Die Orthopädiefirma Ottobock wurde gegründet, als es nach dem Ersten Weltkrieg Millionen versehrter Männer gab. Heute herrscht wieder ein Krieg, in dem das Unternehmen aus dem Harz gefragt ist. Es liefert Prothesen und schult Techniker, um die wachsende Anzahl schwer verwundeter ukrainischer Soldaten versorgen zu können.
Der Mann, dem das rechte Bein fehlt, steht in Unterhose vor Konstantin Muchanow und starrt angestrengt geradeaus. Muchanow sitzt vor ihm auf einem Schemel, in der Hand einen weissen Korsettstab, mit dem er sacht unter den Schaft fährt, in dem der Oberschenkelstumpf des Amputierten steckt. Dann nimmt er einen Stift, markiert einen kleinen Kreis auf den Thermoplast, dann noch einen und später einen weiteren.
Schliesslich blickt er auf, nickt dem Mann zu und erhebt sich. Sein dunkles Haar flieht aus der Stirn, die kleinen Hände passen zu seiner gedrungenen, aber kräftigen Statur. Sein Oberkörper steckt in einem grauen Shirt, auf dem in weisser Schrift «ottobock» steht. Muchanow wartet, bis der Mann die Oberschenkelprothese vom Stumpf gezogen hat, ein Hightech-Stück der Orthopädietechnik aus Schaft, Rohr, Kniegelenk und Fuss, nimmt sie ihm ab und verlässt den Raum.
Es ist ein regnerischer Vormittag in Duderstadt, einer Kleinstadt im deutschen Bundesland Niedersachsen, gelegen am Westrand des Harzes. Konstantin Muchanow ist Anfang Januar aus der westukrainischen Stadt Lwiw hierhergekommen, um sich vom Techniker für Unterschenkelprothesen zum Techniker für Oberschenkel- und Armprothesen weiterzubilden. In Duderstadt befindet sich die Firmenzentrale von Ottobock, dem nach eigener Beschreibung «Weltmarktführer in technischer Orthopädie».
Die Firma wurde gegründet, als schon einmal eine riesige Zahl an Soldaten mit Prothesen versorgt werden musste. Mehr als 4,5 Millionen deutsche Soldaten wurden im Ersten Weltkrieg verwundet, ein Grossteil von ihnen verlor eine oder mehrere Gliedmassen. Allein 1917 und 1918, heisst es in der «Wehrmedizinischen Monatszeitschrift», Ausgabe Februar 2015, seien mehr als 75 Prozent aller Verwundungen von Artilleriegeschossen verursacht worden.
Holzstelzen und Hakenhände
Für den Ersatz verlorener Beine und Arme gab es bis Ende des Ersten Weltkriegs nur Holzstelzen und Hakenhände, gefertigt von Tischlern, Blechnern und anderen Handwerkern. Es war der in Thüringen geborene Otto Bock, der 1919 in Berlin ein Verfahren zur Serienproduktion von Prothesenteilen entwickelte, die dann individuell angepasst werden konnten. Als seine Firma in der DDR enteignet wurde, siedelte Bock nach Duderstadt im Westharz um und baute dort ein Unternehmen auf, das heute Filialen überall auf der Welt hat. Seit zwei Jahren allerdings gilt der Fokus im Exportbereich besonders einem Land: der Ukraine.
Die Situation dort ist sicher nicht vergleichbar mit der in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Doch sowohl die Zahl der Verwundeten als auch die Schwierigkeiten bei ihrer Versorgung haben Ausmasse angenommen, die die Ukraine allein kaum mehr bewältigen kann. Das wird besonders bei den Amputierten deutlich.
Man kann darüber mit Konstantin Muchanow sprechen. Doch erst einmal geht der 43-Jährige in eine Produktionswerkstatt mit drei grossen Werkbänken. Dort dreht er den Schaft der Prothese vom Rohr und nimmt einen Föhn aus einer Schublade. Damit erwärmt er die angezeichneten Stellen und beult sie mit der Hand aus. Frederik Thiede, Trainer im Schulungszentrum von Ottobock, der «Global Academy», beobachtet ihn und nickt. Der Schaft habe an einigen Stellen des Stumpfes gedrückt, sagt er dann. Würden sie nicht ausgebessert, hätte der «Anwender» bald Druckstellen und Schmerzen durch die Prothese.
«Anwender» ist das Wort, das Thiede für diejenigen benutzt, die eine Prothese angepasst bekommen. «Eine Amputation ist keine Erkrankung, weshalb wir nicht Patient sagen.» Damit Studenten wie Konstantin Muchanow den Umgang mit modernen Arm- und Beinprothesen lernen, arbeiten sie in Duderstadt mit freiwilligen Amputierten, an denen sie üben können, eine Prothese richtig anzupassen. Das sind dann «Demo-Anwender».
