Eine Seilbahn, ein Catwalk und ein Spinnenraum: Der Zoo präsentiert «Panthera».
Der Zoodirektor Severin Dressen steht unter dem «Catwalk». So wird der metallene Übergangssteg genannt, auf dem ein riesiger Baumstamm liegt – fünf Meter über den Köpfen der Zoobesucher, umhüllt von Maschendraht. Er sagt: «Über den ‹Catwalk› werden in näherer Zukunft Raubkatzen gehen und dabei ihr Gehege wechseln.» Was zunächst wie ein Fiebertraum klingt, ist das neue Raubkatzenkonzept des Zoos Zürich.
Am Dienstag präsentierte der Zoo seine neue Raubkatzenanlage «Panthera». Dort, wo zuvor schon Tiger, Löwen und Schneeleoparden lebten, werden wieder Tiger, Löwen und Schneeleoparden zu sehen sein. Abgesehen von den Schneeleoparden handelt es sich bei allen Tieren um neue Tiere. Ein neuer Löwe kommt im Sommer.
So weit alles beim Alten. Zudem hat sich für die Besucher nicht viel verändert, die Gehege wurden nicht vergrössert, das Löwenhaus steht noch.
Doch was wurde dann in den vergangenen zwei Jahren umgebaut? Zoodirektor Severin Dressen spricht vom «Zoo der Zukunft» und sagt voller Stolz: «So was gibt es noch in keinem anderen Zoo.» Gemeint ist das Tierhaltungskonzept von «Panthera». Neu werden die Raubkatzen in so genannten hybriden Lebensformen untergebracht.
Der «gesunde» Stress
Das bedeutet: «Panthera» teilt sich in vier Gehege auf: A, B, C und D oder auch «Trockenwald», «Lichtung», «Gebirge» und «Laubwald». Das Konzept: Die Tiere rotieren im Turnus durch die Anlagen. Dressen erklärt, so könne der Tiger ein paar Wochen in der «Lichtung» und dann im «Gebirge» sein. Und so weiter.
Dressen sagt: «Wenn der Tiger ins neue Gehege kommt, wo vorher der Schneeleopard war, dann riecht es dort auch nach Schneeleopard.» Die Tiere müssten das Revier neu markieren, das Gehege erkunden, immer im Unklaren darüber sein, ob sich ein Feind im Gehege befinde. Das mache den Alltag der Tiere abwechslungsreich. Das töne stressig, und genau das sei das Ziel.
«Das Konkurrenzgefühl ist ein positiver Stress für die Tiere», sagt Dressen. Die Rotation läuft koordiniert ab, damit nicht plötzlich alle Raubkatzen im gleichen Gehege sind. Dafür ist der «Catwalk» da, er verbindet alle vier Gehege. Das Rotationsprinzip gibt es noch in keinem anderen Zoo.
Unklar sei, wie schnell das Rotationssystem von den Katzen angenommen werde, sagt Dressen. Aber er zeigt sich zuversichtlich, dass die Tiere künftig die Bereiche wechseln werden.
Das Tierhaltungskonzept enthält eine weitere Neuerung. Und zwar wird das Gehege «Gebirge» zum Jagdparadies. Doch bevor Dressen die Schaulustigen zur Show bringen kann, mahnt er, Geduld zu haben. Er sagt: «In einem modernen Zoo muss man sich Zeit lassen.» In einem modernen Zoo sei es wichtig, dass sich die Tiere zurückziehen könnten.
Die Tiere können im Zoo nun Fleischkeulen jagen
Aber dann folgt doch schon das Spektakel: Über dem «Gebirge» wurde eine Futterseilbahn gespannt. Ein Projekt, das mit dem Schweizer Seilbahnhersteller Inauen-Schätti AG extra für den Zoo realisiert wurde. Die Seilbahn zieht einige Meter über dem Boden zwei Rindskeulen über das Gehege.
Das solle den Jagdinstinkt der Tiere wecken und sie körperlich wie auch geistig fordern, sagt Dressen. Und vor allem: In der Natur scheiterten die Tiere neun von zehn Mal, im Zoo bekämen die Besucher das nicht mit. Die Seilbahn fordere die Tiere. Wenn sie nicht schnell genug seien, dann sei die Beute wieder weg. Der Zoodirektor Dressen sagt: «Dann sind die Tiere gescheitert. Und scheitern ist wichtig für die Tiere.»
Nach der Rede, die auch von einem Motivationscoach für Startups hätte stammen können, geht die Seilbahn los. In der Mitte des Geheges baumeln zwei Fleischkeulen. Die Schneeleoparden scheinen wenig beeindruckt und bleiben liegen. Erst nach einigen Minuten bewegt sich der eine Schneeleopard in Richtung Beute: beschnuppert, überlegt, plant. Und dann, in einem grossen Sprung, hängt das Tier am Fleisch und zieht ein Stück davon triumphierend zurück.
Im ehemaligen Bereich der Schneeleoparden wurde eine Futterseilbahn installiert. Diese wird von allen Grosskatzenarten genutzt, weil neu durch das Rotationssystem alle Tiere Zugang zu allen Bereichen haben. Dies ist eine grosse Veränderung und optimiert die tiergerechte Haltung, sagt Ryser. Er ist Zoosprecher. Alle Bereiche wurden so angepasst, dass sie den Bedürfnissen der Tiere entsprechen. Auch wurden alle Zäune tigersicher gemacht, weil die Tiger höher springen können als die Schneeleoparden und Löwen.
Vor fünf Jahren ereignete sich ein tödlicher Unfall im Tigergehege des Zoos Zürich. Eine 55-jährige Tierpflegerin war von einem Amurtiger angegriffen und getötet worden. Der Vorfall habe nichts mit fehlenden Sicherheitsmassnahmen zu tun gehabt, versichert Ryser. Während des Neubaus des Lebensraums Panthera wurden auch die Hintergrundanlagen renoviert.
Die Insektenwelt
Das Projekt hätte laut Entwicklungsplan 2025 eigentlich später realisiert werden sollen, doch Einsprachen bei der Pantanal-Voliere führten dazu, dass das Projekt «Panthera» vorgezogen wurde. Über Kosten kann Ryser bis zur finalen Bauabrechnung keine Auskunft geben. Obwohl der neue Lebensraum Panthera heisst – der Gattungsname der Grosskatzen –, enthält er auch einen Lebensraum für kleinere Lebenswesen: Insekten.
Der Zoo Zürich hat sich als Ziel gesetzt, künftig hauptsächlich bedrohte Arten aufzunehmen. Und dazu gehören bedrohte Insekten. An der Stelle, wo der Informationsraum im Löwenhaus war, befindet sich nun die Insektenwelt. Im Raum stehen Bäume auf Laubboden, und überall verbergen sich Insekten. Gross, klein, grün, braun: Einige würde man freiwillig anfassen, andere nicht.
An einem Ast baumeln zwei Samtschrecken. Wenn sich die Tiere paaren, trägt das grössere Weibchen das kleinere Männchen auf dem Rücken. So verweilen sie baumelnd am Ast. Auch sie sind vom Aussterben bedroht.
In einem abgetrennten, abgedunkelten Raum befinden sich die Spinnen. Weder eine Glasscheibe noch ein Netz trennen den Betrachter von den ihnen – nichts für Personen mit Spinnenphobie. Mit der Insektenwelt möchte der Zoo Zürich darauf aufmerksam machen, dass auch die wirbellosen Tiere vom Aussterben bedroht sind.