Russland verliert Menschen – auch wegen des Kriegs in der Ukraine. Putin wünscht, dass Frauen acht Kinder bekommen, um zur zur Lösung der «komplizierten demografischen Situation» beizutragen. Schon Lenin mischte sich ins Private ein.
Lenin hielt Verhütung für ein kleinbürgerliches Vorurteil. Kondome, glaubte er, seien der Sache der proletarischen Revolution hinderlich. Ein Beleg dafür findet sich in seinem Aufsatz «Arbeiterklasse und Neomalthusianismus», der 1913 in der bolschewistischen Zeitung «Prawda» erschien. Darin ärgerte er sich über den Kongress der Pirogow-Gesellschaft russischer Ärzte, einer angesehenen Berufsvereinigung, die sich der Volksaufklärung und Verbesserung der Gesundheit verschrieben hatte.
Der Schwerpunkt der Diskussion in Moskau lag auf der Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung sowie der Aufklärung der Bevölkerung über Verhütungsmethoden. Ausgerechnet die Empfehlung der Ärzte, ungewollten Schwangerschaften durch Gebrauch von Kondomen vorzubeugen und damit die Geburtsraten insbesondere unter den Armen zu senken, brachte Lenin auf die Palme. Weniger Kinder haben zu wollen, sei eine hilflose Reaktion der kleinbürgerlichen Klasse auf Verarmung und Niedergang. Dem Proletariat sei so etwas ganz fremd.
«Wir, die Arbeiter», schrieb der künftige Führer der bolschewistischen Revolution, «lernen schnell zu kämpfen, und zwar nicht als Einzelkämpfer, wie die besten Vertreter der Generation unserer Väter, auch nicht für die Losungen der uns fremden bürgerlichen Phrasendrescher, sondern im Namen der Losungen unserer eigenen Klasse. Wir kämpfen besser als unsere Väter. Unsere Kinder werden noch besser kämpfen, und sie werden siegen.»
Lenins Ablehnung der Verhütung ausgerechnet bei der Arbeiterklasse hatte zum Ziel, den klassischen «Malthusianismus» für die Weltrevolution arbeiten lassen. Der Verzicht auf Kondome sollte die Vermehrung des Proletariats und so dessen Sieg befördern.
Bacchanal des Proletariats
Die bolschewistische Machtergreifung brach eine sexuelle Revolution vom Zaun, welche die Frage der Verhütung obsolet machte. Bereits im Dezember 1917 erliess Lenin ein Gesetz «Über die Abschaffung der Ehe». Der russische kommunistische Jugendverband Komsomol, der damals gegründet wurde, unterstützte die Idee der Sittenfreiheit besonders eifrig und übernahm in seinen Statuten einen Paragrafen über die sexuellen Beziehungen. «Jeder Komsomolze kann und darf seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen», während «jede Komsomolzin verpflichtet ist, dem entgegenzukommen». Für eine emanzipierte Frau sollte Sex nicht mehr sein als ein «Schluck Wasser», ein Akt ohne tiefergehende Bindung und Gefühle, wie die kommunistische Emanze Alexandra Kollontaj es formulierte.
Vor diesem Hintergrund erschien jede Form der Verhütung als Beschränkung des Willens proletarischer Übermenschen. Der Versuch, eine «neue proletarische Moral» zu kreieren, hatte freilich nicht die «Revolution der Ehe», sondern eine Vergewaltigungswelle zur Folge.
Ein skandalöser Gerichtsfall, der Tschubarow-Prozess, führte die Vorzüge der sexuellen Revolution für die proletarischen Massen männlichen Geschlechts vor Augen. 1926 wurde ein 20-jähriges Landmädchen, das zum Studium nach Leningrad gekommen war, von vierzig Arbeitern vergewaltigt. Die Angeklagten, meist Komsomolmitglieder, behaupteten, sie hätten kein Verbrechen begangen, weil das Mädchen verpflichtet gewesen sei, ihrer proletarischen Begierde nachzukommen. Dabei konnte ein Zeuge nicht einmal die Frage des Richters verstehen, warum er weder nach Hilfe gerufen noch sich an die Miliz gewandt habe. Alles habe doch der Parteilinie entsprochen.
