Die Gemeinschaft der ultraorthodoxen Juden ist weniger einförmig und statisch, als es von aussen wirkt. Insbesondere die Welt der Frauen ändert sich, auch unter dem Einfluss der digitalen Medien. Gespräche mit einer Filmregisseurin, einer Künstlerin und einer Ethnologin in der Haredi-Hochburg Brooklyn.
Die Welt der ultraorthodoxen Juden ist für Aussenstehende oft nah und fern zugleich. Zwar gibt es auch in Zürich Quartiere wie Wiedikon oder Enge, in denen sie allgegenwärtig sind, aber wenn man nicht dazugehört, kommt es kaum zu Kontakten. Häufig ist das Bild, das man sich von ihnen macht, von Klischees geprägt. In letzter Zeit sind sie durch das Buch «Unorthodox» von Deborah Feldman, mitsamt der gleichnamigen Netflix-Serie, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Entsprechend dominiert der Aspekt der Frauenunterdrückung die öffentliche Wahrnehmung, die geprägt ist durch Jüdinnen, die die Gemeinschaft verlassen haben.
«Lebensfreude spielt eine zentrale Rolle bei uns»
Im Gespräch zeichnen drei Frauen in New York ein komplexes Bild des Milieus, das den verbreiteten Stereotypien oft zuwiderläuft. Die erste, Malky Weingarten, ist eine Filmemacherin, die in Boro-Park lebt, einem Viertel in Brooklyn mit über 100 000 Ultraorthodoxen oder Haredim, wie sie sich selbst nennen. Die zweite ist Malky Goldman, eine Künstlerin und Schauspielerin, die sich von ihrer ultraorthodoxen Herkunft losgesagt hat. Die dritte ist Jessica Roda, die ein Buch über die Kreativität der Frauen in dieser Gemeinschaft schrieb.
Beim Besuch bei Malky Weingarten erklingen vom Nachbarschaftshaus her fröhliche Lieder. Es handle sich um die singenden Kinder einer religiösen Schule, erklärt Weingarten zur Begrüssung. Damit sind wir mitten im Thema. «Es gibt die verbreitete Vorstellung, dass sich das Leben der Ultraorthodoxen nur um Pflichterfüllung und die freudlose Befolgung von strengen Gesetzen drehe», sagt sie in der Garage hinter ihrem Haus, die sie zu einem Übungsraum umfunktioniert hat. «Nichts könnte falscher sein!»
Weingarten gehört zur Gemeinschaft der Chassidim, einer mystisch geprägten Strömung innerhalb des ultraorthodoxen Judentums. «Musik, Gesang, Tanz und überhaupt die Lebensfreude spielen eine wichtige Rolle bei uns, auch als Weg zu Gott», sagt sie. Zu dieser Betonung des Künstlerischen passt der Stellenwert, den Theaterspielen in der Schule einnimmt, vor allem bei den Mädchen. Seit etwa zehn Jahren hat sich auch eine eigene koschere Filmproduktion entwickelt, die primär weiblich geprägt ist: von Regisseurinnen, mit Schauspielerinnen, für Zuschauerinnen. Auf den DVD, die man in den entsprechenden Shops in Boro-Park kaufen kann, steht es gross und deutlich: «For Women and Girls only».
Malky Weingarten mit einer Perücke aus dem Fundus ihrer Theaterrequisiten.
Die Frau soll nicht auf ihren Körper reduziert werden
Auch Weingarten spielt in mehreren Produktionen mit und hat selbst Filme gedreht, von denen einige kontroverse Themen behandeln: In «Mali» geht es um ein Mädchen mit Asperger und in «Hush Hush» um die Tabuisierung von psychischen Störungen, auch im Hinblick auf die Heiratschancen. Aber ihre Werke sind äusserst populär in der ultraorthodoxen Welt, und sie selbst ist eine bekannte, respektierte Persönlichkeit. Früher war sie Fitnessinstruktorin, Trainerin für Rettungsschwimmen und Aerobic-Lehrerin. Sie unterrichtet auch koscheres Zumba, eine Kombination aus lateinamerikanischen Tänzen mit Aerobic, aber angepasst an die ultraorthodoxen Normen. Das alles entspricht nicht unbedingt dem Bild, das man sich von einer Chassidin macht. Wie steht es denn um die vieldiskutierte Repression?
«Ein wichtiges Ideal für uns Frauen ist Bescheidenheit», sagt Weingarten. «Viele von uns wollen von sich aus so leben. Für sie ist die Familie der Lebensmittelpunkt. Sie wollen viele Kinder, sie sind gerne zu Hause und wollen sich nur für ihren Mann schön machen, für niemanden sonst. Keiner zwingt sie dazu.» Aber kann man sich nicht auch einfach für sich selbst schön machen, zur eigenen Freude? «Bei uns ist es üblich, dass man Knie und Ellbogen bedeckt und die Haare unter einem Kopftuch oder einer Perücke versteckt. Der Anblick deiner eigenen Haare ist deinem Ehemann vorbehalten. Es geht darum, dass du nicht auf deinen Körper und dein Äusseres reduziert wirst. Du hast einen Körper, aber du bist nicht dein Körper.» Dazu gehöre auch, sagt sie, dass man in ihren Vierteln nicht dauernd mit Werbung konfrontiert werde, die das Ideal einer schlanken, makellosen Frau propagiere.