Zwölfwöchiger Crashkurs
Muchanow ist seit dem 8. Januar in Duderstadt, mit ihm neun weitere Ukrainer, allesamt weit jünger und unerfahrener als er. In einem zwölfwöchigen Crashkurs lernen sie, Prothesen für Ober- und Unterschenkel sowie die oberen Extremitäten anzufertigen. In Deutschland dauert das normalerweise ein Jahr und mehr. Doch diese Zeit haben die Ukrainer nicht. In ihrer Heimat warten unzählige Soldaten auf sie: Männer und Frauen ohne Arme und Beine, ohne Teile von Beinen, Armen und Händen, ihr Körper zerstört im Artillerie- und Drohnenkrieg im Donbass und an der Südfront oder auch bei einem der russischen Luftangriffe auf ukrainische Städte.
Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele ukrainische Soldaten seit dem russischen Überfall vor zwei Jahren getötet oder verletzt worden sind. Im August 2023 berichtete die «New York Times» unter Bezugnahme auf namentlich ungenannte «US-Beamte» von 70 000 Gefallenen und bis zu 120 000 Verwundeten auf ukrainischer und von 120 000 Gefallenen und bis zu 180 000 Verwundeten auf russischer Seite. Es ist ebenso unklar, ob diese Zahlen stimmen, wie die Angaben, die das «Wall Street Journal» ebenfalls im August vorigen Jahres in einem Artikel über Amputationen machte. Darin ist von 20 000 bis 50 000 Ukrainern die Rede, die eine oder mehrere Gliedmassen verloren hätten.
Konstantin Muchanow stammt ursprünglich aus Charkiw. Er verliess den Ort unweit der Grenze zu Russland, weil er in Lwiw gebraucht wird. Dort sind inzwischen mehrere Rehabilitationszentren für versehrte Soldaten entstanden. Doch es fehlt an Ärzten, Pflegern, Psychotherapeuten und vor allem auch Orthopädietechnikern. Für die oberen Extremitäten gibt es allenfalls 30 Techniker, auf jeden von ihnen kommen bis zu 500 Soldaten, die auf eine Prothese warten.
So sagt es Tim Schäfer, der im Management von Ottobock für Osteuropa verantwortlich ist. In der gesamten Ukraine gebe es nicht mehr als etwa 350 ausgebildete Orthopädietechniker, äussert er. Mehr als 150 von ihnen habe allein Ottobock seit dem russischen Überfall in Duderstadt, Polen oder per E-Learning aus- und weitergebildet. In Anbetracht des enormen Bedarfs sei das, so Schäfer, aber nur ein «Tropfen auf den heissen Stein».
Amputierte aus allen Altersgruppen
Muchanow hat den Schaft inzwischen ausgebessert. Jetzt nimmt er sich kurz Zeit. Er redet, den Körper vorgebeugt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Anfangs, sagt er, seien die Amputierten jung gewesen. Inzwischen stammten sie aus allen Altersgruppen. Der Krieg in der Ukraine ist längst schon keine Sache mehr von jungen Männern. Zurzeit stünden 60 Soldaten auf seiner Liste, sagt Muchanow, doch weil er noch bis Ende März in Duderstadt weilt, würden es täglich mehr. Das sei schwierig für ihn, weil er den Soldaten helfen wolle. Eine Prothese könne ihnen wieder Lebensmut und Selbstvertrauen geben. Jeder Tag, den sie warten müssten, verlängere ihr Leid.
In einem der Schulungsräume auf der anderen Seite des Flurs sitzen fünf «Demo-Anwender» auf Liegen, um sie herum Studenten in grauer Ottobock-Kleidung. Sie halten Schüsseln, aus denen sie Gipsbinden nehmen und um die Stümpfe wickeln. Man kann es durch die Scheibe sehen, vor der Muchanow sitzt. Der Gipsabdruck steht am Anfang der Arbeit an einem Schaft. Er wird in Handarbeit gefertigt, während die übrigen Teile einer Prothese industriell hergestellt werden. In der Produktion von Ottobock haben sie die Zahl der Schichten vervielfacht, um dem Bedarf an Ellbogen- und Kniegelenken, Prothesenrohren, künstlichen Füssen und Händen nachzukommen.
