Olmert stand bis 2009 an der Spitze des jüdischen Staats. Bei einem Treffen in Tel Aviv bescheinigt er Israel Arroganz und erklärt, warum Frieden mit den Palästinensern nach dem 7. Oktober möglich und nötig ist.
Herr Olmert, am Montag hat die Hamas den Soldaten Edan Alexander freigelassen – ohne Gegenleistung. Warum hat sich die Terrororganisation darauf eingelassen?
Für die Hamas war Edan sehr wertvoll, denn er war die letzte noch lebende Geisel mit amerikanischer Staatsbürgerschaft. Ich glaube, dass die Hamas Präsident Donald Trump ein Signal senden wollte – und das ist angekommen. Er hat das Angebot angenommen, nachdem er direkt mit ihr hinter dem Rücken der israelischen Regierung verhandelt hatte. Ich wünschte, er hätte es genau so für alle anderen Geiseln getan. Ich kann mich nicht über die amerikanische Regierung beschweren. Bei meiner eigenen sieht es anders aus.
Welche Beschwerden haben Sie?
Die israelische Regierung will die Geiseln nicht befreien, weil sie den Krieg nicht beenden will. Falls Israel ankündigen würde, die Kämpfe einzustellen, könnte man das Versprechen der Hamas testen, alle Geiseln freizulassen. Aber ohne ein klares Bekenntnis der israelischen Regierung, den Krieg zu beenden und sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, werden die Geiseln nicht zurückkehren.
Die israelische Regierung will den Krieg fortsetzen, um die Hamas vollständig zu zerstören – damit sie nicht die Möglichkeit hat, in ein paar Jahren wieder ein Massaker wie am 7. Oktober 2023 durchzuführen. Warum also den Krieg beenden, bevor dieses Ziel erreicht ist?
Die Idee, man könne die Hamas vollständig zerstören, ist eine kranke Phantasie von Benjamin Netanyahu. Eine vollständige Zerstörung ist unmöglich. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die jeden Tag junge Männer in Gaza rekrutiert. Sie gibt ihnen eine Granate, ein Gewehr oder einen Raketenwerfer und befiehlt ihnen, Israeli zu töten. Es wird ewig dauern, sie zu besiegen. Die israelische Armee hat bereits alles getan, um die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören. Die Hamas von heute ist nicht mehr die Hamas von vor zwei Jahren. Jetzt braucht es eine politische Perspektive.
Wie könnte diese denn aussehen?
Im nächsten Schritt müsste sich Israel mit den moderaten arabischen Staaten koordinieren: Ägypten, Jordanien, den Emiraten und Bahrain, mit denen wir schon gute Beziehungen haben. Vielleicht käme sogar Saudiarabien an Bord. Aber dafür müsste Israel ausformulieren, was es will: Wollen wir die Hamas für weitere zwei Jahre, vier Jahre oder sogar zehn Jahre bekämpfen? Oder sind wir bereit für einen Paradigmenwechsel? Ich glaube nicht, dass die israelische Regierung dazu bereit ist. Denn das würde voraussetzen, dass wir uns aus Gaza zurückziehen und die Sicherheitskontrolle vorübergehend an arabisch-palästinensische Truppen übergeben. Danach müsste Israel einen sinnvollen politischen Prozess in Gang setzen.
Sie deuten eine Zweistaatenlösung an. Viele Israeli – nicht nur Anhänger der gegenwärtigen Regierung – sagen, die Schaffung eines palästinensischen Staats wäre eine Belohnung für den Terror des 7. Oktober. Was entgegnen Sie ihnen?
Diese Ausrede äussern viele Leute wegen der Greueltaten, die die Hamas begangen hat. Keine Frage: Die Hamas sind Mörder der schlimmsten Sorte, die für immer verurteilt gehören. Aber wir müssen jetzt zwei oder drei Schritte weiter denken. Die Hamas hat über 1200 Israeli ermordet, wir haben womöglich über 50 000 Palästinenser getötet. Das ist furchtbar. Jetzt müssen wir mit der Palästinensischen Autonomiebehörde über eine mögliche Zusammenarbeit verhandeln. Welche Alternative bieten denn die Israeli an, die eine Zweistaatenlösung ablehnen? Wie wollen sie ein Ende des Kriegs, ein Ende des Terrors, ein Ende der Besetzung erreichen?
Laut einer neuen Umfrage unterstützen 67 Prozent der Palästinenser im Westjordanland die Hamas, im Gazastreifen sind es immer noch 43 Prozent. Würde ein palästinensischer Staat nicht einfach zur Basis für neuen Terror gegen Israel werden?
Ich kann nicht mehr hören, wie schwach und verletzlich wir angeblich sind. Die Palästinenser besitzen weder Panzer oder Flugzeuge noch irgendeine bedeutsame militärische Infrastruktur. 5000 palästinensische Terroristen sollen die Existenz des Staates Israel bedrohen? Das ist doch ein Witz. Was am 7. Oktober geschah, war ein Produkt unserer Arroganz. Wären wir nicht so von uns selbst überzeugt gewesen, wäre der Terrorangriff nach zehn Minuten vorbei gewesen. Dieses Versagen nun zu einem Paradigma für künftige Handlungen zu machen, ist lächerlich.
