Über dreissig Jahre nach seinem Tod widmet das Masi dem Pionier der Reisefotografie eine Retrospektive. Die Ausstellung zeigt Fotografien von Luigi Ghirri, die an touristische Schnappschüsse erinnern, aber als solche eigentlich misslungen sind. Mit Absicht, natürlich.
Der Ort ist leicht zu erkennen: Zu sehen sind die Faraglioni-Felsen vor der Küste von Capri, ein perfektes Instagram-Motiv, das allerdings schon lange vor Instagram als Postkartenklassiker um die Welt ging und für glamouröse Ferien am Mittelmeer stand. Auf dem Foto von Luigi Ghirri dümpeln die beiden Felsen jedoch vor einem leicht verhangenen, blassblauen Himmel am Rande des Bildes, sie sind nicht einmal richtig scharf gestellt. Im Fokus steht dafür das altmodische Münzfernrohr auf der Aussichtsplattform Belvedere di Tagara, also ein Gerät für Feriengäste, die damit offenbar etwas anderes sehen wollen als die berühmten Faraglioni, die sich genau unter ihnen befinden.
Luigi Ghirri (1943–1992) gilt als Pionier der zeitgenössischen Fotografie, ganz besonders der Reisefotografie. Er zeigt die oft von Natur aus fast klischeehaft pittoreske Landschaft Italiens poetischer und realistischer, als die Postkartenfotografen es tun, und lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf Nebenschauplätze, unbedeutende Details und Situationen, die Wohlbekanntes irgendwie fremd wirken lassen.
«Die Motive meiner Fotografien sind alltäglich», erklärt Ghirri in seinem 1984 veröffentlichten Buch «Viaggio in Italia», das bis heute als Schlüssel für die Interpretation der Fotokunst seines Landes und darüber hinaus gilt, «es handelt sich um Bilder, die wir normalerweise passiv geniessen. Wenn diese Bilder aus ihrer vertrauten Umgebung herausgelöst werden, bekommen sie eine neue Bedeutung und schaffen eine neue Erzählung.»
Faszination für das Reisen
Über dreissig Jahre nach seinem frühen Tod widmet das Masi Lugano dem italienischen Fotografen eine Retrospektive. «Viaggi – Fotografien 1970–1991» erzählt von Luigi Ghirris Faszination für das Reisen – ganz gleich, ob es sich dabei nur um kleinere Ausflüge um seine Geburtsstadt Modena handelte oder um Besuche beliebter Touristenorte, die er gelegentlich im Dienst italienischer Fremdenverkehrsämter oder des Touring Club Italiano absolvierte.
Es spielt eigentlich keine Rolle, wohin genau seine Reisen ihn führten – er fand offenbar überall und mit spielerischer Leichtigkeit einen Aspekt, den er neu belichten, mit Zweideutigkeit und Humor beladen und irreal erscheinen lassen konnte. Ganz gleich, ob am Strand, in den Bergen oder in einem Vergnügungspark wie Italia in Miniatura in Rimini – durch die gedämpften Farben, die konzeptionellen Kompositionen und ein unnachahmliches Gespür für Raum und Licht erscheinen Italiens meist übervölkerte Sehenswürdigkeiten auf Ghirris Bildern seltsam ruhig, wie aus der Zeit gefallen und ziemlich leer.
Mit Aufnahmen von Landkarten, Werbeplakaten, Postkarten und Touristen lotete der Fotograf auch die Idee des Reisens per se aus. Seine Bilder regen zum Nachdenken an: Reisen wir Klischees hinterher? Suchen wir genau das, was wir schon von unzähligen Bildern kennen?
«Wenn Ghirris Reisefotografien manchmal wie Aufnahmen von Touristen wirken, so sind sie doch immer anders», schreibt James Lingwood, Kurator der Masi-Ausstellung im Katalog, «es geht ihm nicht darum, eine Sammlung von denkwürdigen Momenten anzulegen oder die Schönheit oder Bedeutung eines Ortes hervorzuheben, sondern darum, aufzuzeigen, wie unsere Kultur von den Bildern und ihrer Entstehung definiert und geprägt wird.» Mag sein.
Die Schönheit der Orte ist bei Luigi Ghirri sowieso zweitrangig. Seine Bilder sind schön. Viel schöner und ganz anders als das, was man als Feriengast zu sehen gewohnt ist.
Die Ausstellung «Viaggi – Fotografien 1970–1991» läuft noch bis 26. Januar 2025, masilugano.ch.