So wie einst nach dem Granatenkrieg in Frankreich vor gut 100 Jahren ist es nun der Granaten- und Drohnenkrieg in der Ukraine, der für den Werdegang des Unternehmens von enormer Bedeutung ist. Noch nie, sagt Tim Schäfer, habe Ottobock eine Niederlassung in einem Land aufgebaut, das sich im Kriegszustand befindet. Doch der Bedarf der Ukraine an Prothesen sei nicht nur derzeit akut, sondern er werde auf lange Zeit hoch sein. Je nach Amputation müssten Prothesen alle paar Jahre ersetzt werden. Derzeit baue das Unternehmen ein Teilelager in der Nähe von Kiew auf.
Dramatischer Anstieg bei Amputationen
Dann zeigt Schäfer ein Bild auf seinem Mobiltelefon, aufgenommen Ende vorvergangener Woche, als der ukrainische Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko in Berlin zu Gast war. Auf dem Foto befindet sich Ljaschko an einem Pult, links von ihm auf einem überdimensionalen Bildschirm ein Chart mit einer amputierten Soldatin auf Gehhilfen. Neben ihr in Gelb steht «Number of Amputations» und dann, unter den Jahreszahlen 2022–2023, die Zahl 100 000+.
Der ukrainische Minister habe vor Publikum ausgeführt, dass zwischen Anfang 2022 und Ende 2023 mehr als einhunderttausend Amputationen vorgenommen worden seien, sagt Schäfer. Diese Zahl unterscheidet sich deutlich von der aus dem Bericht des «Wall Street Journal». Sollte sie stimmen, lässt das auf weit schlimmere Kriegsfolgen für die Ukraine schliessen, als bisher vermutet wurde.
Kriege waren schon immer Technologietreiber. Das gilt nicht nur für Militärausrüstung, sondern auch für die Versorgung verwundeter Soldaten. Ottobock entwickelte vor gut 20 Jahren gemeinsam mit dem US-Militär ein mikroprozessorgesteuertes Kniegelenk. Die amerikanische Armee befand sich damals im Einsatz in Afghanistan und im Irak und beklagte eine wachsende Zahl Verwundeter durch Bombenexplosionen.
In Deutschland und anderen westlichen Staaten gehören solche Gelenke heute zum Standard. Die Kosten sind enorm. Der Preis für eine Hightech-Prothese beträgt in der Bundesrepublik mehrere zehntausend Euro. In der Ukraine, sagt Tim Schäfer, zahle der Staat etwa 8000 Euro für eine Prothese. Mehrkosten übernähmen Hilfsorganisationen. Meist reiche das Geld aber erst einmal nur für eine Oberschenkelprothese mit einem mechanischen Kniegelenk.
Schmerzen und Traumata lassen sich nicht imitieren
Konstantin Muchanow hat schweigend zugehört. Dann sagt er, mit «den Russen» werde es aus seiner Sicht nie wieder ein normales Verhältnis geben können. Anschliessend gibt er die Hand und geht hinüber zu den Studenten, die noch immer mit den Gipsabdrücken beschäftigt sind. Muchanow kennt diese Arbeit, er hat in seiner 20-jährigen Berufszeit schon Tausende Gipsabdrücke genommen. Doch im Gegensatz zu den «Demo-Anwendern» sind die Stümpfe bei den Soldaten oft noch frisch. Sie haben Wund- und Phantomschmerzen, dazu Traumatisierungen. Das lässt sich in Duderstadt nicht imitieren.
Als Muchanow gegangen ist, zeigt Anatoli Tirik ein Foto. Tirik ist der Vertriebsleiter für Osteuropa. Er habe das Bild von einem Sanitätshaus in Kiew zugeschickt bekommen, sagt er. Es zeigt einen Rumpf mit sehr kurzen Stümpfen. Die Ukrainer brauchten inzwischen zu lange, um Schwerverwundete ins Hospital zu bringen, sagt Tirik. Häufig müssten deshalb nicht nur Teile von Gliedmassen, etwa Unterschenkel, amputiert werden, sondern ganze Gliedmassen. Der Grund hierfür sei unter anderem, dass sie auf dem Transport falsch versorgt würden. «Ein Bein, das vier Tage abgeschnürt war, um Blutverlust zu verhindern, kann man nicht mehr retten», sagt Tirik. Die Folge sei, und er deutet auf das Bild, dass man bei diesem Mann nicht einmal mehr eine Prothese anbringen könne. Er werde sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen können.
In einem Land wie der Ukraine, deren sowjetisch geprägte Infrastruktur keine Rücksicht nimmt auf Menschen mit Einschränkungen, ist das eine niederschmetternde Diagnose. Die Ukraine (und auch Russland mit noch mehr Verwundeten) wird, ähnlich wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, auch noch Jahrzehnte nach einem Ende dieses Kriegs ein Land sein, in dem Männer und Frauen mit zerschundenen Körpern in grosser Zahl an die furchtbaren Schrecken erinnern.