Auch Sie haben die Hamas unterschätzt. Im Jahr 2021 sagten Sie, die Hamas stelle keine militärische Bedrohung für Israel dar.
Die Hamas ist keine militärische Bedrohung für Israel. Wenn aber niemand an der Grenze steht, weil fast die gesamte Armee im Westjordanland im Einsatz ist, dann wird sie eine Bedrohung. Der 7. Oktober hätte nicht passieren dürfen. Und er wäre nicht passiert, wenn Israel verantwortungsvoll und nicht arrogant gehandelt hätte. Ich bleibe dabei: Diese paar tausend palästinensischen Terroristen sind keine Bedrohung für die Existenz des Staates Israel. Es ist lächerlich und kindisch, das zu behaupten.
Trotzdem unterstützt die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung diese Terroristen laut Umfragen bis heute.
Wenn Israel zu Beginn des Kriegs eine andere Politik verfolgt hätte, sähen auch die Meinungsumfragen unter den Palästinensern anders aus. Es stimmt nicht, dass es unter den Palästinensern keine Partner für Frieden gibt. Das Problem ist, dass sie und auch wir seit vielen Jahren von den extremsten religiösen Fundamentalisten dominiert werden. Die Palästinenser und die Israeli haben keine Führung, die den Mut, die Ausdauer, die Kreativität und die Vorstellungskraft hat, um in Richtung einer Übereinkunft voranzuschreiten. Ich gebe es nicht auf, für eine politische Lösung des Konflikts zu kämpfen, nur weil es gerade nicht populär ist.
Warum denken Sie, dass Ihre Lösung – die Zweistaatenlösung – heute noch realistisch ist?
Es ist die einzige realistische Lösung – alles andere sind vereinfachende Slogans, die uns nirgendwo hinführen. Eine umfassende politische Lösung des Konflikts mit den Palästinensern würde den gesamten Nahen Osten verändern. Sie würde uns ein Abkommen mit Saudiarabien ermöglichen und mit muslimischen Ländern in aller Welt. Sollten wir die Beziehungen mit den Saudi normalisieren, könnten wir darauf zählen, dass auch Indonesien auf uns zugeht – ein Land mit knapp 300 Millionen muslimischen Einwohnern. Das wäre revolutionär. Dafür müssen wir kämpfen, auch wenn wir das Ziel in der kurzen Frist nicht erreichen können.
Vor dem 7. Oktober sah es noch danach aus, als ob sich der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman mit symbolischen Zugeständnissen an die Palästinenser zufriedengeben und dafür im Gegenzug die Beziehungen mit Israel normalisieren würde. Warum pocht er jetzt auf einen palästinensischen Staat?
Man muss anerkennen, wie wichtig die palästinensische Sache für Saudiarabien ist. Personen, die mit dem Kronprinzen gesprochen haben, erzählten mir, er habe wiederholt gesagt, dass es nicht so aussehen dürfe, als sei ihm das Leid der Palästinenser egal. Auch Saudiarabien hat eine öffentliche Meinung und soziale Netzwerke. Um ein Abkommen mit den Saudi zu schliessen, muss Israel seine Bereitschaft für eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern demonstrieren.
Wir sprechen, während sich Donald Trump in Saudiarabien auf seiner ersten Auslandreise befindet. Er besucht die Golfstaaten, kommt aber nicht nach Israel. Welches Signal sendet Trump damit aus?
Niemand weiss, was in Donald Trump vorgeht, auch ich nicht. Mein persönlicher Eindruck ist, dass Donald Trump niemandem verpflichtet ist – nicht Europa, nicht Israel, niemandem. Er ist sich selbst verpflichtet und tut, was momentan gut für die USA ist. Trump sind politischer Druck oder historisch gewachsene Beziehungen egal. Wenn es um Israel geht, hat er seinen Entvölkerungsplan für den Gazastreifen nicht wiederholt, sondern fordert nun, dass mehr Nahrungsmittel Gaza erreichen. Trump will den Gaza-Krieg beenden und ihn nicht ausweiten. Ich hoffe, dass er all seine Macht und seinen Einfluss nutzt, um die israelische Regierung dazu zu bringen, genau das zu tun.
Sie haben Ihre politische Karriere im Likud begonnen, der Partei von Netanyahu. Als junger Mann haben Sie 1978 gegen das Camp-David-Abkommen gestimmt, das zum Frieden mit Ägypten geführt hat. Wie wurden Sie zum Friedensaktivisten?
Vor 52 Jahren wurde ich zum ersten Mal ins israelische Parlament gewählt. In diesen 52 Jahren haben sich die Region und die ganze Welt verändert. Die Gefahren, denen Israel heute ausgesetzt ist, sind vollkommen andere als damals. Jetzt immer noch an alten Dogmen festzuhalten, ist lächerlich. Ich habe meine Sicht auf die Dinge geändert, weil sich der Nahe Osten verändert hat. 1967 war Israel von allen Seiten von Ländern umzingelt, die es zerstören wollten. Heute ist Israel der mächtigste Staat der Region. Deswegen können wir heute Risiken eingehen, die wir vor fünfzig Jahren nicht eingehen konnten. Wir sollten Risiken eingehen, um die Gewalt, den Kriegszustand zwischen Israel und den arabischen Ländern, vor allem mit den Palästinensern, zu beenden – ein für alle Mal.