufnahmen vom Heck des Flugzeugrumpfs, das kleinere und grössere Löcher zeigte, die nach Meinung der Experten weder vom Absturz noch von einem Vogelschwarm stammen können.
Der regimekritische Militärfachmann Jan Matwejew sieht darin Spuren eines Treffers des russischen Flugabwehrsystems Panzir-S1. Der Beschuss dürfte zu wenig stark gewesen sein, um das Flugzeug direkt vom Himmel zu holen, aber schwerwiegend genug, um das Steuerruder und die Druckkabine zu beschädigen. Dies im Unterschied zur russischen Boden-Luft-Rakete, die im Sommer 2014 den Flug MH17 in der Ostukraine zum Absturz gebracht hatte.
Politische Folgen
Eine offizielle Bestätigung dieser politisch schwerwiegenden Version des Absturzes gibt es nicht. Die offiziellen russischen Medien halten an der Vogelschlag-Theorie fest. Offiziell wollen alle drei beteiligten Staaten die Ermittlungen abwarten. Der Sender Euronews und das aserbaidschanische Portal Caliber zitierten aber am Donnerstag eine inoffizielle Quelle der aserbaidschanischen Regierung, die den Beschuss des Flugzeugs durch eine russische Flugabwehrrakete bestätigte.
Dass eine von Russland verursachte Fremdeinwirkung zur Katastrophe geführt haben könnte, ist besonders für die Kasachen politisch heikel, die federführend bei der Untersuchung sind. Der kasachische Senatspräsident Maulen Aschimbajew nannte die Spekulationen über einen Beschuss durch die russische Flugabwehr unbegründet, unethisch und voreilig. Sie dienten gewissen Kreisen nur zur Profilierung. Auch Luftfahrtexperten warnten vor voreiligen Schlüssen.
Sollte sich der Verdacht jedoch bestätigen, würde er das russische Regime schwer belasten. Zum einen zeigte sich dann, dass die Bedrohung durch immer weiter ins Landesinnere fliegende ukrainische Drohnen für den Flugverkehr unterschätzt wird, um «heile Welt» zu simulieren. Zum andern und vor allem wäre es ein weiterer Beleg dafür, wie weitreichend die Folgen des von Präsident Wladimir Putin entfesselten Krieges gegen die Ukraine sind. Dies würde unweigerlich auch das Verhältnis zu den betroffenen Nachbarstaaten beeinträchtigen, selbst wenn deren Führungen gute Miene zum bösen Spiel machen würden.