Allein im Moskauer Stadtgericht wurden in den 1920er Jahren pro Jahr mehr als 500 Vergewaltigungsfälle verhandelt. Der Paragraf über die Pflicht zur Befriedigung des neuen Menschen blieb zehn Jahre lang in den Komsomol-Statuten, bevor er nach der stalinistischen Wende gestrichen wurde.
Revolutionär war auch das Dekret «Über die Beendigung der Ehe», die nun ohne das Einverständnis des Partners innerhalb einer halben Stunde geschieden werden durfte.
Richter aus verschiedenen Regionen berichteten über unzählige Scheidungsanträge, die «ohne einen gewichtigen Grund» gestellt worden seien. Bei einer solchen Freiheit werde es Männern leichtgemacht, Mädchen ins Unglück zu stürzen, beklagte sich eine Justizbeamtin in Smolensk über massenhaft erfolgende Scheidungen. «Obwohl ich mich nicht gerade für einen grimmigen Asketen halte», schrieb Lenin kurz vor seinem Tod, «erscheint mir das ‹neue Geschlechtsleben› doch wie eine Variante des guten alten bürgerlichen Bordells.»
Dabei fehlte es der neuen Generation an elementaren Kenntnissen über Sex und Verhütung. Da Kondome als «Element bürgerlicher Zersetzung» galten, wuchs die Zahl der Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaften. Das bereits 1920 verabschiedete Abtreibungsgesetz, als das weltweit fortschrittlichste gerühmt, konnte dem Ausmass illegaler Abtreibungen, der Ermordung und Aussetzung von Neugeborenen keinen Einhalt gebieten. Bis in die vierziger Jahre kamen in der UdSSR auf jede Geburt drei Abtreibungen, und ein Viertel der Tötungsdelikte wurde an Neugeborenen begangen.
Die neue proletarische Moral wirkte dermassen grotesk, dass sie binnen weniger Jahre der sowjetischen Satire eine ungeahnte Blüte bescherte. Die unsterblichen Werke von Michail Soschtschenko, Michail Bulgakow und Ilf & Petrow hätten ohne den Aufstieg des Lumpen in die neue sowjetische Elite gar nicht entstehen können. Das Geschimpfe «Du bist minderwertig und hättest gar nicht geboren werden sollen», das von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow in den «Zwölf Stühlen» (1928) dem «grossen Kombinator» Ostap Bender in den Mund gelegt wurde, zeigte, wie die neue Wirklichkeit begann, die Mentalität der Bevölkerung zu prägen.
Stalin greift ein
Zwar setzte sich der von Lenin geschätzte Malthusianismus als der Kampf aller gegen alle nach der bolschewistischen Revolution durch, doch trug der kommunistische Terror gegen die Reste der besitzenden Klassen und der wohlhabenden Bauern wenig zur Bevölkerungsvermehrung bei. Dabei sollte, wie Stalin glaubte, das beschleunigte demografische Wachstum eine der wichtigsten Gesetzmässigkeiten des Sozialismus darstellen und dazu beitragen, den kapitalistischen Westen zu überholen.
Der Bevölkerungszuwachs pro Jahr, verkündete er auf dem XVI. Parteitag 1930, sollte bei 3 Millionen liegen. Ausgehend von den 147 Millionen Einwohnern, die in der ersten sowjetischen Volkszählung 1926 ermittelt worden waren, sollte die bevorstehende Volkszählung 1937 nicht weniger als 170 bis 172 Millionen erbringen. Doch die reale Geburtenzahl lag weit unter den ideologischen Vorgaben.
Aus heiterem Himmel erliess Stalin 1936 ein Abtreibungsverbot in der Hoffnung, die Statistik verbessern zu können. Trotzdem wurden lediglich 162 Millionen Einwohner registriert, 8 Millionen weniger, als vom Führer «geplant» worden waren. Besonders krass erwies sich die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit in Kasachstan, in der Ukraine, im Kaukasus und im Wolga-Gebiet, wo während der Zwangskollektivierung 1932/33 eine katastrophale Hungersnot wütete.
Stalin tobte. Die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden als «Schädlingswerk» annulliert. Verbrecherische Statistiker hätten die Zahlen gefälscht mit dem Ziel, die «faschistische Lüge vom Tod von mehreren Millionen Menschen durch Hunger und Auswanderung in der UdSSR» zu verbreiten. Der Leiter der Volkszählung, Olimpi Kwitkin, wurde erschossen, seine Mitarbeiter erhielten zehn Jahre Straflager. Erst 1990 erhielt die Forschung freien Zugang zu Archiven und konnte so das Ausmass der Fälschung sowie das Rattern der Terrormaschine rekonstruieren.
