Die Salzburger Osterfestspiele und das Grand Théâtre in Genf zeigen Neuproduktionen von Mussorgskys politisch brisantestem Werk: «Chowanschtschina» ist die Oper der Stunde. Was aber hat sie mit dem heutigen Russland zu tun?
Niemand hat die Tragödie Russlands zwingender in Klang übersetzt als dieser Komponist. Ein glockenartiges Ostinato-Motiv, dumpf und schwer, unheilvoll und archaisch: Mehr benötigt Modest Mussorgsky nicht, um die Historie dieses Riesenreichs als abgründiges Kontinuum einzufangen. Der Klang ist gewissermassen die Essenz der russischen Geschichte. In Mussorgskys Puschkin-Oper «Boris Godunow» bestimmt er die prophetisch verdüsterte Krönungsszene; in «Chowanschtschina» wird er 1886 zu einem schauerlichen Leitmotiv.
Die russische Volkstragödie ist das letzte grosse Werk Mussorgskys. Er konnte sie, vom Alkohol früh dahingerafft, nur fragmentarisch ausarbeiten. Dennoch hat sie sich heute neben dem «Boris» durchgesetzt, zumeist in der Orchestrierung von Dmitri Schostakowitsch und oft ergänzt um das eindrucksvolle Finale von Igor Strawinsky. In dieser hybriden, aber keineswegs brüchig wirkenden Version wurde das faszinierende Stück erstmals 1989 von Claudio Abbado in Wien dirigiert. Die Mischfassung liegt nun auch den beiden Neuproduktionen zugrunde, die derzeit am Grand Théâtre de Genève und an den Salzburger Osterfestspielen gezeigt werden.
Mütterchen Russland
In Salzburg wurde sogar eine zusätzliche, im ehemaligen Moskauer Glinka-Museum entdeckte Manuskriptseite von Mussorgsky berücksichtigt. Sie berührt die letzte Szene zwischen den beiden Hauptfiguren Marfa und Andrei Chowanski, in Salzburg die herausragende Nadezhda Karyazina sowie Thomas Atkins. Auf dieser Grundlage hat Gerard McBurney, der Bruder des in Salzburg inszenierenden Simon McBurney, einige Anpassungen in der Orchesterbegleitung vorgenommen. Im Übrigen beschränken sich die Zutaten McBurneys auf geräuschhafte elektroakustische Collagen. In der Theorie sollen sie Übergänge zwischen den skizzenhaft offenen Szenen schaffen, in der Praxis unterbrechen sie jedoch den Fluss, was den Fragmentcharakter der Oper eher betont.
Eigentlich ist es Aufgabe der musikalischen Leitung und der Regie, für schlüssige Übergänge zu sorgen. Hier hat die Neuproduktion in Genf klar die besseren Lösungen. Dem Dirigenten Alejo Pérez glückt sogar ein besonders feiner Übergang von der Schostakowitsch-Orchestrierung in Strawinskys Finale. Auch intonatorisch präsentieren sich das Orchestre de la Suisse Romande und der Genfer Chor von ihrer besten Seite. Dagegen wackelt es an der Premiere in Salzburg mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra und dem Slowakischen Philharmonischen Chor zuweilen in der Intonation.
Eigentlich steht dort ein hellhöriger Kenner des russischen Repertoires und der Moderne am Pult: Esa-Pekka Salonen. Sein Dirigat tritt in Salzburg fast schon übermässig in den Vordergrund. Das ist offenbar der Regie geschuldet: als wollte Salonen der Produktion zumindest musikalisch das abringen, was der Inszenierung McBurneys fehlt, nämlich eine klare Haltung. In Genf kann Pérez gelassener agieren, weil die Regie von Calixto Bieito ihre Position beinahe überdeutlich herausarbeitet.
Sowohl in Salzburg wie in Genf – das dürfte es so noch nicht gegeben haben – verantwortet Rebecca Ringst das Bühnenbild. Unterschiedlicher könnten die Lösungen indes nicht sein, das spricht sehr für Ringst: Mit grossem Feingespür und szenografischer Kunst lebt sich die Berlinerin in die jeweiligen Sichtweisen ein.
Am Grand Théâtre streicht die Produktion heraus, wie sehr die russische Geschichte als grausames Kontinuum deutbar ist, das bis heute fortgeschrieben wird. Bieito schliesst mit «Chowanschtschina» zudem seine Genfer Trilogie russischer Opern ab. Der Startschuss dazu fiel, erschreckend prophetisch, im Herbst 2021 mit Sergei Prokofjews «Krieg und Frieden». Ein halbes Jahr später brach der russische Angriff über die Ukraine herein. Auf Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» folgt nun die nicht minder politische Oper Mussorgskys, deren schwer übersetzbarer Titel so viel bedeutet wie «Die Sauereien der Chowanski-Sippe».
Ringsts wirkungsvolles Bühnenbild integriert Videos von Sarah Derendinger, in denen Leit- und Leidensmotive russischer Geschichte abgebildet sind, vornehmlich aus der Sowjetzeit. In einem Sarg liegt zudem Stalin in Zuckerguss, der von der Figur des Schreibers (Michael J. Scott) sogar angeknabbert wird. Dieser Schreiber wird in Genf zum Gehilfen des Bösen. Er sieht ungerührt zu, wie Fürst Iwan Chowanski (Dmitry Ulyanov) auf dem Tiefpunkt seiner Politikerkarriere in der Badewanne ertränkt wird. In Salzburg ereilt Iwan, hier überragend verkörpert von Vitalij Kowaljow, kurioserweise das gleiche Badewannen-Schicksal.
Während dort der Schreiber (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) recht konventionell gezeichnet ist, wirft er in Genf sogar tödliches Gas in einen Waggon, in dem Aufständische gefangen gehalten werden. Dazu kleidet Ingo Krügler die prügelnden Kreml-Horden in Schwarz – so wie im heutigen Russland. Alle Macht verroht hier, und wenn Zar Peter, später «der Grosse» genannt, die Aufständischen begnadigt, tut er dies bei Bieito erst, wenn sie bereits umgekommen sind – ähnlich wie bereits Harry Kupfer bei seiner wegweisenden Produktion 1994 in Hamburg.
Pointiert contra dekorativ
Für Bieito ist und bleibt Russland ein Schlachthaus. Das Volk sieht bei ihm nicht nur zu, es beteiligt sich auch, fällt aber gleichermassen den Morden der wechselnden Machthaber zum Opfer. In Genf folgt das Chorvolk am Ende dem Zug mit dem tödlichen Waggon. Er fährt langsam durch den wabernden Gasnebel, entschwindet allmählich im Bühnenhintergrund. Mütterchen Russland, wohin treibst du? Ein erschütternd starkes, zugleich schauderhaftes Bild.
An diese pointierte Sichtweise reicht die Salzburger «Chowanschtschina» nicht heran. Sie meidet betont jedwede allzu gegenwärtige Positionierung und versteckt sich hinter einem dekorativen, allenfalls modern gebrochenen Historismus. Diese Ästhetik passt fraglos in die kooperierende Metropolitan Opera in New York. Und vielleicht huscht in Salzburg deswegen auch ein Schamane mit Hörner-Fellmütze durch die Szene. Das erinnert an den Marsch auf das Capitol in Washington 2021. Was McBurney jedoch damit sagen möchte, bleibt so unscharf wie vieles in seiner assoziationsgeleiteten Regie.