Bücher statt Fernseher und Smartphones
Wie steht es denn um die arrangierten Heiraten? Die sind laut Weingarten tatsächlich gang und gäbe. Aber es handle sich nicht um Zwangsheiraten, sagt sie. Man ziehe einen Matchmaker, also einen Vermittler bei, der den Familien Vorschläge unterbreite. «Dann treffen sich die beiden jungen Leute und unterhalten sich, während die Eltern im Nebenzimmer sitzen. Falls Interesse besteht, trifft man sich erneut, falls nicht, sucht der Vermittler weiter.» Sie selbst habe mehrere Kandidaten getroffen und sei mit einem von ihnen sogar spazieren gegangen. Aus ihrem Mund hört es sich eher wie eine altmodische Dating-Plattform an.
Bei der Familie Weingarten wird viel gelesen, aber einen Fernseher gibt es nicht, und die Kinder haben keine Smartphones. Sie selbst besitzt zwar eins, aus beruflichen Gründen, aber mit Filterfunktionen. Ins Kino geht die Familie auch nicht, aber gelegentlich schauen sie sich Disney-Filme an, die Weingarten im Voraus «getestet» hat, zum Beispiel «Frozen».
Wird Weingarten mit all ihren doch eher untypischen Aktivitäten nicht von vielen scheel angeschaut? «Nein», sagt sie. «Weil all das, was ich mache, nicht meinem Ego, sondern der Gemeinschaft dient.» Die Chassidim seien vielfältiger, als es von aussen scheine. Aber ein verbindendes Konzept sei, dass man sich eine Aufgabe suchen solle, die über das eigene Ich hinausgehe. Die blosse Suche nach Fun mache auf die Länge nicht glücklich. Und noch etwas ist ihr wichtig: Man müsse zwar alles Menschenmögliche tun, um eine Situation zu verbessern, zum Beispiel, um das Risiko einer Covid-19-Ansteckung zu vermeiden. Aber die letzte Entscheidung, ob zum Beispiel jemand sterbe oder nicht, obliege immer Gott. «Ich bin nicht für alles verantwortlich. Das ist entlastend.»
Als sie heiraten sollte, suchte sie einen Fluchtweg
Malky Goldman ist ebenfalls in einer strenggläubigen Welt aufgewachsen, und zwar im ultraorthodoxen Viertel Mea Shearim in Jerusalem. Aber inzwischen hat sie sich von ihrer Herkunft losgesagt; sie lebt als Schauspielerin und Künstlerin, zusammen mit ihrem Mann, in Brooklyn, aber nicht in einem typisch jüdischen Quartier. Sie äussert sich kritischer als Malky Weingarten über das Milieu der Haredim; aber auch sie bemüht sich, nicht in ein Entweder-oder zu verfallen.
Sie hat im koscheren Horrorfilm «The Vigil» mitgespielt, und auch in der Netflix-Serie «Unorthodox». Allerdings hegt sie Vorbehalte gegen deren extrem negative Schlagseite. «Die Dinge, die Feldman beschreibt, sind furchtbar», sagt sie. «Aber sie sind nicht repräsentativ; die ultraorthodoxe Welt ist schrecklich, schön und alles dazwischen.»
Von ihrem Vater zum Beispiel, einem Rabbi, erzählt sie mit viel Liebe. «Er ist ein traditioneller, aber lebendiger Mensch mit einem offenen Geist», sagt sie.
Sie war 20, als sie mit ihrer Familie von Israel nach New York zog. Sie sprach kaum Englisch. «In meiner Familie und in Boro-Park wurde Jiddisch gesprochen, und der Fahrer meines Vaters brachte mich überallhin», sagt sie. «Ich musste die Bubble nie verlassen und mit Aussenstehenden reden.» Aber heimlich begann sie, verbotene Bücher zu lesen. Sie wollte aufs College, neue Leute kennenlernen, Künstlerin werden.
«Als ich mit 23 – das war für unsere Verhältnisse spät – verheiratet werden sollte, geriet ich in Panik. «Die Strasse wurde immer enger, ich suchte einen Fluchtweg.» Die Familie organisierte ein Treffen mit einem Kandidaten. «Das Date dauerte gerade einmal zehn Minuten. Er hatte das Niveau eines Achtjährigen. Das Schlimmste war, dass ich mir vorstellte, dass unsere Kinder so sein würden wie er. Aber in meiner Familie hätte ich nicht Nein sagen können.» Ehe sie sich versah, war sie verlobt. Innerlich jedoch hatte sie sich bereits von der Welt verabschiedet, die für sie vor allem aus Regeln bestand. «Das liess sich nicht mit einem freien Geist vereinbaren.» Sie wusste, dass sie ihr Haar nie bedecken würde. «Seltsam, dass ein Kopftuch manchmal Tonnen wiegen kann.»
