Der Bosnier Aleksandar Hemon, der 1992 in die USA auswanderte, wird wegen seiner erzählerischen Bravour, seiner fabulierenden Lust und seiner poetischen List zu Recht mit Nabokov verglichen. Nun legt er einen meisterlichen weltgeschichtlichen Abenteuerroman vor.
Der Roman beginnt 1914 in Sarajevo und endet 2001 in Jerusalem. Dazwischen liegt ein phantastisch turbulentes Stück Welt- und Liebesgeschichte, ausgebreitet von einem namenlosen Ich-Erzähler, der viel Ähnlichkeit mit Aleksandar Hemon hat. Der in Bosnien geborene, in den USA lebende und auf Englisch schreibende Autor wird wegen seiner erzählerischen Bravour, seiner fabulierenden Lust und List zu Recht mit dem literarischen Migranten Vladimir Nabokov verglichen. In Romanen wie «Die Sache mit Bruno» und «Lazarus», in verstreuten Texten wie «Das Buch meiner Leben» hat Hemon stets Autobiografisches und Historisches kunstvoll mit Fiktionen gepaart, in der besten Tradition von Jorge Luis Borges.
In seinem neuen Roman, «Die Welt und alles, was sie enthält», tritt der Erzähler nur im letzten von zwölf Kapiteln persönlich auf, und dabei zimmert er den Rahmen seiner Geschichte: Im Jahr 2001 ist er in Jerusalem auf einem Literaturfestival, das «eine gute Woche vor 9/11 stattfand», wo er auch zwei wichtige Frauen kennenlernt, eine mit der «Stimme einer Schulmeisterin», die Susan Sontag ähnelt und nur einen kurzen Auftritt hat. Die andere ist Rahela, die weibliche Hauptfigur dieses Romans, die ihm Haarsträubendes erzählt von ihrer Reise um die halbe Welt im Gegenwind der Geschichte des 20. Jahrhunderts: von ihrer Geburt in Tadschikistan, als ihre Eltern aus Taschkent flüchteten, von den Strapazen in der Wüste in China. Was vorher und nachher geschah, das ist der Inhalt dieses grandiosen weltgeschichtlichen Abenteuerromans.
Fiktion und Historie
Die ungestüme Geschichte beginnt mit einem Kuss, den der homosexuelle jüdische Apotheker Rafael Pinto in Sarajevo einem schmucken Wiener Rittmeister gibt, just an jenem Tag, als dort der österreichische Thronfolger erschossen wird. Zwei Jahre später lernt Rafael im Schützengraben in Galizien die Liebe seines Lebens kennen, den muslimischen Osman Karišik, der ebenfalls aus seiner Heimatstadt stammt, jenem «Kuhkaff in Gottes Windschatten».
Rafael und Osman gehen durch dick und dünn im «Lärm der Liebe» und auf den Schlachtfeldern, wo «Tote wie Äpfel unter einem Baum» liegen. Sie träumen von der Heimkehr nach Sarajevo, überleben die Gefangenschaft in Taschkent, wo man «von einer Revolution in Russland munkelte», wo Osman bald ein Agent der Tscheka wird, «Jagd auf konterrevolutionäre Banditen» macht und den englischen Meisterspion Moser-Ethering kennenlernt.
An solchen Stellen überschneidet sich die Fiktion mit der Historie, denn dieser Agent hat sein reales Vorbild im britischen Offizier und Asienforscher Frederick Bailey, aus dessen Büchern Hemon phantasievoll ausschmückend zitiert. Ebenso verfährt er mit dem zaristischen Abenteurer Ungern-Sternberg, der im Roman seinen Auftritt als «Baron Teutenberg» hat und blutrünstig eine Horde von Weissgardisten anführt.
Geschickt und sprachgewaltig verknüpft der Romancier die Fäden und lässt den britischen Spion das Leben von Rafael retten. Für Osman, den «feschen Bosnier», gibt es keine Hilfe, er bleibt verschollen, nachdem er bei einem heterosexuellen Fehltritt mit einer russischen Jüdin ein Kind gezeugt hat, ebenjene Rahela, die dem flunkernden Ich-Erzähler angeblich in Jerusalem ihre Lebensgeschichte berichtet.
Das grösste Wunder dieses weltumspannenden Romans ist, dass er trotz allen erzählerischen Bocksprüngen nie in die Kolportage und den Kitsch abstürzt. Das Mirakel der Männerliebe hält an, Rafael hält weiter Zwiesprache mit dem verschwundenen Osman, denn in diesem Zustand der Gnade «kann man sich auf eine Schwertschneide betten» und dort trotzdem selig sein. Rafael sorgt für die Tochter seines Geliebten, die nun also «zwei Väter» hat, er schleppt Rahela auf der Flucht quer durch Asien und grauenvolle Szenerien, durch die Taklamakan-Wüste und bis nach Schanghai, immer in der Hoffnung auf eine Rückkehr nach Sarajevo und auf eine Vereinigung mit Osman.