Nach dem Tod Stalins schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung: 1955 wurde Schwangerschaftsabbruch wieder legalisiert. Mitte der sechziger Jahre war die Sowjetunion nicht nur in der Eroberung des Weltalls, sondern auch bei der Zahl abgetriebener Föten von 7 Millionen weltweit führend. Die Zahl der Abtreibungen erreichte zwischen 1960 und 2008 185 Millionen – das Eineinhalbfache der Bevölkerung des heutigen Russland.
Ob legal oder illegal, in der ganzen Sowjetepoche bis zur Perestroika blieb der Schwangerschaftsabbruch das einzige Mittel der Familienplanung. Die offizielle Moral lehnte sowohl sexuelle Aufklärung als auch Verhütung für Frauen ab. Die ganze Sphäre der Geschlechtsbeziehungen blieb tabuisiert und von alten Vorurteilen sowie von Machismo geprägt. Frauen wurden für uneheliche Beziehungen und aussereheliche Kinder gesellschaftlich geächtet. Der Schürzenjäger galt als Held, eine untreu gewordene Frau als Hure.
Im Rahmen der Staatsmedizin wurden Mädchen und Frauen, die abtreiben wollten, durch Erniedrigung und Gewalt bestraft. Bereits die Beratung mit einem Frauenarzt – grösstenteils Frauen – liess wenig Zweifel daran, was diese von einer Patientin hielten. Nicht selten wurde ohne Narkose abgetrieben, und der den Frauen zugefügte Schmerz war als Strafe für sündhaftes Benehmen gedacht.
Ein Hauch Freiheit
«In der UdSSR gibt es keinen Sex», erklärte ein Mitglied des Komitees sowjetischer Frauen am 17. Juli 1986 anlässlich der ersten russisch-amerikanischen «Fernsehbrücke» und rief damit schallendes Gelächter hervor. In der Tat hatte erst die Perestroika den freien Umgang mit dem Thema möglich gemacht. Verhütung hielt Einzug, und es gab moderne Abtreibungsmethoden. Es war nur folgerichtig, dass die Möglichkeiten der Familienplanung die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche seit den neunziger Jahren sinken liessen. Im Jahrzehnt 2012 bis 2022 hatten sich Schwangerschaftsabbrüche in Russland auf 400 000 halbiert.
Gleichzeitig fielen die Geburtenraten während der Wirtschaftskrise in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion um 40 Prozent. Allerdings steht Russland nicht allein mit diesem Trend. Er ist in fast allen Industriestaaten zu beobachten und lässt sich auch mit sozialen Fördermassnahmen nicht wirklich umkehren.
An Vorschlägen zur Lösung der demografischen Krise lässt es Russlands Elite nicht fehlen. Besonders dringend scheint die Einführung «traditioneller Werte». Acht Kinder wünschte sich Putin von Frauen, die damit zur Lösung der «komplizierten demografischen Situation» beitragen könnten. Ein Duma-Deputierter schlug sogar vor, verurteilte Frauen, die bereit sind, Kinder zu bekommen, aus der Haft zu entlassen. Gleichzeitig soll das Abtreibungsrecht eingeschränkt werden.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Abtreibung komplett verboten wird. Doch jetzt schon wird ein bürokratisches Karussell aufgebaut, das eine rechtzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft unmöglich macht. Die reproduktive Gewalt ist Bestandteil der neuen Familienpolitik in Russland. Dass diese zur Stärkung der Familie führen wird, glauben selbst diejenigen nicht, die sich in Loyalität gegenüber Putin ergehen.
In der Wanderausstellung «Das menschliche Potenzial Russlands», die im Zusammenhang mit dem Jahr der Familie 2024 eröffnet wurde, gibt es ein Tagebuch eines ungeborenen Kindes. Kirchenaktivisten erklären dort den Schülern, dass Schwangerschaftsabbrüche die Ursache dafür seien, dass Gott den Krieg zugelassen habe. Das Regime produziert viele Opfer, auch solche der Abtreibung.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.