Sie entschied sich, den Mann zu heiraten, sich jedoch kurz nachher scheiden zu lassen. «Eine Scheidung war eher akzeptiert als die Ablehnung eines Heiratsantrags», sagt sie. Und so machte sie es auch. Nach sechs Wochen wurde die Ehe aufgelöst, und ein langer Abschied begann. «Lang», so sagt sie, «weil Weggehen immer ambivalent ist.» Sie ist dankbar, dass sie in Kontakt mit der Organisation Footsteps kam, die ihr bei der Loslösung half, ohne sie zu irgendetwas zu drängen. «Denn ich wusste zwar, was ich nicht wollte, aber noch nicht, was ich wollte.»
Manchmal vermisst die Aussteigerin die Verbundenheit
Um ihre damalige schwierige Situation zu veranschaulichen, weist sie auf ein Gemälde an der Wand, das sie damals malte. Es zeigt eine Meerjungfrau, die an Land geht, ihre Flossen ablegt und sich – unsicher – zu Fuss auf den Weg macht. Im Moment arbeitet sie in ihrem Atelier an einem Porträt ihrer Neffen. Die Schläfenlocken und die Kleider weisen darauf hin, dass sie immer noch «drinnen» sind, wie auch Goldmans dreizehn Geschwister. Viele von Goldmans Bildern behandeln die ultraorthodoxe Welt.
Überhaupt ist es interessant, dass sie diesem Milieu nicht gänzlich den Rücken gekehrt hat. Sie änderte zwar ihren Namen – «um keine Schande über die Familie zu bringen» –, aber ihre Familie sieht sie regelmässig, und sie hat auch immer noch Freundinnen wie Malky Weingarten.
«Ich bin die Einzige der Geschwister, die nicht mit den Eltern streitet», sagt sie. «Weil ich einfach mache, was ich will.» Allerdings wird vieles beschwiegen. Zum Beispiel, dass sie mit ihrem Mann zusammenlebt, ohne religiös vermählt zu sein. «Vielleicht ahnen es meine Eltern», sagt sie, «aber man macht einen Bogen um das Thema.» Sie erteilt einer Klasse von ultraorthodoxen Kindern auch Kunstunterricht. Dann kleidet sie sich angemessen und versucht, den Horizont der Kleinen ein wenig zu erweitern, ohne gewisse Grenzen zu überschreiten.
«Es ist ja nicht alles schlecht», sagt sie. «Es gibt eine schöne Verbundenheit, die ich manchmal vermisse. Und die Art, wie manche auf die chassidische Welt herabschauen, hat etwas Selbstgefälliges. Sie fühlen sich als etwas Besseres. Aber alles in allem ist es schon so: Je weiter ich mich von dieser Welt entferne, umso mehr schrumpft sie.»
Die digitalen Medien verändern auch die ultraorthodoxe Welt
Jessica Roda, eine kanadische Ethnologin, hat kürzlich ein Buch darüber veröffentlicht, wie sich die ultraorthodoxe Welt unter dem Einfluss der digitalen Medien verändert. Sie hat festgestellt, dass die Frauen – als Sängerinnen, Musikproduzentinnen, Filmerinnen, Schauspielerinnen und Konsumentinnen – dabei eine treibende Rolle spielen.
Ihr Buch heisst «For Women and Girls Only». Der Titel spielt darauf an, dass diese künstlerischen Erzeugnisse oft auf informellen Wegen verbreitet werden, damit sie für Männer nicht zugänglich sind. Aber selbst wenn berühmte Haredi-Sängerinnen wie Shaindy Plotzker in grossen Hallen auftreten, ist nur weibliches Publikum zugelassen. Ihre Videos werden teilweise bis zu einer halben Million Mal angeklickt.
Die kanadische Ethnologin Jessica Roda erklärt eine Stelle aus ihrem Buch «For Women and Girls Only», bei der es um Filter geht, mit denen Ultraorthodoxe ihre Computer und Smartphones vor unerwünschten Inhalten schützen können.
Die Wirkung von solchen Frauen, zu denen man auch Malky Weingarten zählen kann, ist widersprüchlich. «Einerseits wollen sie die Orthodoxie stärken, indem sie traditionelle Inhalte auf eine moderne Art vermitteln», sagt Roda im Gespräch. «Andererseits weichen sie, beabsichtigt oder nicht, alte Regeln auf, insbesondere darüber, wie sich eine anständige Frau zu verhalten hat.» Es gebe innerhalb der Gemeinschaften heftige Kontroversen darüber, und die Auffassungen seien stark im Fluss. Auch würden wegen der sozialen Netzwerke die Grenzen zwischen innen und aussen durchlässiger. «Die Welt der Ultraorthodoxen ist vielfältig und farbig», sagt Roda. «Sie ist nicht so schwarz-weiss, wie sie von aussen aussieht.»