Aleksandar Hemon beschreibt diese Gewalttour um den halben Globus und durch mehrere Jahrzehnte in einem elastischen Englisch – und der Übersetzer Henning Ahrens hält wendig mit. Die Einsprengsel auf Bosnisch, Ladinisch, Russisch und in anderen Sprachen bleiben im Original und verwirren zusätzlich den wilden Ritt durch die Jahrzehnte. Das angeblich kurze 20. Jahrhundert windet sich qualvoll lang durch historische Katastrophen, und der Autor schafft es spielerisch, in diesem Roman auch entsetzlich aktuelle weltpolitische Themen anzudeuten: Die Greuel der russischen Soldateska im Ersten Weltkrieg könnten auch die in Butscha sein. Ebenso gegenwärtig wie beklemmend klingt die Beschreibung der chinesischen «Kriegsherren in Xiang», die sich aufführen, als sei «es geboten, Muslime zu massakrieren».
Der Abgrund des Opiums
Ein guter Teil von «Die Welt und alles, was sie enthält» spielt im Flüchtlingselend in Schanghai vor der kommunistischen Machtübernahme, wo Rafael mit seiner angenommenen Tochter gestrandet ist, «staatenloses Treibgut» unter japanischen Bomben. Nur in einem Nebensatz heisst es, «in Europa war der Krieg ausgebrochen».
In Schanghai gibt es mittlerweile das jüdische Viertel Little Vienna, und der bosnische Jude verzehrt sich immer noch nach seinem Osman, hat aber einen neuen Liebhaber gefunden, den bildschönen Chinesen Lu, der ihn einführt in die abgründigen Freuden des Opiums, der «Religion der Individualisten». Er verfällt zum körperlichen und seelischen Wrack, während die junge Rahela mit den Jahren aufblüht, einen windigen Amerikaner heiratet und mit diesem nach Hongkong flüchtet.
Mit einem Kind im Bauch kehrt Rahela 1949 nach Schanghai zurück, um ihren Adoptivvater Rafael abzuholen und ihn, wie versprochen, nach Sarajevo zu bringen. Ob das Unternehmen gelingt, sei hier nicht verraten, ist aber gar nicht mehr so wichtig im berückenden Chaos dieses Romans. «Das Leben ist kein Zuckerschlecken», philosophiert der vom Opium benebelte Rafael in China, als überall schon die Kommunisten im Vormarsch sind, während aber auch der gegnerische Kuomintang noch illusorische Siegesparaden abhält. Dann machen die Uhrzeiger dieser Universalgeschichte den rasenden Sprung von einem halben Jahrhundert, und wir sind im letzten Kapitel, «Jerusalem, 2001».
Dieser Epilog spielt zwar noch vor dem historischen Knall von 9/11, aber auch hier verweist der Autor mit minimalistischer Beiläufigkeit auf die Weltwunden der Gegenwart. Im Fernsehen sind Bilder von israelischen Soldaten zu sehen, die eine palästinensische Familie misshandeln. In einer Podiumsdiskussion zum Thema «Schreiben, Krieg, Leiden» plustern sich ein deutscher und ein israelischer Schriftsteller auf, und der Ich-Erzähler lernt die gealterte und etwas wunderlich gewordene Rahela kennen, die ihm ihre Odyssee schildert.
Sie ist nach ihrer vergeblichen Suche nach Ahnen in Sarajevo schliesslich nach Israel emigriert, wo sie jetzt gegen die «Abriegelung der Palästinensergebiete» demonstriert. Die Erzählung der alten Frau bringt die Phantasie und das Roman-Karussell ins Laufen: «Meine Plot-Maschine lief auf Hochtouren, ich malte mir eine Geschichte aus», eben die Geschichte, die wir gerade zu Ende lesen.
Doch während der Ich-Erzähler noch schwelgt in der «Vorstellung, dass die Welt ein Universum von Geschichten» ist, reisst ihn im gegenwärtigen Jerusalem die «laute Explosion» einer Bombe aus seinem poetologischen Sinnieren.
Selbst die abschliessenden Danksagungen sind noch voller Aktualität, wenn der Autor sich vor dem bosnischen Musiker Damir Imamovič verneigt, dessen Album «The World and All That It Holds» (zu finden auf Youtube) denselben Titel wie dieser Roman trägt und von ihm inspiriert wurde. Und wenn Aleksandar Hemon sich an die neueste politische Stimmung im Westen erinnert, «nach dem Ausbruch von Covid und der Entfesselung des amerikanischen Faschismus», dann ist er nach dieser literarischen Weltumrundung wieder zurück in seiner Wahlheimat Chicago.
Aleksandar Hemon: Die Welt und alles, was sie enthält. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Claassen-Verlag, Berlin 2024. 395 S., Fr. 36.90.